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Bereits nach den Terroranschlägen von 2015 waren viele Muslime in Frankreich von Rassismus betroffen © pixabay

Anschläge in Frankreich: Hassspirale dreht sich weiter

Tobias Tscherrig /  Die islamistisch motivierten Anschläge erzeugen in Frankreich nicht nur Hass auf Islamisten, sondern auf sämtliche Muslime.

Am 16. Oktober stach ein 18 Jahre alter russisch-tschetschenischer Flüchtling im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine auf offener Strasse auf den Geschichts- und Erdkundelehrer Samuel Paty ein und enthauptete ihn. Der mutmassliche Täter soll aus Hass gehandelt haben – Paty hatte im Unterricht das Thema «Meinungsfreiheit» behandelt und dabei auch die Mohammed-Karikaturen der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» gezeigt. Dies wohl auch, weil in Paris zurzeit der «Charlie Hebdo»-Prozess läuft: Noch bis Mitte November müssen sich die Helfer der Terroristen vor Gericht verantworten, die am 7. Januar 2015 in die Redaktion der Satirezeitung «Charlie Hebdo» eingedrungen waren, 12 Menschen getötet und 11 weitere verletzt hatten.

Nach der Enthauptung von Samuel Paty wurden auf einem inzwischen gesperrten Twitter-Account Hassparolen gegen den Lehrer und gegen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sowie ein Foto veröffentlicht, dass den Kopf des Opfers gezeigt haben soll. Der Täter wurde von der Polizei erschossen. Zudem sind vier Menschen, die aus dem Familienkreis des Angreifers stammen sollen, in Polizeigewahrsam genommen worden. Präsident Emmanuel Macron kommentierte die Enthauptung als «eindeutigen islamistischen Terroranschlag» und sagte, Frankreich werde nicht auf Karikaturen des Propheten Mohammed verzichten – was ihn für Islamisten zur endgültigen Hassfigur gemacht hat. Dank Massnahmen und Gesetzesverschärfungen werde «die Angst im Land das Lager wechseln.» Mit Blick auf Gewalt und Terroristen erklärte Macron: «Sie werden damit nicht durchkommen.»

Hass sähen, Hass ernten
Trotzdem zeigen die Reaktionen auf die Enthauptung von Samuel Paty, dass islamistisch motivierte Terroristen ihre Ziele noch immer erreichen: Sie sähen und ernten Hass. Und das ziemlich erfolgreich. So verhafteten französische Sicherheitskräfte zum Beispiel 27 weitere Menschen wegen der Veröffentlichung und Verbreitung von mutmasslich illegaler Internetinhalte. Und seit am 29. Oktober in Nizza mindestens drei Menschen bei einem mutmasslich islamistisch motivierten Messerangriff ermordet wurden und die Polizei in Avignon einen bewaffneten Mann erschoss, gilt in Frankreich die höchste Terrorwarnstufe. Wie französische Medien berichten, soll der Vorfall in Avignon aber keinen islamistischen, sondern einen rechtsextremistischen Hintergrund haben.

Ebenfalls am 29. Oktober wurde eine französische Konsulatswache in Djidda (Saudi-Arabien) mit einem Messer angegriffen. Der Täter konnte verhaftet werden, das Opfer befindet sich ausser Lebensgefahr.

In Bangladesch haben tausende Menschen gegen den französischen Präsidenten demonstriert, sie verbrannten entsprechende Portraits und französische Flaggen. Am 27. Oktober erliess das französische Aussenministerium Sicherheitshinweise für mehrere überwiegend muslimische Länder und rief Französinnen und Franzosen dazu auf, sich von Protesten und öffentlichen Versammlungen fernzuhalten.

Das iranische Aussenministerium bedauerte, dass «im Namen der Meinungsfreiheit die Heiligtümer von Millionen Muslimen ignoriert» würden. Diese Art von Islamophobie führe nur zu weiteren radikalen Reaktionen islamistischer Gruppen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan warf europäischen Politikern Islamfeindlichkeit vor und bezeichnete sie als «Kettenglieder der Nazis». Erdogan rief zu einem Boykott von Frankreich auf; Händler in Jordanien, Kuwait und Katar nahmen französische Waren aus ihren Filialen.

In Frankreich zeigt sich der Hass aber auch bei Französinnen und Franzosen, die sich an mutmasslichen Islamisten und Dschihadisten rächen wollen. So berichten französische Medien in jüngster Vergangenheit vermehrt von anti-muslimischen Taten: von Erniedrigungen, Bedrohungen und Aggressionen, unter denen die in Frankreich lebenden Muslime zu leiden haben. Einige der Fälle sollen von der extremen Rechten ausgehen, mehrere Untersuchungen wurden eingeleitet. Zwischen Januar und Juni sollen es gemäss der Nationalen Beobachtungsstelle für die Bekämpfung von Islamophobie in Frankreich 85 islamfeindliche Handlungen gewesen sein, darunter 46 Drohungen und 18 Angriffe auf Gotteshäuser und Friedhöfe. Die Dunkelziffer ist hoch, auch die Beleidigungen und Bedrohungen in Social Media fliessen nicht in die Statistik ein.

Es ist nicht das erste Mal, dass nach Attentaten in Frankreich Hass und Gewalt gegen Muslime explodieren. Als bisheriger Höhepunkt gilt das Jahr 2015. Das Jahr, in dem islamistische Attentäter in Paris und in der Vorstadt Saint-Denis 130 Menschen getötet hatten. Und das Jahr, in dem die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» angegriffen wurde. Damals zählte die Nationale Beobachtungsstelle für die Bekämpfung von Islamophobie innerhalb von zwei Wochen 128 anti-muslimische Straftaten (ohne Paris und die Pariser Vororte). Das waren fast so viele wie im gesamten Jahr 2014.

Angriffe auf Moscheen
Nach der Enthauptung von Samuel Paty wurden in Frankreich mindestens drei Moscheen beschädigt oder bedroht – in einem Zeitraum von nicht einmal zwei Wochen. So wurde zum Beispiel in der Nacht nach der Ermordung von Paty in Montélimar das Tor der marokkanischen Moschee Al Hidaya aufgebrochen und mit Farbe beschmiert.

Am 20. Oktober reichten dann die Verantwortlichen der Ar Rahma-Moschee in Béziers eine Beschwerde ein, nachdem sie auf Facebook eine Nachricht entdeckt hatten, in der dazu aufgerufen wurde, das Gebäude «niederzubrennen» um «Samuel Paty zu huldigen» und «die Botschaft zu verbreiten, dass wir genug davon haben». Ein Nutzer antwortete: «Es wird ein Clan gegründet, wir halten Sie auf dem Laufenden.» Aussagen, die der völkischen und rechtsextremistischen «Identitären Bewegung» zugeschrieben werden. Inzwischen konnte ein Tatverdächtiger ermittelt werden, im drohen bis zu einem Jahr Gefängnis und eine Geldstrafe von 45’000 Euro.

In der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober wurden drei Fenster der Moschee Nour El-Mohamadi im Stadtzentrum von Bordeaux eingeschlagen. Die Wände wurden unter anderem mit Keltenkreuzen und den Beschriftungen «Mahomet = Feigling», «Vive la France» und «Entfernt den Schleier» verschmiert. Die Staatsanwaltschaft von Bordeaux hat eine Untersuchung wegen Sachbeschädigung eingeleitet.

Lebensbedrohlicher Angriff mit Messer
Der aktuell symbolträchtigste Fall für das angespannte Klima in Frankreich ist ein Messerangriff vom 18. Oktober auf zwei muslimische Frauen in der Nähe des Eiffelturms. Wie verschiedene französische Medien berichten, begann der Angriff mit einer Auseinandersetzung. Fünf Frauen gingen in Begleitung ihrer Kinder auf dem Champ-de-Mars spazieren, als sie sich einem freilaufenden Hund näherten. Sie baten die Besitzer, den Hund an die Leine zu nehmen.

Die Hundebesitzerinnen reagierten mit den Worten: «Dreckige Araber», «Wir sind hier zu Hause», «Geh zurück in dein Land». Dann versuchten sie einer der Frauen den Schleier vom Kopf zu reissen. Als ihre 19-jährige Schwester eingreift, wird ihr mit einem Messer mehrere Male ins Gesicht, in den Bauch und ins Handgelenk gestochen. Eine weitere der Frauen wurde mit sechs Messerstichen traktiert, ihre Lunge wurde verletzt.


Interview mit einer Überlebenden des Messerangriffs

Bei der Eröffnung der Ermittlungen wegen versuchten Mordes sagte die Pariser Staatsanwaltschaft, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt «keine Beweise für die Theorie eines rassistischen oder mit dem Tragen des Schleiers verbundenen Motivs gibt». Drei Tage später akzeptierte der Untersuchungsrichter schliesslich die rassistische oder antireligiöse Motivation als erschwerenden Umstand für die vorsätzliche Gewalt, die in einem Zustand der Trunkenheit begangen worden sei.

Inzwischen wurden die beiden Angreiferinnen angeklagt, die mutmassliche Messerstecherin sitzt in Untersuchungshaft. Beide Angreiferinnen streiten die rassistischen Beleidigungen ab.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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2 Meinungen

  • am 30.10.2020 um 14:15 Uhr
    Permalink

    Der Wert der «Freiheit» gilt heute als ‹absolut› höchster Wert, ob nun in der Meinungs-Freiheit oder in der Religions-Freiheit und wird aus Machtgier gerne instrumentalisiert.
    Erst steigert sich oder wird die Gewalt in Worten/Texten wechselseitig gesteigert und dem folgt unweigerlich die Gewalt in den Taten.
    Letzendlich müssten es die Menschen in sich und in einer gesunden Gesellschaft schaffen, immer wieder neu das Trilemma aus ‹Freiheit›, ‹innerem Frieden/Ruhe/Harmonie› und ‹Sicherheit› zu lösen, abzugleichen, anzugleichen.
    Im Marketing heisste es, Verlustängste haben eine 7-fach so hohe Wirkung relativ zu Vernunft u. Verstand. Deshalb wird von den geistigen Verführern zu deren Vorteil damit die Öffentliche Meinung so gemacht, z.B. mit ‹übertrieben› dargestellten Verlusten an Freiheit oder Sicherheit. Die innere Ruhe bleibt damit auf der Strecke oder soll auf der Strecke bleiben. (teile/spalte u. herrsche)
    Wer mit der Ideologisierung, Instrumentalisierung oder Bewirtschaftung DER ‹Freiheit» angefangen hat ist zweitrangig.
    Wer versteht den Wert der inneren Ruhe, Harmonie, Frieden auch «great again» zu machen, macht erst eine Gesellschaft wirklich stark.

  • am 31.10.2020 um 06:10 Uhr
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    Ist der Spegel daran Schuld, was derjenige sieht, der in den Spiegel guckt?
    Der Satiriker hält nur den Spiegel hin…

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