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Occupy WEF: Facebook als Mittel politischer Kommunikation. Die Seite von Juso-Präsident David Roth © R.

Politik und Medien: Gespräch oder Social Media

Oswald Sigg /  Social Media sind zu Mitteln der politischen Kommunikation geworden. Aber sie können das überzeugende Gespräch nicht ersetzen.

Am 18. November 2011 fand in Solothurn eine Tagung des Schweizerischen Städteverbandes und der Schweizerischen Konferenz der Stadt- und Gemein­deschreiber statt. « Die Herausforderung ‚Social Media‘ » war das Thema. Oswald Sigg, ehemaliger Vizekanzler der Schweizerischen Eidgenossenschaft, wurde das Schlusswort erteilt. Wir geben seinen Text leicht gekürzt wieder (Red.):

Ich freue mich, den Schlusspunkt unter Ihre social media-Tagung setzen zu dürfen und ich danke herzlich für die Einladung. Vielleicht wird es eher ein Kontra-Punkt. Sie haben keinen Experten, keinen User für dieses abschlies­sende Wort eingeladen, sondern einen Bürger, einen Pensionierten – aber nicht ei­nen pensionierten Bürger. Ich äussere mich zu Facebook stellvertretend für andere social media. Und ich habe mich für diesen Schlusspunkt weder mit Facebook noch über Google vorbereitet, sondern unter anderem durch die Lektüre der ZEIT, dieser deutschen Wochenzeitung, die ich jetzt lese, weil ich immer noch ganz fest daran glaube, als pensionierter Beamter mehr Zeit dafür zu haben.

Facebook als Spielwiese

Facebook als social media – das ist ungefähr so schräg, wie wenn Sepp Blatter die FIFA jeweils als gemeinnützigen und deshalb steuerprivilegierten Verein bezeichnet. Wissen Sie, was Facebook ist? Kein Verein. Keine Partei. Keine Sekte. Kein börsen­kotiertes Unternehmen. Es ist eine Plattform. Eine Spielwiese. Und es ist noch im­mer etwas Neues.

Viele Menschen haben einen Argwohn gegen Vieles, was neu ist. Eigentlich eine gesunde, eine menschliche Regung. Damals, als ich in Zürich-Höngg in die Primar­schule ging – das Medium Schiefertafel war erst gerade durch ein liniertes Papierheft mit blauem Umschlag abgelöst worden (verstehen Sie was ich meine: das sind Vor­läufer des Internets) – also damals versperrte auf einmal am Mittwoch-Nachmittag ein Migros-Verkaufslastwagen unsere Quartierstrasse und ich bedrängte jedesmal meine Mutter, doch dort einkaufen – posten, sagte man damals – zu gehen. Nüt isch, sagte sie, das isch nur e neui Schnapsidee vom Gottlieb Duttwiler und dä wott mit sinere Migros nume die Chliine uffrässe. Sie schaute mich, was völlig unüblich war, drohend an. Und sie bekam recht, meine Mutter. Der Duttweiler war zwar kein Chind­lifrässer, aber seiner Migros haben wir das Lädelisterben in der Schweiz zu verdan­ken. Heute kann man stattdessen fast nur noch mit dem Auto in den Supermarkt fah­ren. Der Argwohn meiner Mutter war – retrospektiv betrachtet – jedenfalls nicht ganz unberechtigt.

Zurück zu Facebook, das ja doch nicht mehr so neu ist, aber uns etwas ganz Neues bescheren wird. Ich komme noch darauf zu sprechen. Jede Plattform – zum Beispiel eine Ölbohrplattform – steht auf einer Grundlage, auf Pfeilern, auf einem Fundament. Für Facebook ist das Internet das Fundament. Trägt, verträgt es das? Kann man fra­gen.

Internet und seine digitale Statik

Am 5. November sollte Facebook im Internet von ein paar Hackern vernichtet wer­den. Es hat überlebt. Mit solchen Angriffen ist die Plattform in guter Gesellschaft: Sony, MasterCard, Amazon, Citigroup, Hilton, Neckermann, Nintendo – nur einige Beispiele von Unternehmen, die wie alle Geheimdienste und die meisten Aussenmi­nisterien in aller Welt regelmässig Objekte von Cyberattacken im Netz sind. Oft mit Erfolg. Aber das wird in der Regel unter dem Deckel behalten. Dennoch, dass etwa die Baupläne für das neueste amerikanische Kampfflugzeug über elektronische Da­tenkanäle gestohlen wurden, das wissen wir. Wie ist so etwas möglich? Die Antwort geben zwei Journalisten, Thomas Fischermann und Götz Hamann. Ich zitiere: «Die wichtigste Infrastruktur unseres Planeten ist zu schwach für das, was sie leisten soll. Die Computer, das Netz, ja die ganze Informationstechnik versagt nun im grossen Stil. Nie war das Internet dafür vorgesehen, solche Massen hochgradig privater, wirt­schaftlich unentbehrlicher und überlebenswichtiger Daten zu befördern und zu ver­walten.»

Das Netz, das heute von zwei Milliarden Menschen genutzt wird, ist im Auftrag der US Army erfunden und gebaut worden. Einer der Erfinder, David Clark, sagt heute: «Wir wollten eigentlich nur etwas Simples: universelle Konnektivität.» Heute ist die wichtigste Infrastruktur auch der wichtigste Globalisierungstreiber. Das Netz ist auch das weltumspannende Gelände einer rasch wachsenden digitalen Wirtschaft, die jetzt schon ein Volumen von über 10 Billionen $ aufweist – mehr als der globale Pharmamarkt oder die weltweiten Investitionen in erneuerbare Energien. Und mit der universellen Konnektivität und innerhalb dieser wichtigsten Infrastruktur hat man gleich auch die Basis für eine explodierende Internetkriminalität gelegt. Hier herr­schen mittelalterliche Zustände. Auch als gewöhnlicher Bürger, als simpler User, wird man überfallen, betrogen, übers Ohr gehauen. Das riesige Sicherheitsrisiko bringt den schon zitierten David Clark zur Aussage: «Das Internet ist kaputt.» Er muss es ja wissen. Ein anderer, der es wissen muss, Viktor Meier-Schönberger, der Leiter des Oxford Internet Institute, spricht von einem durchaus möglichen Zusammenbruch des ganzen Netzes.

Viele Fachleute sind sich im Befund einig: Dem Netz fehlt das Fundament. Deshalb kann es einstürzen. Und deshalb fordern viele Fachleute: Baut ein neues Internet. Wir stellen fest: die Plattform Facebook steht auf einem Fundament, dem seinerseits das Fundament fehlt.

Kein User von Social Media

Nun aber vom Internet zu Facebook. Ich muss Ihnen etwas gestehen, was Sie nicht überraschen wird: ich bin kein User. Ich bin kein Freund. Und auch keine Freundin. Ja, ich muss Ihnen noch etwas gestehen: ich habe ein fast traumatisches Erlebnis aus der Pionierzeit von Facebook. Es war vor sechs, sieben Jahren – es gab jeden­falls noch erst einige wenige Millionen Menschen auf dieser Spielwiese – da bekam ich eine eMail mit Absender: Facebook. Ich wusste damals nur annähernd, was das war. Als ich das Mail öffnete, stand da sinngemäss: Andy Gross will Dich als Freun­din haben. Andy, ich kenne den seit über 30 Jahren, das ist ein Mann, mich zur Freundin? Hä, sagte ich mir. Gahts na? Und schrieb dem Andy, diesem Scherzbold, zurück: ich verbitte mir solche sexuellen Anzüglichkeiten, oder so ähnlich. Von Face­book habe ich dann nie mehr etwas gehört, von Andy schon. Er hat gemeint, ich müsste mich gesellschaftspolitisch doch noch etwas entwickeln, fortschrittlicher wer­den, oder so. Und vor ein paar Wochen sagte mir meine Tochter, ich sollte mein Pro­fil auf Facebook etwas aufpolieren und besser pflegen: schlechtes Foto, viel zu wenig Freunde, von Freundinnen hat sie wenigstens nichts gesagt. Und da habe ich erst­mals in Erfahrung gebracht, dass ich auch zu den paar Milliarden Menschen gehöre, die unsterblich auf diesem sozialen Ort verewigt sind, ohne dass sie es wissen. Das ist ja wie bei unseren lieben Toten, die vermutlich auch nicht wissen, dass sie auf einem Friedhof liegen. A propos Friedhöfe: alle diese Namen und Daten auf den Grabsteinen. Das habe ich jetzt gegoogelt. Den virtuellen Facebook-Friedhof den gibt es schon längst.

Aber wir leben ja noch. Ich bin jetzt etwas abgeschweift. Es geht eigentlich immer noch um die Frage, was Facebook ist. Sie haben heute darüber diskutiert, wie und was die Behörden auf den social medias machen dürfen, können, sollen. «Die Prä­senz auf allen Digitalen Sozialen Medien wird zu einem MUSS», hat Frau Professorin Teufel gesagt. Ich verstehe, dass man diese Feststellung trifft, aber ich teile sie nicht. Ich verstehe es durchaus, dass viele Behörden dort kommunizieren wollen, wo sich viele Menschen irgendwie begegnen. Aber indem Behörden auf Facebook gehen, legitimieren sie solche Plattformen. Die Investitionen in die vermeintlich Sozialen Me­dien sind in etwa das Gegenteil von Sozialpolitik. Als öffentliche Behörde muss man wissen, mit wem man sich verbindet, wenn man sich mit Facebook einlässt und es damit offizialisiert.

Eine Geldmaschine dank Exhibitionismus

Facebook ist in erster Linie eine Geldmaschine. Ausser den Eigentümern sind jene die damit am meisten Geld machen Coca Cola, Starbucks und Disney. Die Werbe­einnahmen liegen derzeit bei über 2 Mrd $ im Jahr. Tendenz stark steigend. Kein Wunder wird sein Wert auf 60 bis 100 Mrd $ geschätzt. Die ETH-Z kommt neuer­dings auf tiefere Werte: zwischen 15 und 33 Mrd $. Da kann man nur sagen: Gäng sövu.

Das Sammeln unserer Daten auf Facebook ist ein Riesengeschäft. Damit «generiert» man die Werbung. Eine Reichweite von heute 800 Millionen Mitgliedern – Tendenz wiederum stark steigend – erreicht kein anderes Medium, kein anderer Mensch als Mark Zuckerberg.

Weil sein Geschäft so gut läuft, hat er letzthin etwas Neues vorgestellt, timeline – das Facebook der Zukunft. Ich kann Ihnen verraten, mit welchen Worten er die Medien­konferenz am 22. September 2011 in San Francisco eröffnet hat:

«Ihr werdet Euch verändern, euer Leben wird nicht mehr dasselbe sein.» Man glaubt zunächst, einen Spinner oder einen Sektierer vor sich zu haben. Aber diese Worte sind keine Verheissung, sondern eine Drohung. Denn mit timeline wird jede Sekunde des eigenen Lebens gleichzeitig kopiert werden. Das Leben eines Menschen wird künftig laufend und fliessend übertragen. Live-Stream nennt man das. Der Mensch wird möglichst unmittelbar nach seiner Geburt mit einem Funkmodus ausgerüstet werden. Dann wird alles aufgenommen, festgehalten, registriert: Gespräche, Kom­mentare, Schulzeugnisse, Dialoge, Voten, Diplome, Fotos, Statusangaben, Stand­ortangaben via Smartphone, Bilder, Videos, Tonaufnahmen usw. usf. In grossen Bil­dern werden major events festgehalten, was der Algorithmus als trivial definiert, kommt in die Randspalte. Spätestens hier habe ich mal nachgeschaut, ob ich da auf der mir bisher unbekannten Humorseite gelandet war. Nein. Den Artikel von Nina Pauer las ich auf der Feuilleton-Seite. Immerhin.

Die radikale Exhibition steht uns bevor. Eine zweite Realität. Oder wie es der Inter­netpionier Kevin Kelly sagte: «Je mehr wir den Computer benutzen, umso mehr wird er unser Gedächtnis und dann unsere Identität.» Was diese Entwicklung zerstören kann:

das Vergessen,

das Erinnern,

das Erzählen,

das Private

und vielleicht auch das Intime.

Und das alles beschert uns ein Medium mit dem Attribut «sozial». Dann zumal wird aus der Plattform, aus der Spielwiese ein potenziell totalitäres Instrument.

Archaische Formen des direkten Gesprächs bewahren

Das wäre der Schluss gewesen. Und jetzt möchte ich auf den Punkt kommen. Für diese desaströse Entwicklung tragen jene Behörden eine Mitverantwortung, die glauben, insbesondere Facebook geradezu als Basis für ihre Kommunikation nutzen zu müssen. Social media – das ist in diesem Kontext – ein höhnischer Etiketten­schwindel, ein Zynismus.

Demgegenüber und entgegen stehen immer noch die archaischen Formen: das Ge­spräch und die Diskussion zwischen Menschen – das sind kommunikativ die Kernbe­reiche des Sozialen und auch des Politischen.

Was bei allen Bemühungen um Professionalität in der Behördenkommunikation nicht vergessen werden darf: Das direkte Gespräch zwischen Bürger und Politikerin – die klassische Plattform – bleibt die höchste Stufe behördlicher Kommunikation. Und trotz aller sogenannten Sozialen Medien bleibt das direkte Gespräch unersetzlich.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. - Der Vortrag ist zuerst veröffentlicht worden auf der Internetseite "Hälfte/Moitié. Unabhängiger Mediendienst zur Arbeit und zur Erwerbslosigkeit"

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