Kommentar

Sprachlust: Auch im Senat ist Ruzzle faszinierend

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Achtung Suchtgefahr: Das Buchstabenspiel Ruzzle verwandelt Handys und Tablets in Fingermagneten. Sogar im französischen Senat.

Die Sitzung muss langweilig gewesen sein. Also zückte die französische Senatorin Laurence Rossignol ihren Tablet-Computer, rief das Spiel Ruzzle auf und begann, mit dem Finger auf dem «magischen» Quadrat Buchstaben zu Wörtern zu verbinden. Hätte sie stattdessen das Mobiltelefon genommen, so wäre sie dem Journalisten vielleicht auch aufgefallen, aber er hätte ihren Spielnamen kaum entziffern können. So aber forderte eine TV-Kollegin die Politikerin heraus – und verlor haushoch, noch während der Sitzung. Dafür hatte man ein Sujet für einen witzigen TV-Beitrag, der Furore machte. Ob das Ganze der wortgewaltigen Dame genützt oder geschadet hat, wissen wir nicht.
40 Millionen Mal wurde das Spiel laut den schwedischen Herstellern seit der Lancierung im März 2012 installiert; verfügbar ist es in zehn Sprachen, in der Grundversion gratis. Ruzzle birgt Suchtgefahr: Zu reizvoll ist es, in den gewährten zwei Minuten möglichst viele Wörter zu bilden. Man kann es entweder alleine tun oder gegen jemand anderen, dessen Spielnamen man kennt oder den man als Zufallsgegner zugeteilt bekommt. Das geht meistens schnell; allerdings braucht man daraufhin manchmal Geduld, bis das Gegenüber nach dem ersten Kontakt wieder reagiert; man kann einander auch Mitteilungen schicken.
Kostbare Brezeln
Die in drei Runden erreichte Punktzahl entscheidet; je schwieriger und je länger ein Wort ist, desto mehr Punkte gibt es. Zudem sind einzelne Buchstaben durch Umrandung mit einem Bonus versehen, den abzuholen sich lohnt. Nur benachbarte Buchstaben dürfen verbunden werden, und pro Wort nur einmal. Diagonale Verbindungen sind möglich, und sie dürfen sich kreuzen. Das erlaubt brezelförmig gewundene Wörter; im abgebildeten Beispiel wäre «Rehkaelbern» – Umlaute werden ausgeschrieben – das längste gültige Wort.
Ruzzle-Screenshot
Massgeblich scheint für Deutsch der Duden zu sein, allerdings nicht der neueste: Die soeben ausgemerzte «Eiskrem» gilt noch, samt dem zu Lebzeiten gültigen Plural auf -s. Was mit einem bestimmten Quadrat alles möglich gewesen wäre (und welche Wörter das Gegenüber gebildet hat), erfährt nur, wer sich für Fr. 2.50 die Vollversion geleistet hat. Meistens sind es 200 bis 400 Wörter. Oft greift man sich bei aufgeführten Formen an den Kopf, findet dann aber doch eine Rechtfertigung: Eine falsche Befehlsform wie «reinleg» könnte ja ein verkürzter Konjunktiv sein: Ich behaupte, dass er mich reinleg(e). Das Programm ist allerdings wählerisch: Manche Verkürzungen wie «leiser(e)n» verwirft es. Und zuweilen «spinnt» es: «Mohren» will es nicht, «Uboeten» dafür schon.
Entdeckerfreuden
Die vorgelegten Quadrate berücksichtigen die Häufigkeit der Buchstaben. Das erhöht die Chance, Wörter zu bilden, aber dafür wiederholen sich manche von Spiel zu Spiel. Oft ist zum Beispiel «Eiter» möglich, indessen mit ganz verschiedenen «Erweiterungen». Neben dem (gehetzten) Vergnügen des Aufspürens gibt es auch jenes, verpasste Wörter zu erfahren und dabei oft neue kennenzulernen. Dazu ist es praktisch, den Duden auf dem Gerät zu haben, «duden.de» gratis, aber vom gedruckten abweichend, oder die App, deren Code man mit dem Buch erhält.
Hierzulande erlebt man manche Überraschungen aus Norddeutschland, etwa Gest (Hefe) oder vielerlei Nautisches, so das Gatt (u.a. Loch); als Abkürzung oder Eigennamen wäre dieses Wort ungültig. Auch Österreich hat viel zu bieten, etwa geldig (reich) oder hieramts. Anderes kommt aus Fachsprachen, so söhlig (waagrecht im Bergwerk) oder Zain (Rute des Dachses, aber auch Weidenrute, aus der unsere Zainen sind). Oft liegt das Gute so nah: SAELIS etwa – es gibt ja nur Grossbuchstaben – entpuppt sich als Helvetismus. Man könnte sich das alles auch durch Blättern im Duden aneignen, aber das wäre weit weniger lustig als mit Ruzzle oder seiner Urform Boggle (mit Würfeln oder online).
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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