Sperberauge

Die Wundertüte für Kulturbeflissene

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  «Lies keine Nachrichten, mach sie»: Wie in der NZZ Revolutionärinnen und Revolutionäre beschrieben werden.

Ältere Semester mögen sich an die wunderbaren Jahrmärkte erinnern. Sie waren für viele Familien das Ereignis des Jahres. Nicht nur der Lunapark mit Karussel und Auto-Scooter-Bahn waren die Magnete für Jung und Alt, auch die vielen Verkaufsstände mit ihren lauten billigen Jakobs! Und der ersehnte und bestverkaufte Artikel war immer die Wundertüte: eine kleine Papiertüte mit irgendwelchen Süssigkeiten drin – und dazu mit einer Überraschung, zum Beispiel mit einem ganz kleinen Plastik-Äffchen. Für damals vielleicht 50 Rappen. Man kaufte die Überraschung, man lachte darüber und war glücklich.

Auch heute gibt es noch – oder wieder – Wundertüten. Das Papier so einer heutigen Wundertüte wird zwar nicht zu einer kleinen rosaroten Tüte, aber zu einer grossen Zeitung gefalzt (und bei der Konkurrenz Tamedia bedruckt), aber der Inhalt dieser Wundertüte, die Überraschungen, werden an der Zürcher Falkenstrasse zusammengemischelt.

Diese Wundertüte heisst Feuilleton: das kleine Blättchen – pro Tag immerhin mehrere Seiten stark. Da liest man zum Beispiel am 17. März 2016 einen Artikel über Nadeschda Tolokonnikowa und deren Buch «Anleitung für eine Revolution». Titel: Das Auslachen der Mächtigen. Ueli Bernays, der Autor des Artikels, gemäss Impressum der NZZ für die Themen Pop, Jazz und Comics zuständig, kann seine Begeisterung für die 26jährige Schönheit, die mit ihrem provokativen Auftritt mit der Polit-Punkrock-Band Pussy Riot in der russisch-orthodoxen Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau weltberühmt wurde, nur schlecht verbergen.

Wörtlich: «Wenn man sich sodann vergegenwärtigt, dass Tolokonnikowa – verheiratet, Mutter einer 8-jährigen Tochter – von Anhängern als Heldin angebetet, in der russischen Öffentlichkeit oft als Verräterin verachtet und vom Putin-Regime als Verbrecherin verfolgt wird, kann man verstehen, weshalb sie ihrer facettenreich-schillernden Persönlichkeit literarisch in Form einer Collage beizukommen versuchte: «Anleitung für eine Revolution» heisst das zuerst auf Deutsch erschienene Buch, das Tolokonnikowa am Dienstag im Zürcher «Kaufleuten» vorstellte. Zweihundert kürzere Paragrafen umfasst es, die zumeist Erlebnisse der Autorin protokollieren – in einer unsentimentalen, oft auch selbstironischen Sprache. Dazwischen hat Tolokonnikowa Zitate von ihren Feinden und Freunden gestreut.
Ausserdem sind Losungen und Gebote angeführt, die zu politischem Protest anleiten. «Lies keine Nachrichten, mach sie», heisst es etwa. Oder: «Glaube nicht, fürchte nicht, bitte nicht.» Aufschlussreich ist auch dieses Statement: «Das Auslachen der Mächtigen ist eines der besten Mittel der Demokratisierung.» Dass Tolokonnikowa gerne lacht, zeigte sich auch im vollen «Kaufleuten» (dreimal hätte man den Klub füllen können, erklärte der Moderator Michael Krogerus). Die gescheite und attraktive Schriftstellerin im schwarzen, schulterfreien Overall sass, die Beine überkreuzt, in ihrem Sessel und kicherte oft über Wladimir Putin – «den Möchtegern-Superhelden, der halbnackt auf Pferden reitet und vor nichts und niemandem Angst hat, ausser vor Homosexuellen».

Fazit nach der Lektüre des ganzen Artikels: eine begeisternde, bewundernswerte junge Frau, die es wagt, gegen Putin zu motzen (darum erschien ihr Buch ja auch zuerst in deutscher Sprache…).

Ganz anders am 27. April 2016. Da schreibt René Scheu, der neue Chef des NZZ-Feuilletons, über Paul Mason, über einen anderen Polit-Star auf der Weltbühne der Bewunderten.

Wörtlich: «Paul Mason hat nach Thomas Piketty das Zeug, zum neuen Helden der Linken zu werden. Die Utopisten, Empörten und Extremisten unter den Sozialisten, die sich von den Zeitläuften unbeeindruckt weiterhin einer Theorie der revolutionären Praxis hingeben, finden in seinem neuen Opus tonnenweise Anregungen für ihre unerschütterlichen Lebensträume. Naomi Klein, eine ihrer Ikonen, hat sich bereits mit ihrem potenziellen Konkurrenten aus England solidarisiert, ebenso wie der Polit-Pop-Stalinist Slavoj Žižek. Niemand will zu spät kommen, wenn es darum geht, den neuen Anführer zu preisen. Den Vogel schoss aber zweifellos der in Cambridge lehrende David Runciman mit seinem Quote ab: «Paul Mason ist ein würdiger Nachfolger von Marx.»

«Die Sozialisierung der Wirtschaft, die Mason fordert, schreitet seit Jahrzehnten voran, oder besser: Sie hat seit siebzig Jahren nie aufgehört. Die liberalen Klassiker des 20. Jahrhunderts – von Mises über Röpke bis zu Hayek – haben die Parallelen zwischen dem planwirtschaftlichen Kommandostaat unter Kriegsbedingungen und dem modernen zentralverwaltungswirtschaftlich organisierten Sozial- und Interventionsstaat beschrieben. So viel lässt sich mit Blick auf Europa zweifelsfrei festhalten: Ein Etatismus mit Fiskalquoten um 50 Prozent in Friedenszeiten, wie sie spätestens seit den 1990er Jahren weitherum herrschen, ist in der Geschichte der Menschheit ein echtes Novum. Er garantiert eine nicht minder einzigartige kollektive Rundumversorgung von dem Moment an, in dem man das Licht der Welt erblickt, bis zum Tod. Statt von echten Eigentümern ist er – mit Mises gesprochen – von «bevorrechteten Genossen» bevölkert. Wer wie, wann und wie viel profitiert, lässt sich angesichts der Komplexität der innerstaatlichen Geldflüsse kaum eruieren. Klar ist indes, dass selbst die Privilegiertesten glauben, zu kurz gekommen zu sein – die Erregbarkeit im demokratischen Semi-Sozialismus hat nicht erst jüngst zugenommen. Diese Erregbarkeit ist es, die sich Paul Mason mit seiner Programmatik zunutze machen will.»

Ende Zitat.

Die bildhübsche, junge Revolutionärin, die gegen das System Putin kämpft, ist halt einfach sympathisch. Der nicht besonders hübsche britische Revolutionär, der gegen den europaweit überhandnehmenden Neoliberalismus kämpft, wird dagegen gleich mit dem ideologischen Bleihammer erschlagen. Zwei unterschiedliche Polit-Stars – und natürlich auch zwei unterschiedliche Be-Schreiberlinge.

Früher zahlte man 50 Rappen für eine Überraschung in einer Wundertüte. Die NZZ-Wundertüte ist etwas teurer. Aber auch hier darf gelacht werden. Und: auch in der NZZ-Wundertüte ist die Überraschung manchmal nicht viel mehr wert als damals das Plastik-Äffchen.


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