MycoTree

Der «Myco-Tree» (Pilzbaum), eine Struktur aus Pilz-Myzelium und Bambus © Carlina Teteris

Pilze könnten die Industrie aufmischen

Romano Paganini /  Der Künstler und Forscher Phil Ross züchtet Pilze, um Leder, Zement und Kunststoff zu ersetzen. Ein Besuch in seinem Atelier.

Phil Ross existiert eigentlich gar nicht – jedenfalls nicht an der Gran View Avenue in San Francisco, wo der Künstler sein Studio hat. Weder gibt es eine Klingel, die den Besucher zu seiner Firma Mycoworks führt, noch kennen ihn die Nachbarn. Das heruntergekommene Wohnhaus mit Stahlgittern am Eingang und in die Jahre gekommene Briefkästen erinnern eher an die Vorstädte von Detroit als an einen Ort, von wo aus Ingenieure inspiriert werden könnten – egal ob aus der Auto- und Bauindustrie, der Kleider- und Accesoire-Produktion oder aus der Telekommunikation. Pilze, so die Vision von Phil Ross, sollen künftig unseren Alltag prägen und umweltschädigende Industrie-Materialien aus vergangenen Jahrhunderten ersetzen. Erdöl zum Beispiel.

Hunderte Anfragen aus der ganzen Welt

Und dann steht Phil Ross plötzlich da, als ob er die Verspätung geplant hätte. Er trägt Crocks, eine schwarze Lederjacke, sagt «sorry» und öffnet schliesslich die Tür. Der Weg in sein Atelier ist steil und die verwetzte Teppichtreppe des Wohnhauses will und will nicht aufhören. Doch kaum haben wir den Keller hinter uns gelassen, stehen wir im Reich der Pilze – also dem Ort, wo Phil Ross und sein zwölfköpfiges Team am Material der Zukunft tüfteln. Links steht eine Werkstatt, wie man sie von Hobbymechanikern kennt, etwas versteckt eine kleine Wohnküche mit Herd, weiter vorne ein Tischchen mit Laptop und schliesslich ein Regal mit Prototypen aus Pilzen: ein Hut, ein Schuh, eine Feldflasche, ein Mini-Backstein und diverse Muster, die an Leder erinnern. Ross begrüsst eine Mitarbeiterin und fragt, ob sie vom Meeting nächste Woche erfahren habe. Wieder eine Firma, die auf Pilze umstellen möchte. Mycoworks erhält wöchentlich Dutzende von Anfragen aus der ganzen Welt.


Phil Ross in seinem Atelier mit seinem neuen Baustoff aus Pilzen

«Im Moment ist vieles noch geheim», sagt Phil Ross und kniet auf einen der Sessel beim Fenster, von wo aus man bis nach Oakland am anderen Ufer der Bucht sieht. Der 52-Jährige wirkt eher wie ein Student als der Co-Geschäftsführer eines Unternehmens, das kurz davor steht, die Zusammenarbeit mit internationalen Firmen öffentlich zu machen. Auch in der Schweiz ist man darauf aufmerksam geworden, dass man Pilze nicht nur essen kann. An der ETH Zürich sind Architekten seit etwas mehr als einem Jahr daran, Pilze als Baumaterial zu erforschen (siehe Kasten unten).

Was also kann ein Pilz? «Das kommt drauf an, was du möchtest», antwortet Ross. Noch stehe man ganz am Anfang der Pilzforschung und wisse wenig über die Spezies Fungus.

Beobachten, riechen, aufschneiden, probieren

Um dem Pilz auf die Spur zu kommen, geht man am besten in den Wald. Denn dort sind die Bedingungen für sein Wachstum ideal. Das tut auch Phil Ross als er in den Achtzigerjahren während seiner Studentenzeit in einer veganen Küche in New York jobbt und 3000 Mahlzeiten pro Tag zubereitet. Der Küchenchef zeigt ihm, welche Pilze essbar sind und wie man sie erntet. Manchmal bleibt Phil alleine zwischen den Bäumen stehen und betrachtet den Fungi: er berührt, riecht, schneidet ihn auf, probiert und kehrt ein paar Wochen später zurück, um zu sehen, was sich verändert hat. Er registriert, wie sich Pilze von Bäumen ernähren und dabei ein dichtes Netz von Fasern bilden.

Getrieben von der Neugier, der Spezies auf die Schliche zu kommen, beginnt er ein paar Jahre später an seinem neuen Wohnort San Francisco die Wachstumsbedingungen von Pilzen präzise zu dokumentieren. Ihn interessiert vor allem das Myzelium, also den Verdauungskörper des Pilzes.

Die Verbindung zwischen Leben und Tod

Zur gleichen Zeit ein paar hundert Kilometer weiter nördlich im Bundesstaat Oregon ist auch Paul Stamets (61) daran, das Potenzial von Pilzen zu erforschen. In seinem Buch «Mycelium Running – Wie Pilze helfen können, die Welt zu retten» wird der Mykologe 2005 schreiben: «Der Pilz ist der Verbindungsorganismus zwischen Leben und Tod (…) Er ist die Schlüsselspezies, die dafür sorgt, dass sich die Erdschichten eindicken und dadurch den künftigen Generationen von Pflanzen und Tieren gedeihen helfen. Ohne Fungi würde unser ganzes Ökosystem zusammenbrechen.»

Mit anderen Worten: Der Pilz ist genauso wichtig für das Leben auf der Erde wie Luft oder Wasser. Gemäss Stamets befindet sich das Mycelium in konstanter Bewegung und kann täglich mehrere Zentimeter weit reisen. Unter unseren Füssen befindet sich quasi ein unsichtbares Netzwerk an Pilzen.

Katzenfutter und Energydrinks

Phil Ross hatte sich inzwischen an der Gran View Avenue installiert, ohne zu wissen, ob das, was er macht, irgendwann Früchte trägt. «Es braucht schon eine spezielle Persönlichkeit, um das alles so durchzuziehen», sagt eine seiner Mitarbeiterinnen. Denn Ross verbringt nächtelang im Internet, vergleicht seine Ergebnisse mit jenen von anderen Forschern und sucht nach allen möglichen Nahrungsmitteln, um seine Pilze zu füttern: Zucker und Stroh, Hobelspäne und Energydrinks und selbst Katzenfutter stehen auf dem Menuplan. Entscheidend ist eine ausgewogene Ernährung mit genügend Kalzium, Proteinen und Vitaminen.

Für Phil Ross sollte sich bestätigen, was er vor dreissig Jahren in den Wäldern an der Ostküste festgestellt hatte: Mycelium webt ein resistentes Netz und ist – das war neu für ihn – härter als Zement. Ein Ziegelstein aus Mycelium kann sogar Metall zerquetschen. Und im Gegensatz zu Zement zerbricht es weniger schnell und ist sogar schwimmfähig.

Glänzender Lackporling und Austernpilze

Sein eigens eingerichtetes Labor betritt er nur mit Mundschutz, Overall und Crocks, die er vorher desinfiziert, um das Wachstum nicht zu beeinträchtigen. «Hier könnte man problemlos eine Operation am offenen Herzen durchführen», sagt er und deutet auf den Raum hinter dem Plastikvorhang. Ventilatoren und eine Heizung sorgen ununterbrochen für das gewünschte Klima. Gerne würde man sich das Labor aus der Nähe ansehen, doch Ross will heute nicht. «Wir befinden uns in einer Übergangsphase», sagt er, ohne genauer darauf einzugehen. Was der Erfinder dagegen preisgibt, sind die Pilzsorten, die er für seine Forschung verwendet, allen voran den Glänzenden Lackporling. Geeignet sei aber auch der Austernpilz oder der Zitronenseitling; Mycelium produzieren sie alle.

Um dem Produkt die gewünschte Form zu geben, füllt er die Pilz-Sporen in einen entsprechenden Behälter – zum Beispiel eine Backziegelform – und lässt das Mycelium dann drei bis sieben Tage fressen. Für die einwöchige Trocknung wird das Material aus der Form geklopft, ehe man es zum Backen in den Ofen schiebt. Dadurch werden die Sporen abgetötet und ein weiteres Wachstum des Pilzes unterbunden. Ganz ohne zusätzliche Energie kommt also auch der Baustoff Pilz nicht aus.

Ziegelsteine für den Tee

Ross baut in den Nullerjahren Stühle, Sessel, Schiffsboyen und Kinderspielsteine aus Mycelium und präsentiert an der «Eat Art 2009» in Düsseldorf ein rund anderthalb Meter hohes Konstrukt aus Mycelium-Backziegeln. Am Ende der Ausstellung wird der Pilz aufgekocht und den Besuchern als Tee serviert.

In Europa schmunzelt man über den Gag aus Übersee. Ähnlich geht es ihm mit seinen Ingenieur-Kollegen an der Stanford University, wo er einen Gastlehrstuhl in Bio-Technologie innehat. Sie lachen ab den Prognosen des «Fungus-Freaks», dass Pilze das Industrie-Material der Zukunft sein könnten. Ross lässt sich nicht beirren, patentiert seine Idee 2012 – und kommt heute, fünf Jahre später, kaum dazu, alle Bewerbungen bei Mycoworks zu beantworten. «Wir sagen das gleich wie vor ein paar Jahren», stellt Ross fest. «Der Unterschied ist lediglich, dass wir heute gehört werden.»

Autohersteller prüft Pilz-Einsatz

Während Phil Ross und Paul Stamets bereits vor Jahrzehnten auf den Pilz gekommen sind, dringt der Fungus langsam aber sicher auch ins Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten. In den USA schreiben Studenten ihre Abschlussarbeiten über Pilze als Baumaterial, auf den Strassenmärkten boomt der Verkauf aller möglicher Pilzsorten und in New York hat sich mit Ecovative eine Firma etabliert, die kompostierbares Verpackungsmaterial produziert – aus Pilzen, versteht sich. Sie hat mittlerweile nicht nur Möbel, Lampen, Wanddekorationen und Surfboarfs aus Mycelium entwickelt, sondern arbeitet auch an Schuhsohlen und Yogamatten. Ausserdem prüft Autohersteller «Ford Motors» die Möglichkeit, Plastik, Styropor und Leder in seinen Fahrzeugen künftig durch Pilze zu ersetzen.

«Viele bringen Pilze mit etwas Gruseligem in Verbindung»

Das Team um Phil Ross wird seinen Untergrund an der Gran View Avenue bald verlassen und Richtung Zentrum ziehen. Ross rechnet damit, dass sich die Zahl seiner Mitarbeiter in den nächsten fünf Jahren jährlich verdoppeln wird. Und selbst dann, sagt er, wird Mycoworks nicht fähig sein, die grosse Nachfrage zu bewältigen.

Im Vergleich zu anderen Industriematerialien ist Mycelium allerdings noch nicht konkurrenzfähig. «Viele bringen Pilze mit etwas Gruseligem in Verbindung, das sie sich nicht als Möbel oder Hauswand vorstellen können», sagt Ross. Und solange Erdöl und damit die Produktion von Plastik derart billig sei, könne der Pilz auch finanziell nicht mithalten.

Allerdings sei Mycelium im Gegensatz zu Erdöl, das Hunderttausende von Jahren für seine Entstehung braucht, wesentlich nachhaltiger. Es brauche nur ein paar Wochen Wachstum, könne fast überall auf dem Planeten hergestellt werden und benötige deshalb kaum Transport, erklärt Ross. «Ausserdem ernährt sich der Pilz von Agrarabfällen und integriert sich damit perfekt in den Kreislauf der Natur.»

Italienische Firma wagt den Schritt

Ähnliches gilt für den Vergleich mit der Lederproduktion, also jenem Industriezweig, der bisher am meisten Interesse am neuen Material gezeigt hat. Bis Tierleder zur Verarbeitung bereit ist, braucht es nicht nur Zeit (mindestens zwei Jahre), sondern auch Ressourcen wie Wasser und Tierfutter. Hinzu kommen die giftigen Chemikalien zur Gerbung des Leders – alles Dinge, die beim «Mycelium-Leder» wegfallen.

Als eine der ersten Firmen in Europa hat die italienische «Grado Zero Espace» Schuhe, Armbänder und Handtaschen aus Pilzen auf den Markt gebracht. Und auch wenn es noch Jahre braucht, bis die Spezies Pilz und ihr Potenzial genauer erforscht sind und deren Nutzen tatsächlich akzeptiert wird: Der Nachfolger von Erdöl existiert. Genauso wie Phil Ross und sein Team. «Wir folgen einfach weiterhin dem, was uns der Pilz vorschlägt», sagt Ross. «Denn letztlich war er es, der mir den Weg gewiesen hat.»

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Kasten:

KIT Karlsruhe/ETH Zürich: Hin zur Kreislaufgesellschaft

(rpg) Bakterien, Bambus oder Pilze: Forscher des Karlsruher Institute of Technology (KIT) sind zusammen mit der ETH Zürich daran, nachwachsende Materialien auf ihre Baufähigkeit zu untersuchen. «Wir können im 21. Jahrhundert nicht so weiterbauen, wie wir es bis anhin getan haben», sagt Architekt Felix Heisel von der Forschungsgruppe. «Es braucht einen Paradigmenwechsel in der Bauindustrie.» Schliesslich seien herkömmliche Baumaterialien wie Metall oder Sand immer weniger verfügbar. Doch nicht nur das: Der Abbau von Mineralien wie Kupfer, Silber oder Zinn sowie die Zement-Produktion schleudern Unmengen von CO2 in die Atmosphäre. Anders der Energie-Aufwand bei Pilzen. Diese ernähren sich vom Abfall der Holz- und Agrarindustrie und tun dies komplett ohne Lärmemissionen. «Pilze sind eine Alternative, um von der Wegwerf- zur Kreislaufgesellschaft zu kommen», sagt Heisel. Nebst Architekten arbeiten im Team um die Architektur-Professoren Dirk E. Hebel und Philippe Block auch Bau- und Bioingenieure, Material- und Energiewissenschaftler sowie Holztechniker.

Struktur aus Mycelium

Und diese haben während den vergangenen Monaten die erste lasttragende Pilz-Konstruktion gebaut, den sogenannten «Myco-Tree». Der Pilz-Baum, der kürzlich an der Architektur-Bienale im südkoreanischen Seoul ausgestellt wurde, besteht aus dutzenden druckbeanspruchten Pilz-Elementen, die via Bambusplatten miteinander gekoppelt sind. «Pilze sind ein leichtes Baumaterial», erklärt Heisel. «Und da die Zug- und Biegefähigkeit reduziert sind, spielt die geometrische Form eine entscheidende Rolle.» Diese wurde von der «Block Research Group» (BRG) der ETH mittels dreidimensionaler grafischer Statik entworfen; ein Novum in der Architektur.

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Dieser Beitrag ist auch im «Surprise» und in gekürzter Version in der «Schweiz am Wochenende» erschienen.


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