Kommentar

Achtung: «Revolution»!

Jürg Müller-Muralt © zvg

Jürg Müller-Muralt /  Strassenschlachten und Demonstrationen: nicht alles sind Revolutionen. Für den sorgfältigen Umgang mit einem schwierigen Begriff.

Revolution: Das Wort passt gut in unsere unruhige Zeit, aber nicht unbedingt zu jeder Analyse, die ernst genommen werden will. «Am Rande einer Revolution», «Fast wie eine Revolution», «Kleine Revolution auf dem Taksim-Platz»: Etwas gar locker floss in den vergangenen Wochen manchen Journalisten der Begriff in die Tastatur, wenn sie über die Türkei, Brasilien, Ägypten und andere Schauplätze dramatischer Ereignisse berichteten. Doch nicht jede unübersichtliche, schwer einzuordnende Lage ist gleich eine revolutionäre.

Zugegeben: Der Begriff ist praktisch. Er erzeugt Aufmerksamkeit und vermittelt – je nach Standpunkt – hoffnungsvolle Perspektiven oder Furcht und Schrecken. Aber er ist gleichzeitig auch derart abgegriffen und durch inflationäre Verwendung entwertet, dass ein sinnvoller Gebrauch zunehmend problematischer wird. Nichts illustriert das besser als der lange Weg von der Französischen Revolution zur Revolution im Küchenbau, also von der Benennung einer der folgenreichsten Umwälzungen der europäischen Geschichte hin zur trivialen Bezeichnung einer Neuerung, mithin also der Besetzung des Begriffs durch die Werbebranche.

Viele Revolutionen, viele Unsicherheiten

Dabei schafft die Werbebranche nicht die grössten semantischen Probleme des Revolutionsbegriffs. Politische, soziale, geistige, kulturelle und technische Revolutionen gibt es in Unmengen. Der Begriff hat sich für eine grosse – vielleicht zu grosse – Zahl politischer Umbruchsituationen eingebürgert. Neben der sozusagen klassischen Revolution, der Französischen von 1789, gibt es da – um nur willkürlich einige herauszugreifen – die russischen Revolutionen (1905/1917), die Novemberrevolution (Deutschland 1918/19), die kubanische Revolution (1956-59), die Nelkenrevolution (Portugal 1974), die Kulturrevolution (China 1966-76), die Samtene Revolution (Tschechoslowakei 1989), die Rosenrevolution (Georgien 2003), die Revolution in Orange (Ukraine 2004), die Jasminrevolution (Tunesien 2010/11), die ägyptische Revolution (2011/12). Darüber hinaus haben neben vielen anderen Revolutionen im geistigen, kulturellen und technischen Bereich auch die industrielle und die sexuelle Revolution Eingang ins kollektive Bewusstsein gefunden.

Die Revolutionsforschung füllt zwar ganze Bibliotheken, aber die Historikerinnen, Soziologen und Politikwissenschaftlerinnen haben selbst grösste Mühe, die Sache terminologisch in den Griff zu bekommen und eine allseits akzeptierte, verbindliche Definition zu liefern. Das liegt auch am Gegenstand selbst: Unterschiedlichste dramatische Kontinuitätsbrüche sind nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ohne sie in ein theoretisch wenig hilfreiches Korsett zu zwingen. Zur terminologischen Inflation tragen auch Putschisten bei, die ihren ohne tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel erfolgten Umsturz zur ideologischen Rechtfertigung als Revolution bezeichnen.

Unschärfe ist kein Freipass für Dammbruch

Der «Revolution» als historischer Kategorie geht es ganz ähnlich wie dem «Krieg»: Beide kommen immer wieder in einem anderen Kleid daher. Kaum glaubt man zu wissen, wie sie entstehen und funktionieren, hat sich ihre Erscheinungsweise bereits wieder gewandelt. Die Unschärfe des Revolutionsbegriffs ist aber kein Freipass für einen terminologischen Dammbruch. Einige notwendige, wenn auch längst nicht hinreichende Bedingungen sollten schon erfüllt sein, um eine politische Entwicklung als Revolution zu bezeichnen:

1. Von einer Revolution kann man sprechen, wenn bisher untergeordnete oder von der Macht völlig ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen, Schichten oder Klassen relativ plötzlich die politische Herrschaft übernehmen oder sich die volle, gleichberechtigte Teilnahme im politischen System erkämpfen. Dabei wird meist das gesamte bisherige soziale Wertesystem mehr oder weniger stark erschüttert oder umgestossen. Das muss nicht unbedingt mit einem blutigen Konflikt einhergehen, meistens aber schon. Vom Standpunkt des bestehenden Polit- und Rechtssystems aus handelt es sich um einen illegalen Akt.

2. Die Umwälzung sollte von einer gewissen Dauerhaftigkeit ein. Es muss also gelingen, nach der Umkrempelung des politischen Systems auch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nachhaltig umzugestalten und damit die Veränderungen breit abzusichern. Das schliesst Rückschläge und Rückentwicklungen nicht aus, aber eine vollständige und andauernde Rückkehr zu den alten Zuständen ist kaum mehr möglich. Es gab in der Geschichte immer wieder Beispiele massiver, ursprünglich als revolutionär eingestufter Umwälzungen, die sich jedoch nicht durchsetzen konnten. Bekannte Beispiele sind die Pariser Kommune von 1871 und die Räterepubliken in München und Ungarn von 1919.

3. Bei einer erfolgreichen Revolution besitzen die tragenden Kräfte einen hohen Organisationsgrad und möglichst klare politische Vorstellungen, die sie auch artikulieren können. Rebellierende oder demonstrierende Massen allein können eine Revolution im oben erwähnten Sinn nicht erfolgreich zu Ende bringen, aber sie sind häufig Ausgangspunkt oder Begleiterscheinung revolutionärer Entwicklungen. Gerade dieses Element des politischen Bewusstseins, das sich in einem geplanten und gezielten Umsturz manifestiert, macht deutlich, dass es nicht sehr sinnvoll ist, über Jahrzehnte oder Jahrhunderte laufende gesellschaftliche Prozesse als Revolutionen zu qualifizieren. «Industrialisierung» bezeichnet die Entwicklung deshalb präziser als der Begriff «industrielle Revolution».

Es hat zwar keinen Sinn, verbissen gegen eine längst eingebürgerte unscharfe Terminologie anzukämpfen, auch wenn sie manchmal fragwürdig ist. Aber es ist auch nicht sinnvoll, den inflationären Gebrauch noch anzukurbeln und aus heftigen Demonstrationen, Aufständen und Strassenschlachten vorschnell revolutionäre Situationen zu machen.


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Keine

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Eine Meinung zu

  • am 9.07.2013 um 22:59 Uhr
    Permalink

    Alles sehr überzeugend! Nur mit «nicht unbedingt mit einem blutigen Konflikt einhergehen, meistens aber schon.» bin ich nicht so einverstanden. Erica Chenoweth und Maria Stephan haben in «Why Civil Resistance Works» (Columbia University Press, 2011) meiner Meinung nach überzeugend nachgewiesen, dass heutzutage Revolutionen durch nichtblutige Aktionen doppelt so erfolgreich sind.

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