DOKZwischenRechtundGerechtigkeit

«Tages-Anzeiger» und «Blick» über denselben Film des Schweizer Fernsehens © Ringier, Tamedia

Wenn der Einzelfall öffentlich wird

Jürgmeier /  «Schade.» «Das wäre der richtige Film gewesen.» Zwei Kommentare. Ein SRF-DOK-Film: «Zwischen Recht und Gerechtigkeit».

Noch einmal nähert sich das Schweizer Fernsehen am Donnerstag 2. Oktober 2014 dem Stichwort Jugendstrafrecht und -vollzug an. Dies, nachdem die Sendung «Reporter» im August des letzten Jahres mit dem Porträt «Der Jugendanwalt» – so das Schweizer Fernsehen selber und irgendwie stolz – «den Fall ‹Carlos› ins Rollen brachte», der «letztendlich zur Story bzw. zum Skandal des Jahres wurde».

Eigentlich war es ja damals um die Person von Hansueli Gürber – der zu jenem Zeitpunkt noch Leiter der Jugendanwaltschaft der Stadt Zürich gewesen war – gegangen. «Dem 62jährigen, der aussieht wie ein Alt-Hippie, liegen die Jugendlichen am Herzen. Auch die, die schon einiges auf dem Kerbholz haben. Gürber geht immer wieder eigene Wege, nicht nur beruflich, auch privat.» Schrieben die SendungsmacherInnen, die, vermutlich, bewusst die boulevardeske Personifizierung wählten, um ein komplexes Thema gewissermassen en passant zu behandeln.

«Ich fühle mich mitverantwortlich. Ich würde es heute anders machen.»
Womit der Filmer Hanspeter Bäni anscheinend nicht gerechnet hatte – dass hinterher nicht die Hauptperson, Gürber, sondern eine Nebenperson, «Carlos», im Fokus des medialen sowie politischen Interesses stand und einen «medialen Feuersturm» (Hanspeter Bäni) auslöste. Die (damals schon) beliebte «Blick»-Schlagzeile «Sozial-Wahn» habe – so der Videojournalist in einer SRF-Vorschau zu seinem zweiten Versuch, zusammen mit Simon Christen – wie «Gift» gewirkt. «Diese Injektion auf Seite eins des Blattes wirkte toxisch und infizierte nachfolgend alle Medien des Landes.» Zu seiner eigenen Rolle in dieser bakteriellen Kaskade schreibt er: «Ich bin der Autor dieses Filmes. Ich fühle mich mitverantwortlich. Ich würde es heute anders machen.»

Er und sein Kollege haben es diesen Donnerstag denn auch anders gemacht. Sie wählten ein anderes Sendeformat mit doppelt so viel Sendezeit. Titel und Vorschau zur Sendung machen klar: Diesmal geht es um ein Thema, nicht um eine Person. («Recht und Gerechtigkeit» statt «Der Jugendanwalt», «Das Thema Jugendkriminalität…» anstelle von «Hansueli Gürber ist…».) Nach einem noch etwas reisserischen Einstieg – «wenn mit dramatischen Klängen untermalt der Fall Carlos noch einmal aufgerollt wird» (Liliane Minor, u.a. im «Tages-Anzeiger») – verzichten die beiden DOK-Filmer weitgehend auf Quoten bringende Personifizierungen und Skandalisierungen. Womöglich nicht ganz freiwillig, in einem «Tages-Anzeiger»-Interview gibt Hanspeter Bäni zu Protokoll, er habe «Carlos» nach dem ersten Film «um ein Interview gebeten, aber er hat sich nie bei mir gemeldet. Und ich habe gelesen, dass er den zweiten Film ablehnt.» In seinem Facebook-Profil «Carlos Staatsfeind» – das den Medien- und Polit-Hype spiegelt – schreibt der von Bänis «Reporter»-Porträt eines Jugendanwalts am stärksten Getroffene: «Diese Woche wollen wieder einmal 2 Journalisten vom Namen Carlos profitieren und Falsches behaupten.»

Geschichten statt Analysen
Das Misstrauen ist berechtigt. Medien neigen dazu, mit Blick auf Quoten und Auflagen, Geschichten zu erzählen statt laut zu denken, individuelle Fälle darzustellen statt vertiefende Analysen zu verfassen. Als ob Denken, siehe Bertolt Brecht, nicht auch ganz unterhaltsam sein könnte. Ich habe mir für einen Moment überlegt, einen «süffigeren» Titel zu wählen, es dann bewusst gelassen, habe es selbst immer wieder erlebt – wenn ich Redaktionen ein Thema vorschlug, das sie «an sich interessant» fanden, kam immer die Frage: «Hast du einen Fall». Der Wunsch, den «Menschen in den Mittelpunkt» zu stellen, reduziert komplexe soziokulturelle Phänomene beziehungsweise Probleme auf einzelne Figuren und Betroffene. Wo der Einzelfall öffentlich wird, da wird er zum einen verallgemeinert, werden mit ihm Geschäfte und Politik gemacht, und zum anderen schlägt die öffentliche Empörung sowie Instrumentalisierung, wenn die Verantwortlichen nicht wirklich couragiert und standfest sind (oder sein können), auf den konkreten Einzelfall zurück.

«Blick-online» hält in seiner DOK-Kritik, wider jede Sendungsrealität, hartnäckig an der Fokussierung auf den Einzelfall fest. Titelt: «Der Reinfall Carlos». Schreibt: «SRF zeigte einen zweiten Film zum jugendlichen Intensivtäter Carlos… präsentiert mit dem Baselbieter Gianluca B. ein positives Beispiel und mit Ivan G. einen zweiten Carlos… Und die wirklich relevante Frage kann auch der zweite Carlos-Dok nicht beantworten…»

Die SRF-DOK «Zwischen Recht und Gerechtigkeit» aber löst sich vom Einzelfall, «liefert», kommentiert der «Tages-Anzeiger», «endlich Antworten und Einblicke in den Jugendstrafvollzug, der hierzulande massiv kritisiert wird, um den uns das Ausland aber beneidet», und so kann Zuschauer Heinz Röthlisberger auf «srfdok» twittern: «So differenziert soll Fernsehen sein! Dafür muss man aber die einfachen Antworten opfern.»

Keine einfachen und billigen Lösungen
Nicht nur Medien, wir alle neigen dazu, soziale Vorgänge zu individualisieren, das heisst auch, TäterInnen als letzte Handelnde in einer langen Kette sozialpsychologischer Verstrickungen als einzige verantwortlich zu machen. Dies, obwohl alle TäterInnen, zumindest in ihrer subjektiven Optik, immer nur zurückschlagen und ihrerseits Opfer sind, wenn auch im Allgemeinen nicht Opfer ihres Opfers. Bei der Schlagzeile des «Tages-Anzeigers» vom 31. August 2013 «Eine Verbrecherkarriere kostet die Allgemeinheit Millionen» haben vermutlich viele und nicht nur klammheimlich genickt. Hansueli Gürber – inzwischen pensioniert und offensichtlich vom damals ausgesprochenen Redeverbot befreit – hat in der neusten DOK von SRF zu solcher Mathematik eine substantielle Antwort gegeben. Nicht nur für den einzelnen zahlten wir so viel, «sondern für die ganze Gesellschaft, damit der Täter nicht mehr Täter wird.»

Wenn wir – wie es einer aufgeklärten Gesellschaft anstünde – davon ausgehen, dass TäterInnen weder vom Himmel fallen noch bedauernswerten Eltern und Gesellschaften vom Teufel als Wechselbalg untergeschoben, sondern unter uns zu dem werden, was sie sind; wenn wir unterstellen, dass Menschen, vielleicht mit wenigen Ausnahmen, andere werden können, dann gibt es keine einfachen und billigen Lösungen. «Weder die Strafart noch die Schärfe der Strafe» hätten einen massgeblichen Einfluss auf die Rückfallgefahr, hält der Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie Marcel Niggli im Schweizer Fernsehen fest. Massgeblich seien «unsere Gewohnheiten, und die ändern Sie nicht so schnell.» Das weiss jede und jeder von uns, die oder der schon einmal versucht hat, weit harmlosere Verhaltensweisen (als Konflikte gewalttätig zu lösen) zu verändern – zum Beispiel, nicht mehr regelmässig zehn Minuten zu spät zu kommen, nicht immer alles in letzter Minute und gestresst zu erledigen, eine wie auch immer geartete Sucht zu überwinden.

Die SendungsmacherInnen von SRF haben bei ihrem zweiten Film mediale Gewohnheiten, zumindest ansatzweise, verändert. Die «Story des Jahres» wird «Zwischen Recht und Gerechtigkeit» nicht werden, aber es ist ein Beitrag zu vertiefter Reflexion, auch für PolitikerInnen und BürgerInnen, die gerne einfache Lösungen für komplexe Probleme hätten. Aber, konsequent zu Ende gedacht, bliebe im Einzelfall zu einem Dumpingpreis nur das «Rübe-Ab», und das findet in Gesellschaften – die Menschenrechte für eine gegen alle Ideologien zu verteidigende Errungenschaft halten – zum Glück nur noch in individuellen Phantasien statt. Wo es keine einfachen Lösungen gibt, wird es im Einzelfall teuer; das ist der Preis dafür, dass wir als Gesellschaft diese Einzelfälle immer wieder hervorbringen, solange es nicht gelingt, die sozioökonomischen Voraussetzungen zu schaffen, die verhindern, dass Menschen unter uns zu «Monstern» werden.

Medialer Nachtrag zum Einzelfall
Soweit das Allgemeine. Bleibt die Frage, was mit «Carlos» wäre, wenn es den ersten Film nicht gegeben, wenn der Einzelfall nicht öffentlich geworden, das so genannte «Sondersetting» in aller Ruhe fortgesetzt und die Kosten, wie geplant, schrittweise reduziert worden wären, wenn statt politisch-medialer Skandalisierung und Empörungsorgien an verschiedensten Tischen eine grundsätzliche Debatte über Ursachen von Jugendkriminalität, «Behandlung» und Prävention stattgefunden hätte.

Der verantwortliche Filmer Hanspeter Bäni fragt sich «Bin ich verantwortlich für sein Schicksal?» und gibt im «Tages-Anzeiger» gleich selbst die Antwort: «Sicher nicht für seinen Werdegang. Aber ich habe über ihn berichtet und einen Hype ausgelöst, den ich nicht mehr beeinflussen konnte. Ich hoffe, dass er deswegen nicht traumatisiert ist und dass er seinen Weg findet. Aber er muss seinen Weg selber gehen.» Der «Blick» spöttelt, man werde das Gefühl nicht los, «dass sich das SRF für den – sehr guten (weil er die Grundlage für eine Kampagne lieferte?, Jm) – ersten Dok-Film über Carlos rechtfertigen will.» Und befreit dann, als massgeblicher Akteur in dieser «Geschichte», das Medium von jeder Verantwortung: «Dass der Fall Carlos zum Reinfall wurde, ist die Schuld von überforderten Eltern, Behörden sowie Politikern – nicht die eines Doks.»

Aber Medien – die sich, gerne und fälschlicherweise, als «vierte Gewalt» im Staat sehen – können sich nicht wie TäterInnen, die sich unter die GafferInnen gemischt haben, davonschleichen. Was WissenschaftlerInnen schon länger erkennen mussten – dass jede Beobachtung und Beschreibung von (nicht nur sozialer) Wirklichkeit das Beobachtete direkt beeinflusst –, gilt weit mehr für JournalistInnen. Wer Menschen und soziale Phänomene beschreibt und kommentiert, wird Teil eines öffentlichen Diskurses, der (auch) Fakten schafft. Im Allgemeinen und im Einzelfall.


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11 Meinungen

  • am 4.10.2014 um 22:28 Uhr
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    Bei sovielen Gedankenstrichen kann man davon ausgehen, dass der Autor sich Gedanken über das Geschriebene gemacht hat – aber lesbar ist es kaum noch.

  • am 5.10.2014 um 17:45 Uhr
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    Vielleicht ist dies eine Erscheinung unserer schnelllebigen Zeit, denn wo kämen wir hin, wenn wir uns über alles eingehend informieren – inklusive Gedankenstrichen – müssten? Es könnte auch unsere geliebten Vorurteile in Frage stelle.

  • am 5.10.2014 um 18:02 Uhr
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    Nene, man kann das auch «linear» ausdrücken, also ohne Abschweife. Der Schreibstil mit diesen vielen Gedankenstrichen entspricht einer Autofahrt auf der Autobahn, bei der in jede Ausfahrt kurz reingefahren wird, um dann wieder die Wegstrecke aufzunehmen.

    Meist kann man das sehr einfach vermeiden. Zum Beispiel:

    "Hansueli Gürber – inzwischen pensioniert und offensichtlich vom damals ausgesprochenen Redeverbot befreit – hat in der neusten DOK von SRF zu solcher Mathematik eine substantielle Antwort gegeben."

    Der inzwischen pensionierte und vom Redeverbort befreite Gürber…

    Diese Einschübe per Gedankenstrich machen das Ganze holprig und kaum konsumierbar. Lineare Ausducksweise braucht der Leser.

    oder:

    "Aber, konsequent zu Ende gedacht, bliebe im Einzelfall zu einem Dumpingpreis nur das «Rübe-Ab», und das findet in Gesellschaften – die Menschenrechte für eine gegen alle Ideologien zu verteidigende Errungenschaft halten – zum Glück nur noch in individuellen Phantasien statt."

    Aber, konsequent zu Ende gedacht, bliebe in Gesellschaften, die Menschenrechte als gegen alle Ideologien zu verteidigende Errungenschaft erachten, im Einzelfall nur die billige Alternative «Rübe-Ab."

  • am 5.10.2014 um 18:05 Uhr
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    , welche zum Gluck nur noch in …. stattfindet.

    Viel zu komplizierte Ausdrucksweise…Man kommt als Leser nicht in die Gänge, wird ständig rumgeschubst.

    Darum ist der Autor wohl auch immer so erbost, wenn Blocher komplizierte Sachverhalte einfach auf den Punkt bringt.

  • am 5.10.2014 um 18:18 Uhr
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    Wenn schon muss man Slalomfahren:

    "Der inzwischen pensionierte und vom Redeverbort befreite Gürber…"

    ist ein leichte Kurve, aber

    "Hansueli Gürber – inzwischen pensioniert und offensichtlich vom damals ausgesprochenen Redeverbot befreit – hat » ist

    Losfahren – ah doch nicht – das ist doch noch was – ja genau – gut, dass wär auch gesagt, dann wieder zurück in die Spur und weiter. Horror. Wenn jemand so autofährt wie dieser Autor schreibt, dann K*** die Passagiere – mit Verlaub.

  • am 5.10.2014 um 18:24 Uhr
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    Aber auch das ist noch zu kompliziert. Man könnte einfach sagen, dass Gürber jetzt «redseliger» ist und so dem Leser überlassen, warum Gürber jetzt befreiter sprechen kann. Aber der Autor stellt hier die Behauptung in den Raum, dass Gürber ein Redeverbot auferlegt bekam, ohne das irgendwie zu unterlegen.

  • am 5.10.2014 um 18:25 Uhr
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    "Das weiss jede und jeder von uns, die oder der schon einmal versucht hat, weit harmlosere Verhaltensweisen (als Konflikte gewalttätig zu lösen) zu verändern – zum Beispiel, nicht mehr regelmässig zehn Minuten zu spät zu kommen, nicht immer alles in letzter Minute und gestresst zu erledigen, eine wie auch immer geartete Sucht zu überwinden."

    Unglaublich. Das muss doch schon beim Schreiben weh machen.

  • am 5.10.2014 um 19:45 Uhr
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    Man kann natürlich endlos über den Schreibstil diskutieren. Lohnender wäre eine Diskussion über den Inhalt des Artikels.

  • am 5.10.2014 um 19:59 Uhr
    Permalink

    Über den Inhalt des Artikels oder der Sendung?

    Beides zurück an den Absender und überarbeiten!

  • am 7.10.2014 um 07:43 Uhr
    Permalink

    Zum Glück gibt es einen Olivier Bregy, der einen im Schreibstil weiterbringt.

  • am 7.10.2014 um 07:52 Uhr
    Permalink

    Hallo Stefan. Warten wir es ab 🙂

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