Kommentar

Die Renationalisierung Europas

Jürg Müller-Muralt © zvg

Jürg Müller-Muralt /  Rechtsrutsch in Finnland, nationalistische Verfassung in Ungarn: Die EU schlittert immer tiefer in die Krise.

«Die Europäische Union ist noch aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen.» Das ist das Allzweck-Mantra der EU, und es hatte bisher eine gewisse Plausibilität. Doch mittlerweile wirkt es wie das berühmte Pfeifen im Wald. Die Union ringt derzeit mit gewaltigen Problemen. Die Krise der Einheitswährung Euro ist die augenfälligste. Das Zerwürfnis um den Nato-Einsatz in Libyen und dann die Auseinandersetzungen um die nordafrikanische Immigration zeigen, wie fragil die Brüsseler Krisenmechanismen sind – und wie der Vorrat an Gemeinsamkeiten in der EU allmählich schwindet. Zudem tragen die innenpolitisch geschwächten Regierungen der einstigen Integrationsmotoren Deutschland und Frankreich auch nicht gerade zur Stärkung der EU bei. Trotz der Schwäche und den Krisensymptomen der Union ist für den deutschen Publizisten Hans Magnus Enzensberger die EU die eigentliche Bedrohung Europas. Er spricht vom «sanften Monster Brüssel».

Rechtspopulismus als Normalfall

Der Rechtsrutsch bei den Parlamentswahlen vom 17. April in Finnland und die Verabschiedung der neuen ungarischen Verfassung vom 18. April sind nur die jüngsten Hinweise darauf, wie stark sich die Mitgliedstaaten der EU den Zielen und Werten der Union entfremden. Siegesfeiern der Rechtspopulisten und Rechtskonservativen sind in der EU in den letzten Jahren eher die Regel als die Ausnahme geworden. In Österreich, Holland, Belgien, Dänemark und Schweden haben rechtspopulistische Gruppierungen ein gewichtiges Wort mitzureden oder sind – wie in Ungarn oder Italien gar an der Macht. In Frankreich robbt sich der Front National unter Marine Le Pen ans Machtzentrum heran und wird zu einer gefährlichen Konkurrenz für Präsident Nicolas Sarkozy.
Der grosse Erfolg der finnischen Rechtspopulisten, die ihren Wähleranteil von knapp 20 Prozent fast verfünffacht haben, ist deshalb von besonderer Brisanz, weil er den ganzen Euro-Rettungsmechanismus gefährdet. Die Aufstockung des Rettungsfonds ist noch nicht beschlossene Sache, der Entscheid muss zudem einstimmig gefällt werden. Schert ein Land aus, sind die Kredite in Gefahr. Das könnte als erstes den Pleitestaat Portugal treffen, der unter den Euro-Rettungsschirm geflüchtet ist. Und das wiederum wäre für den Euro existenzbedrohend.

Nationalistisches Pathos

Dass sich Ungarn fast gleichzeitig mit dem Wahlsieg der Rechtspopulisten in Finnland eine neue, extrem konservativ-reaktionäre Verfassung gibt, ist zwar ein terminlicher Zufall, aber passt ins allgemeine Bild: Die Renationalisierung Europas schreitet munter voran, und Ungarn, das derzeit den EU-Vorsitz innehat, bildet die Speerspitze dieser Entwicklung. Ministerpräsident Viktor Orban peitschte am Montag eine Verfassung durch das Parlament, die nur so strotzt von nationalistischem Pathos. Er nutzt die Zweidrittelmehrheit seiner Fidesz-Partei, um mit einer neuen Verfassung den Staat radikal umzubauen. Die deutschsprachige ungarische Zeitung «Pester Lloyd» schreibt vom Versuch, «nationalkonservative Ideologie zur Staatsdoktrin zu machen und Ungarn, unabhängig von kommenden Mehrheiten im Parlament, auf lange Sicht die Richtung vorzugeben.» So werden etwa die gegenseitigen Kontrollmechanismen der Verfassungsorgane geschwächt.

Faschistische Kontinuität

Vor allem aber knüpft das Grundgesetz in Bezug auf die konstitutionelle Kontinuität an das faschistische Horty-Regime an. Mit schwülstigem Beiwerk fordert die Verfassung «Stolz auf König Stefan den Heiligen», der vor tausend Jahren Ungarn «auf feste Grundlagen gebaut» habe. Die «Kraft des Christentums» wird bemüht, und vom Volk wird das Bekenntnis zu «Familie und Nation als Rahmen» für das Zusammenleben verlangt. Der «Pester Lloyd» schreibt dazu: «Die Präambel, das sei hier klar und nüchtern gesagt, ist vollkommender Nonsens mit einem gefährlich klerikal-nationalistischen Einschlag». Im Hinblick auf die erzkonservativen gesellschaftlichen Visionen schreibt die Zeitung: «Es mag ja sein, dass das Fidesz feuchte Träume von einer Welt voll monogamer Heteros mit drei Kindern hat, die Blumenkränze winden, doch entspricht das nicht der Realität, mehr noch, es drängt Lebensentwürfe an den Rand und gefährdet sogar die rechtliche Gleichbehandlung als einen Grundsatz einer Demokratie. Auf den Punkt gebracht: Roma, Schwule, Juden, aber auch Atheisten und ‚Alternative‘ sollen sich gefälligst anstrengen, Teil des ‚anständigen‘ Ungarntums zu werden, andernfalls gehören sie einfach nicht dazu».

Neue Bibel der EU-Gegner

Während die zentrifugalen Kräfte innerhalb der Europäischen Union und nationalistische Tendenzen in vielen Mitgliedstaaten zunehmen, geht für den deutschen Grossintellektuellen Hans Magnus Enzensberger die wahre Gefahr für Europa von der EU aus: Sein kürzlich erschienenes Pamphlet «Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas» hat das Zeug dazu, zur Bibel der EU-Gegner zu werden. Durchaus kenntnisreich und witzig macht sich Enzensberger in einem ersten Teil über die Brüsseler Bürokratie lustig. Dann demontiert er einen der Gründerväter der Union, den Franzosen Jean Monnet. Diesem sei es bewusst um ein langfristiges Projekt gegangen, «das, einen Zwischenschritt nach dem andern, seiner internen Logik folgend, zu einer immer mächtigeren Union führen sollte.» Schon beim Urprojekt der EU, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, sei es eigentlich darum gegangen, «den politischen Souveränitätskern der Nationalstaaten allmählich zugunsten transnationaler Instanzen auszuhöhlen.»

«Erbarmungslos menschenfreundlich»

Die EU ist gemäss Enzensberger das Projekt eines «postdemokratischen Zeitalters». Das viel zitierte «demokratische Defizit» der Union sei nichts anderes als «ein vornehmer Ausdruck für die politische Entmündigung der Bürger.» Mit den demokratischen Traditionen Europas sei die EU nicht vereinbar. Immerhin könne sich die Union «einer Herrschaftsform rühmen, für die es kein historisches Vorbild gibt. Ihre Originalität besteht darin, dass sie gewaltlos vorgeht. Sie bewegt sich auf leisen Sohlen. Sie gibt sich erbarmungslos menschenfreundlich.» Nicht durch Zwang, auch nicht durch Befehl herrsche die EU, «sondern durch Verfahren». Sie wolle ihre Bürger auch nicht unterdrücken, «sondern alle Lebensverhältnisse auf dem Kontinent lautlos homogenisieren». Nicht an einem «neuen Völkergefängnis» werde gebaut, «sondern an einer Besserungsanstalt».
Enzensbergers ätzende Kritik kommt sprachlich eloquent daher und manches, was er schreibt, ist bedenkenswert. In einem Punkt ist das noch fast druckfrische Büchlein allerdings bereits widerlegt: «Wenig spricht bisher dafür, dass die Europäer dazu neigen, sich gegen ihre politische Enteignung zur Wehr zu setzen.» Wenn damit die grassierende Anti-EU-Stimmung gemeint ist, dann setzen sich die Europäer sehr wohl zur Wehr. Die Frage ist nur, ob die laufende Stärkung rechtspopulistischer und nationalistischer Tendenzen ein Gewinn für die Demokratie ist.

Hans Magnus Enzensberger: «Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas». Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 78 Seiten, Fr. 11.50


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5 Meinungen

  • am 19.04.2011 um 19:43 Uhr
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    Zurückhaltend formulierte Analyse zu einem erschreckenden Thema. So wird die Grundstimmung der Zeit sichtbar. Populisten und Intellektuelle wie Enzensberger vereinen sich zur gemeinsamen Pflege des Feindbildes: Geschichtsvergessene Geschichtsversessenheit. Danke!

  • am 19.04.2011 um 22:23 Uhr
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    Die Frage im letzten Satz des Artikels stellt sich so nur, wenn die Begriffe «rechtspopulistisch» und «nationalistisch» als negativ bewertet werden und angenommen wird, dass darüber ein Konsens herrscht. Selbstverständlich will ich die Freiheit des Einzelnen, so zu denken, nicht antasten – deshalb stelle ich die Frage, wieso die treibenden Kräfte hinter der EU-Ideologie nicht als linkspopulistisch beschrieben werden können (angesichts der tatsächlich erreichten Zustände in der EU können die vorangegangenen Versprechungen der EU-Politiker und -Förderer wohl gar nicht treffender denn als «Volksverführung» bezeichnet werden) und was ist «schlechter» an nationalistischen Tendenzen gegenüber internationalistischen (zudem ist die politische Europa-Union beherrscht durch einen begrenzenden, ausgrenzenden und bestimmte Nationen bevorzugenden Internationalismus)?
    Ruft nicht gerade die Pflege einer realitätsfernen Ideologie, wie sie meines Erachtens der politischen Europa-Union innewohnt (man könnte auch EU-Bibel dazu sagen, um sich in der Terminologie von Jürg Müller-Muralt auszudrücken), jene Feindbilder auf den Plan, welche die Nationalisten dankbar – weil wohl tatsächlich realitätsfern! – als Zielscheiben verwenden?

  • am 20.04.2011 um 09:10 Uhr
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    Ich glaube nicht, dass es eine EU-Ideologie gibt. Die EU ist kein Bundesstaat, sondern ein etwas spezieller Staatenbund. Eine europäische Öffentlichkeit gibt es nicht. Die Nationalstaaten spielen weiterhin die Hauptrolle. Die EU ist mit vielen Mängeln behaftet. Aber Sie hat uns immerhin eine längere Phase wirtschaftlicher und politischer Stabilität beschert. Immer wieder haben sich ihre Mitgliedstaaten zusammengerauft. Davon haben auch wir in der Schweiz profitiert.
    Die EU war nie ein linkes Projekt, eher ein liberales. Die historischen Gründungsmotive geraten aber nach und nach in Vergessenheit.

  • am 20.04.2011 um 20:38 Uhr
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    Der Begriff «Ideologie» ist grundsätzlich wertneutral. Und es ist nicht glaubensabhängig, ob eine Ideologie hinter dem EU-Projekt, ihren anvisierten Idealen, Werten und ihren Gründungsmotiven steckt – denn es lässt sich leicht objektiv feststellen, das dies so ist und so sein muss. Hingegen lässt sich wohl schier ewig streiten, wie vorteilshaft/nachteilshaft die Auswirkungen dieser (teil-) angewandten Ideologie sind.
    Die Klassifizierung nach den Begriffen links, liberal, rechts, sozialistisch, etc. hilft meines Erachtens ebenfalls nicht weiter – einzig der Blick auf die Resultate und Auswirkungen vermag etwas über die Tauglichkeit der praktizierten Ideologie auszusagen. Doch selbst diese Aussagekraft ist ziemlich beschränkt, da man sich unweigerlich kaum wird einigen können, wie sehr oder wie wenig die angewandten Konzepte und Massnahmen mit den eigentlichen (hehren) Zielen, übereinstimmen.
    In der Gründungszeit lautete die Grund-Ideologie noch Wahrung des Friedens und Mehrung des Wohlstandes durch Fördern von grenzüberschreitenden, wirtschaftlichen Verflechtungen. Vor gut 20 Jahren wurde diese eher wirtschaftlich bezogene Ideologie ausgeweitet mit der Ansicht, dass für die weitere Wahrung des Friedens auch eine politische Union inklusive Ausdehnung des politischen Einflusses notwendig sei. Ist es da wirklich noch verwunderlich, dass in diesem Geschäft – vielleicht etwas verwegen, jedoch nicht ganz untreffend die „Hure“ Politik genannt – die Gründungsmotive zunehmend in Vergessenheit geraten?

  • am 4.05.2011 um 00:12 Uhr
    Permalink

    Sehr geschätzte Redaktionsmitglieder
    Geschätzte Leserinnen und Leser

    Die ökonomischen Probleme der Zusammenführung der europ. Staaten in eine europ. Union werden und wurden unterschätzt. Am Anfang der Montanunion (Schumannplan) stand die Wahrung des Friedens und wirtschaftliche Selbsbehauptung Europas. Die Frustration über die Reibungen – wirtschaftspolitisch, sozialpolitisch wie gesellschaftspolitisch – der EU – Integration in den Staaten schlägt zunehmend in Nationalismus in denselben um. Die bürokratische Wucherung in Brüssel sorgt für Unmut in den Völkern der EU. Die Integration wurde überstürzt. Daran sind die Minister der Länder als EU – Gremium Ministerrat selber schuld. Dort wurden die Völker ganz klar überfordert.

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