Kommentar

Das schwarze Loch

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autorskeine ©

Johann Aeschlimann /  Der «Blick» ist eine politische Tageszeitung. Unheimlich politisch.

Vor langer Zeit hat der «Blick» den Tod von Papst Johannes XXIII etwas voreilig gemeldet und damit eine klassische Zeitungsente produziert. (Es war doppeltes Künstlerpech: bevor die Korrektur erscheinen konnte, war der Hl. Vater dann tatsächlich gestorben).

So etwas bleibt hängen.

Das ist nicht ganz fair, aber auch nicht ganz falsch. Soeben hat das Blatt wieder in die gleiche Kerbe gehauen. «Frankreich wählt Europa ab», war am Vorabend der französischen Wahlen zu lesen. Wiederum Künstlerpech: Am Tag danach hatte der am dezidiertesten für die Europäische Union eintretende Kandidat gewonnen, und hätten die am dezidiertesten gegen die Europäische Union aufgetretenen Kandidaten links und rechts – entgegen den vom «Blick» herangezogenen Umfragen – auch dann keine Mehrheit erlangt, wenn alle ihre Stimmen zusammengezählt würden. Der Sieger ist ein «Euro-Turbo», wie man die Spezies in der Schweiz zu verunglimpfen pflegt.

Am nächsten Tag stand «Blicks» sonntäglicher «Essay» unter dem Titel «Sehnsucht ist eine mächtige Triebkraft. Vielleicht die mächtigste überhaupt».

Wohl wahr, und durch das Stück «Frankreich wählt Europa ab» gut belegt. Es zitierte eine Reihe von Schweizer Politikern, die nie, nie, nie, zu den «Euro-Turbos» gehören möchten, und sei es nur, weil ihnen die Haut näher steht als das Hemd. Da wurde frisch über die «Chance» bramarbarsiert, die sich aus dem absehbaren Eingehen der Union für die Schweiz ergeben werde. Ein Bär allein hätte nicht gereicht für alle Felle, die verteilt wurden.

Der politische peeping Tom wäre nun interessiert zu erfahren, wie solche Artikel zustandekommen – wer also wem wann was befohlen hatte, wer Schieds- und wer Linienrichter war, welche Probleme es in der Feinabstimmung gab. Am Tag nach der Franzosenwahl jedenfalls durfte – oder musste – eine leitendere Charge etwas zurückrudern. Europa sei noch nicht tot.

Doch darum geht es nicht. Die Episode streift das schwarze Loch in der politischen Auseinandersetzung in der Schweiz – die Trölerei um Europa. Das Schema geht so: alles, was sich gegen eine politische Gestaltung des Kontinents richtet, ist willkommenes Dauerthema – permanent neu aufgetragen von rechts und toleriert von links. Umgekehrt ist alles, was sich für die politische Gestaltung des Kontinents einsetzt, breit akzeptiertes Tabu – intensiv bewirtschaftet von den «Pragmatikern», die immer genau wissen, was «kommt» und was «nicht kommt». Wer sich wehrt, ist ein Turbo.

Die conventional wisdom hält oft dafür, dass sich die schweizerische Stellung in Europa aus Ablehnung und Distanz definiere. Nicht dazuzugehören, sei eine Tugend, das Fürsichsein ein historischer Vorteil et cetera. Davon haben die Anti-Turbos jahrelang gelebt. Gerne hat man sich dann auf die Periode des Faschismus berufen. Noch so gerne in Erinnerung gerufen, dass die Nationalsozialisten gegen das Kriegsende hin ein gemeinsames, anti-kommunistisches Europa propagierten, und liebend gerne darauf hingewiesen, wie sehr die Schweiz sich jenem Europa entzogen habe.

Die Gleichsetzung der Europäischen Union mit diesem Hitler-Europa wird von der extremen Rechten seit Jahren sorgfältig gepflegt. Ein frühes Beleg ist die Parallelisierung des damaligen Bundesrats Ogi als Frontist durch die Postille «Zeit-Fragen», die vor dem Presserat zugunsten Ogis entschieden wurde. Ein Fall unter vielen: Wer suchte, fände wohl auch in den Wortmeldungen der Parteipolitik einschlägige Anspielungen (und gilt es zu notieren, dass die Parallele ihre Parallele auch bei der EU-Gegnerschaft links findet, zum Beispiel in Griechenland: Frau Merkel mit dem Hitlerschnäuzchen).

Umgekehrt ist nicht gefahren. Ablehnung und Distanz gegen alles, was aus Europa kommt, schmelzen zur braunen Butter, wenn es um das Nationale geht. Heute, da die Europäische Union durch Volk, Fahne, Vaterland, «Souveränität» und anderen Hokuspokus von rechts angefochten wird, kann sich die «classe politique» der Schweiz nicht früh genug ins Glied stellen und im gleichen Schritt und Tritt marschieren. Die Reihen fest geschlossen.

Der «Blick» hat’s gerochen. Er ist eine politische Tageszeitung – eine unheimlich politische.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Business_News_Ausgeschnitten

Medien: Trends und Abhängigkeiten

Konzerne und Milliardäre mischen immer mehr mit. – Die Rolle, die Facebook, Twitter, Google+ spielen können

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

9 Meinungen

  • am 30.04.2017 um 12:00 Uhr
    Permalink

    Tja. da kann ich nur mit nostalgischen Blicken auf die knapp verlorene EWR-Abstimmung zurückblicken. Heute noch hänge ich der Idee nach, die Gegner hätten eigentlich gar nicht gewinnen, sondern knapp verlieren wollen. Damit sie zwar von den Vorteilen profitieren, aber immer den Finger hochheben und sagen könnten: «wir haben euch ja gewarnt».
    Wieso komme ich auf diesen Gedanken? Eine solche Totenstille, wie auf Seiten der damaligen Gewinner habe ich sonst nie erlebt. Ein Triumphgeheul blieb total aus. Und ganz lahm kam dann die Aufforderung, jetzt müsse eben der Bundesrat schauen, wie er das Problem mit bilateralen Verträgen löse.
    Für mich war die EWR-Abstimmung auch der Wendepunkt im Stil von Abstimmungskampagnen. Früher befand man sich auf einem gemeinsamen Boden von Fakten, die man unterschiedlich interpretierte. An sie unterschiedliche Voraussagen hängte. Aber beim EWR gab es hüben und drüben Beschimpfungen. Wieso ich als Befürworterin des EWR eine «Landesverräterin sein sollte, ging mir nicht in den Kopf. Wieso die Neinsager mit «Hinterwäldler» tituliert wurden, ebensowenig.
    Tempi passati! Aber es ist immer wieder interessant, sich zu überlegen, wie denn alles so gekommen ist, wie es heute ist!

  • am 30.04.2017 um 16:18 Uhr
    Permalink

    Einverstanden, Johann Aeschlimann. Allerdings ist der «Blick» diesbezüglich überhaupt nicht allein. «20min» überholt ihn in letzter Zeit fregelmässig. Und auch in der Espace-Gruppe (BZ, BO, Bund, TA) erscheinen nach dem 1. Wahlgang haarsträubende Beiträge, die geradezu einen Sieg Frau LePens herbei schreiben und Macron im Zusammenhang mit seiner Wahlfeier mit Spott und Häme übergiessen. Von den total bescheuerten Online-Kommentaren fremdenhassender, islamophoben Wutbürger_innen ganz zu schweigen.

  • am 30.04.2017 um 20:59 Uhr
    Permalink

    In diesem Artikel fehlt ein wichtiges Stichwort: NEOLIBERAL.
    Es gibt nicht nur die braune Diffamierung der EU und eine Themenbewirtschaftung, es gibt auch eine konkrete, (linke) und berechtigte Kritik an der neo-liberalen Grundausrichtung der derzeitigen Europäischen Union. Es gibt nicht nur «Angela mit Hitlerschnäutzchen» in der Griechenlandkrise, sondern auch die legitime Frage, mit welchen Recht eine nicht-gewählte, von Deutschland angeführte Troika de facto die Unabhängigkeit Griechenlands (i.a.W. ein coup d’état) abschaffen konnte.
    Der derzeitigen EU fehlt es an sozialem Engagement, an Föderalismus und einer grund-demokratischen Struktur. Gestützt wird eine Elite (cf. Bankenrettung), die Grenzen werden für die Arbeitgeber geöffnet (Arbeiternehmer*innen dürfen ihre Familien verlassen …), so dass europaweit die billigste Arbeitskraft gefunden werden kann. Echte Sozialleistungen wie eine europaweite Arbeitslosenversicherung, eine EU-weite Krankenkasse, o.ä. suchen wir vergeblich.

    Da ist dem Autor wohl etwas im schwarzen Loch verloren gegangen …

  • am 30.04.2017 um 22:39 Uhr
    Permalink

    Ich teile Ihre Analyse. Zudem: schon mehrmals habe ich es erlebt, dass ich auf Blick online Kommentare postete, diese dann aber nicht online erschienen sind, oder erst als ich sie etwa das dritte Mal gesendet hatte. Mein Kommentar ist dann mehrere Stunden später erschienen. DMeine Meinung als Sozialdemokrat ist also schon mehrmals nicht, oder nur viel später erschienen.

  • am 1.05.2017 um 08:20 Uhr
    Permalink

    Aeschlimann schreibt: «Die Gleichsetzung der Europäischen Union mit diesem Hitler-Europa wird von der extremen Rechten seit Jahren sorgfältig gepflegt». Was ich jedoch las war eher, dass die Meinung vertreten wird, die Europäische Union habe die Tendenz sich als eine neue «Sowjetunion» zu entwickeln. Beides ist meiner Meinung nach absurd.

    Fake «News», wie der Tod der Papst im Blick, gibt es natürlich immer wieder. BBC meldete am 11. September 2001 den Einsturz des dritten Wolkenkratzers des World Trade Center schon 20 Minuten bevor es zusammenkrachte.- BBC übernahm eine Reuter Meldung. – «News» wie der Tonkin-Zwischenfall, die Brutkastenlüge, die Massenvernichtungswaffen von Saddam sind weitere solcher Lügen die übernommen wurden, und katastrophale Folgen hatten, Kriege.

    Heute gilt der Terrorismus als eine der grössten Bedrohungen unserer Zeit, sogar laut dem Sicherheitsrat der UNO. Elias Davidsson hat in seinem Buch Psychologische Kriegsführung und gesellschaftliche Leugnung, diese «Bedrohung» untersucht. Laut den von Davidsson ausgewerteten Statistiken starb in 22 europäischen Ländern zwischen 2001 und 2015 niemand durch Terrorismus. In neun weiteren europäischen Ländern starben in dieser Periode von 15 Jahren eine bis neun Personen bei Terroranschlägen. – Hingegen werden allein in der Bundesrepublik Deutschland jährlich 600 – 700 Mordtaten begangen. Es gibt den Terrorismus, aber er ist nicht die «grösste Bedrohung unserer Zeit» wie uns fast täglich weisgemacht wird.

  • am 1.05.2017 um 09:24 Uhr
    Permalink

    Andreas Marty, du bringst es auf den Punkt. Auch ich als Sozialdemokrat habe exakt diese Erfahrung mit Online-Kommentaren (TA, Bund, BZ, BO, TT) auch gemacht. Es sind ja nicht Einträge, die gegen die Fairnessregeln verstossen, doch sie werden von rechtsradikaler Seite als gefährlich (subversiv) eingestuft. Wer weiss, durch welche Hände die Online-Statements gehen, kann diese Praxis sehr wohl nachvollziehen. Die Online-RedaktorInnen sind teils (schlecht entlöhnte) StudendInnen, die offensichtlich von einem rechten Netzwerk eingeschleust werden. Man müsste halt auch von unserer Seite so etwas aufziehen.

  • am 1.05.2017 um 11:00 Uhr
    Permalink

    @Frei. Obwohl auch ich der Meinung bin, dass die Terrorismusgefahr aus erklärbaren Gründen hochgespielt wird, scheinen mir die angegebenen Zahlen geschönt.
    Im 2011 hat Breivik in Oslo 77 Menschen umgebracht. Zählt das nicht? Politisch motiviert war der Massenmord jedenfalls. Oder werden nur islamische Entgleisungen als terroristisch eingestuft? Dann wären wir ja soweit, wie wir sein sollten.

  • am 1.05.2017 um 13:31 Uhr
    Permalink

    Bruno Rütsche ist zwar auch der Meinung, dass die Terrorismusgefahr aus erklärbaren Gründen hochgespielt wird, doch die angegebenen Zahlen scheinen ihm «geschönt». Die Aussage des Autors Elias Davidsson lauten im Detail wie folgt:

    «In 22 europäischen Ländern starb zwischen 2001 und 2015 niemand wegen Terrorismus»

    «In neun weiteren Ländern starben in dieser Periode von 15 Jahren eine bis neun Personen wegen Terroranschlägen.»

    «Durchschnittlich starben jährlich in Europa (ausser Russland) in Folge von Terroranschlägen 39 Personen. Diese Zahlen beinhalten sowohl authentische als auch verdeckte staatliche Terroranschläge. Die Wahrscheinlich eines Europäers, bei einem -Terroranschläge zu sterben, ist demnach kleiner als 1:10’000’000.»

    Frankreich (159 Opfer), Grossbritannien (70 Opfer), Norwegen (77 Opfer) Spanien (226 Opfer) führt Davidsson in seiner Todesopfer Statistik des Terrorismus natürlich auch auf.

    (Seiten 200 – 203, mit den Statistiken im Detail im Buch von Elias Davidsson, Psychologische Kriegsführung und gesellschaftliche Leugnung. Die Legende des 9/11 und die Fiktion der Terrorbedrohung, Zambon Verlag Januar 2017)

  • am 1.05.2017 um 15:11 Uhr
    Permalink

    Der Vergleich hinkt. Ein schwarzes Loch verschlingt alles ab einer kritischen Distanz, es hat keine Meinung. Bei der Einführung des Blick (etwa 1957) hat man gegen diesen noch auf der Strasse protestiert. Damals wäre die NZZ noch das «schwarze Loch» des Freisinns gewesen, sie unterdrückte alles, was nicht freisinnig war. Noch bin ich frei bei der Wahl dessen, was ich lese und auf selektive schwarze Löcher nicht angewiesen.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...