Sperberauge

Hat die Mehrheit immer recht?

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Demokratie und Rechtsstaat bedingen sich gegenseitig. Der ehemalige BL-Ständerat René Rhinow analysiert.

»Seit der Gründung unseres Bundesstaates 1848 war es üblich, die eigentliche Raison d’Etre der Schweiz im föderalistischen Zusammenleben unterschiedlicher Sprach-, Kultur- und Religionsgemeinschaften sowie im Nebeneinander von Stadt und Land, Berg- und Talgebieten zu erblicken. Der identitätsstiftenden direkten Demokratie hingegen kam 1848 keineswegs die Bedeutung zu, wie sie ihr heute beigemessen wird. Der junge Bundesstaat stellte bis 1874 praktisch eine repräsentative Demokratie dar; das Referendum wurde 1874, die Volksinitiative erst 1891 eingeführt.
Nicht selten wird aber unsere Form der Demokratie als die eigentliche Demokratie bezeichnet. Damit werden – bewusst oder unbewusst – die ideelle, die historische und die internationale Entwicklung der demokratischen Staatsform ausgeblendet. Bei uns wie in allen funktionierenden Demokratien der Welt ist die freie Volkswahl repräsentativer Staatsorgane, vor allem des Parlamentes, ein Kernelement der Demokratie: keine Demokratie ohne vom Volk gewählte Volksvertretung und vom Volk oder Parlament gewählte Regierung. Rund 90 Prozent der in Bern anfallenden politisch relevanten Entscheide sind solche des Parlaments, nicht des Volkes.»

Es braucht in Zeiten, in denen unter den Titeln «Direkte Demokratie» und «Volksmehrheit» selbst die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Frage gestellt wird, ziemlich Mut, daran zu erinnern, wie unsere direkte Demokratie entstanden ist und welche Bedeutung und Schranken sie hat. Aber es gibt sie noch, die Leute, die Mut haben. René Rhinow, der emeritierte Professor für öffentliches Recht und ehemalige Ständerat des Kantons Baselland – von ihm stammt das obenstehende Zitat – hat zur Frage «Hat die Mehrheit immer Recht?» einen ausgezeichneten und äusserst lesenswerten Aufsatz geschrieben, in dem er die Gewichte der parlamentarischen und der direkten Demokratie in unserem Land auf die Waage legt und in die richtige Balance bringt.

Rhinows Analyse zur heute allzu einseitigen Sichtweise unserer demokratischen Mechanismen ist in der NZZ vom 11. Mai 2015 erschienen – in der Rubrik «Meinung & Debatte», die mittlerweile der interessanteste Teil der NZZ ist. Er kann aber auch online gelesen oder heruntergeladen werden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 18.05.2015 um 18:05 Uhr
    Permalink

    René Rhinows luzider Artikel erinnert mich sehr und erfreulicherweise an das Denken seines (und meines) Lehrers Prof. Max Imboden. Wir merken erst heute, wie er uns fehlt. Es ist — sorry — eine grosses helvetisches Malaise. Der hochverehrte Staatsrechtler hätte allerdings «recht» (haben) im Titel richtigerweise «Recht» geschrieben. Alles was recht ist…

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...