Medien_Wahl

Medien-Hype Bundesratswahl: News-«Futter» für die Live-Ticker © SRF

Düsterer Wahlabend in Peking

Peter G. Achten /  Was tun bei Feinstaub-Alarmstufe «Rot»? In der gefilterten Wohnungsluft die Bundesratswahl verfolgen – ungefiltert via Internet.

Wie ändern sich doch die Zeiten. Vor dreissig Jahren verfolgte Ihr Korrespondent als guter Auslandschweizer die Wahl des Bundesrates noch über den Schweizerischen Kurzwellendienst, der später unter dem Namen «Swiss Radio International» firmierte. Heute werden die News aus der Schweiz praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf swissinfo.ch per Internet verbreitet. Auch auf Chinesisch. Doch damals rauschte und knirschte der Kurzwellendienst im Äther. Die Bundesratswahl wurde in knappen, präzisen Worten wiedergegeben, eine kurze Einordnung inklusive.
In den Jahren 2003 und 2007, den Blocherschen Schicksalsjahren, unterwegs in Myanmar respektive in Vietnam. Dank Satelliten-Radio war die Wahl fernab jeder technischen Zivilisation direkt aus dem Bundeshaus ohne das geringste Rauschen klar und deutlich zu hören.
Und jetzt im Widmer-Schlumpfschen Schicksalsjahr das Internet. Natürlich wäre das Berner Politereignis unschwer auf Radio SRF übers Internet zu verfolgen gewesen. Als gelegentlicher SRF-Asien-Mitarbeiter wollte ich jedoch die öffentlich-rechtliche SRG nicht gratis hörend abzocken. Schliesslich bezahle ich in Peking keine Radiogebühren. Das ist eben der Vorteil: Chinesinnen und Chinesen zahlen für ihr Staatsfernsehen keine Zwangsgebühren, dafür dürfen sie sich Zwangsinhalte zu Gemüte führen. In der Schweiz hingegen gibt es – trotz Agitation mit dem Kampfausdruck «Schweizer Staatsfernsehen», verwendet auch in sogenannten Qualitätsblättern – die öffentlich-rechtliche SRG mit Gebühren, allerdings ohne vom Staat vorgegebene Zwangsinhalte.
Banalitäten im Minutentakt
Was also tun am trüben, mit Feinstaub gepuderten Pekinger Wahlabend? Ins Internet, gratis und franko, wo in den sozialen Medien und über die Live-Ticker aller Verlagshäuser von Aarau bis Zürich das vermeintlich spannende Wahlgeschehen rapportiert und kommentiert wurde. Die Live-Tickerer und Live Tickerinnen gaben sich redlich Mühe. Spannung wurde aufgebaut, herbeigeschrieben, getwittert – obwohl es zum Gähnen langweilig war. Der liebe Kollege Köppel tippte in seinen Laptop während der Verabschiedung von Widmer Schlumpf. Igitt! Nationalrat Wasserfallen machte ein Selfie im Rat. Wie originell! Ständerat Noser hatte, wie viele seiner Ratskolleginnen und Kollegen, nichts anderes zu tun, als einfältige Twitter abzusondern. Der schweizweite Stammtisch pur.
Zwei Schoggi-Kügeli auf dem Pult der Ratspräsidentin Christa Markwalder fehlten in den Live-Tickern natürlich auch nicht. Das ist Hintergrund, fürwahr. Von meinem Volksvertreter, dem ehemaligen Diplomaten Tim Guldimann, der vorgibt, die Interessen der Auslandschweizer in Bern einzubringen, kein Ton, weder auf dem Live-Ticker noch auf Twitter. Vielleicht ist das nicht einmal ein schlechtes Zeichen. Push-Meldungen erschütterten meinen iPad-Mini im Minutentakt mit Lappalien, On-dits, Trash.
Gipfeli und Chasselas
SVP-Kandidat Guy Parmelin im Hotel Bristol beim «leichten Frühstück». Parmelins Frau Caroline trifft später ein und isst ein Gipfeli. Woowh! SVP-Mitkandidat Thomas Aeschi, der «Ziehsohn Blochers», tritt locker und «gelöst» aus dem «Bären». Norman Gobbi ist auch irgendwo unterwegs ins Bundeshaus.
Die «Nacht der langen Messer» muss natürlich auch in den Ticker. Ein hyperventilierender Live-Tickerer berichtet vom Auftritt des vermuteten SVP-Sprengkandidaten Hurter aus Schaffhausen in der «Bellevue»-Bar. Überall, wo zwei oder mehrere Parlamentarier in dieser Nacht in einer Beiz einen oder auch mehrere Zweier und Halbe kippen, brodelte auf dem Netz der Netze neue Grüchte. Hat jener FDP-Nationalrat nicht gerade einen halben Chasselas bestellt? Ein klares Indiz, dass Chasselas-Weinbauer Guy Parmelins Aktien steigen.
Mittelmass oder Streber?
Wie ich den Schweizer Qualitätsblättern schon vor der Wahl entnehmen konnte, ist der Waadtländer Weinbauer Parmelin «mittelmässig, langweilig, uninspiriert, geerdet, unauffällig, freundlich, kollegial, gesellig, ein Rätsel». Seine mangelnden Fremdsprachenkenntnisse kann man Parmelin nicht vorwerfen, schliesslich spricht Aussenminister Didier Burkhalter ja auch nicht Chinesisch, oder? Schön brachte es die Tageszeitung «Le Temps» auf den Punkt. Bei der Anhörung vor den Fraktionen soll Parmelin gesagt haben: «I can English unterstand, but je préfère répondre en français pour être plus précis.»
Der Zuger Thomas Aeschi hingegen ist zwar «kompetent, weltoffen, mehrsprachig», aber eben auch ein Streber und – dies vor allem – eine Kreatur von SVP-Übervater Blocher. Norman Gobbi ist zwar ein kompetenter, erfolgreicher Tessiner Staatsrat, aber den «Neger» kann ihm niemand verzeihen, vor allem SP-Parteipräsident Christian Levrat nicht. Parmelin ist für die linken Genossen, die ja im Gegensatz zu den chinesischen Genossen den Kapitalismus abschaffen wollen, das «geringere Übel» des SVP-Dreiertickets.
Die Live-Tickerer winden sich bei der Wiederwahl der sechs Amtsinhaber. Keinerlei Spannung. Gott sei Dank gibt es Twitter und Facebook, wo jeder seinen Senf dazugeben kann. Dann, endlich: die Wahl. Aber Parmelin legt zur Enttäuschung der aufgeregten Online-Journalisten gleich im ersten Wahlgang mächtig vor und macht bereits im dritten Wahlgang «den Sack zu». «Bescheiden geniesst Parmelin den Sieg», lässt uns ergriffen ein Live-Tickerer wissen.
Showtime statt Qualitätsjournalismus
Am Tag danach, mittlerweile ist Peking mit einem Feinstaubwert von 12 wieder ein veritabler Luftkurort, Nachlese in den Schweizer Zeitungen. «Die Vernunft obsiegt», betitelt NZZ-Inlandchef Zeller seinen Kommentar und fügt hinzu: «Der Wahltag ist erfreulich unspektakulär verlaufen – und das ist gut so. Im Bundeshaus ist der Courant normal eingekehrt.» Andere Kommentatoren bescheinigen der SVP eine «glänzende Wahltaktik» und stellen fest, dass die SP «brav vom SVP-Ticket» gewählt habe.
Die Bundesratswahl war jedenfalls nicht die grosse Stunde des Qualitätsjournalismus. Nicht nur im Internet sondern – wenn man die Wahlen vom Oktober zum Massstab nimmt – auch im Radio und Fernsehen. Politische Events verkommen immer mehr zur Castingshow, zur Unterhaltung, selbst dann, wenn die Akteure, zum Beispiel Parteipräsidenten, immer und immer wieder mehr oder weniger eloquent gegenüber handzahmen Journalistinnen und Journalisten das ewig Gleiche wiederholen. Künstlich wird Spannung erzeugt, als ob Wahlen eine Sportveranstaltung wären. Aber eben: Klicks und Einschaltquoten müssen her. Und zwar subito, hier und jetzt! Auf Teufel komm raus, und da scheint heute offensichtlich jedes Mittel recht. Mit Demokratie, Transparenz oder Offenheit hat das wenig, mit Showtime aber sehr viel zu tun.
«Ihr Glücklichen habt die Wahl»
Wie aber erkläre ich meinen chinesischen Journalisten-Freunden die in Bern nun eingezogene arithmetische Konkordanz? Wie die Unterschiede zwischen FDP, SP, der SVP, den Grünen etc.? Wie die direkte Demokratie der Schweiz? Dass der Bauer Toni Brunner, der Winzer Guy Parmelin und der Selfmade-Milliardär Blocher in der selben Partei sind, hat jedenfalls erstaunt und wird als Ausdruck echter Demokratie verstanden.
Ein langjähriger Journalisten-Kollege – tätig in leitender Stellung in einem Parteimedium – hat höchste Achtung für die Demokratie im Allgemeinen und für die Schweizer Variante im Besonderen. In der Schweiz werde der siebenköpfige Bundesrat von unten nach oben auserkoren, in China dagegen der ebenfalls siebenköpfige «Ständige Ausschuss des Politbüros» von oben nach unten aufgezwungen. Den sympathischen, obzwar leicht hinkenden Vergleich ergänzt der Journalist, der natürlich nicht namentlich zitiert werden will, mit der Bemerkung, dass auch China «vielleicht in dreissig, vierzig Jahren» unter der Führung der Partei aufgrund der eigenen Geschichte zu mehr Transparenz und innenpolitischer Offenheit finden werde. «Ihr Glücklichen aber», sagte er, «habt die Wahl. Nützt das aus.»
Besonders beeindruckt hat meine chinesischen Freunde, dass sich die scheidende Bundesrätin Widmer-Schlumpf in vier Landessprachen verabschiedet hat. Noch mehr allerdings waren sie vom Inhalt der Rede angetan, nämlich: Teilung der Macht als Schutz gegen Willkür. Und der Weg der Schweiz bestehe darin, einander zuzuhören, andere Meinungen und Minderheiten zu respektieren und schliesslich Kompromisse zu suchen. – Vielleicht hat das jetzt auch die SVP begriffen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.

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