Sprachlupe: «Kein Grund zur Panik» – oder zu angemessener

Daniel Goldstein /  Gibt’s je Grund zur Panik? Kaum, sonst müsste man dann zur Panik raten. Ist aber eine Panik da, findet sich auch ein Grund dafür.

«Es gibt nach wie vor keinen Grund zur Panik.» Diese Einschätzung veröffentlichte das österreichische Gesundheitsministerium am 22. Februar «nach dem Ausbruch des Corona-Virus in Norditalien». Seither stellt sich die bange Frage, wie weit das Virus um sich greifen muss, bis es eben einen Grund zur Panik bedeutet. Zwar gibt es da viel wichtigere Probleme als die sprachlichen, aber «kein Grund zur Panik» ist auch ohne Virengefahr eine Redewendung, die es in sich hat.
Wer sie verwendet, will beruhigen, malt aber zugleich den Teufel an die Wand. Ohne «kein» kommt «Grund zur Panik» kaum je vor, aber irgendwo, irgendwann muss es ihn ja geben – sonst müsste man nicht beteuern, gerade hier und jetzt sei das keineswegs der Fall. Bricht irgendwo tatsächlich eine Panik aus, so kennt man in der Regel zumindest hinterher den Grund – also den Auslöser der «übermächtigen Angst, die das Denken lähmt und zu kopflosen Reaktionen führt» («Panik» gemäss duden.de).

Zur Panik einladen?

Einen Grund im Sinn von Begründung aber sucht niemand, bevor er in Panik ausbricht. Doch gerade zu besonnenem Abwägen ruft auf, wer einer Gefahrenlage abspricht, «Grund zur Panik» zu sein. Das Umgekehrte ist schwer vorstellbar: dass jemand unter Nennung des Grundes zur Panik aufruft. Der Schrei «Feuer» in einer Menschenmenge kann zwar wie so ein Aufruf wirken; er ist aber selber schon ein Symptom der Panik. Keine Behörde indes wird – eben etwa bei einer Seuche – der Bevölkerung mitteilen, jetzt sei Panik angebracht, weil wohlbegründet.
«Kein Grund zur Panik» ist also, beim Wort genommen, keine besonders geeignete Beschwichtigungsformel. Die Redensart ist aber so gut etabliert, dass sie richtig verstanden wird: als Aufruf, Ruhe zu bewahren. Wer dem Absender vertraut, wird sich überzeugen lassen, und wer ihm misstraut, wird beunruhigt bleiben – dies aber wegen der drohenden Gefahr, nicht wegen der dubiosen Formulierung. Übrigens ist auch «drohende Gefahr» ein seltsamer Ausdruck: Was droht, ist Unheil – und just darin besteht die Gefahr. Die ist schon da, sie droht nicht nur.
Bei Redewendungen ist es oft so, dass man sie nicht auf die Goldwaage legen darf. Ein «weltbewegendes Ereignis» hat – wenn kein Asteroid einschlägt – keinen Einfluss auf die astronomische Bahn des Planeten, sondern nur auf viele, die ihn bewohnen. Werden «im schwimmenden Fett» Kartoffelschnitze gebraten, dann schwimmen sie und nicht das Fett. Dass die «stehende Ovation» nicht selber steht, versteht sich von selbst.

Dank Panik gerettet

Dass es aber doch «Grund zur Panik» geben kann, habe ich neulich aus einer Buchbesprechung erfahren. Es ging um Antje Joels «Prügel: Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt». Darin steht: «Während einer akuten Attacke wusste ich, wie gefährlich P. war. Ich war in einer angemessenen Panik. Oft in Todesangst. Ich reagierte entsprechend. Ich rief die Polizei. Ich floh zu meinen Eltern. Ich vertraute mich Kolleginnen an, ich saß zweimal mit meinen Verletzungen Ärzten gegenüber. Mit der physischen und zeitlichen Distanz schwanden meine Panik und mein Bewusstsein für die Gefahr, in der ich mich befand.» Mit dem Resultat, dass die Misshandelte «ja doch immer wieder zu ihm zurückging» und beim nächsten Mal mit ihren Klagen nicht mehr ernst genommen wurde.
«Angemessene Panik» – darauf muss man erst einmal kommen. In «Prügel» sieht sie so aus, dass höchste Angst gar keine schlechte Ratgeberin ist: fliehen und Schutz suchen. Dagegen bringt gerade das Abklingen der Panik die Ich-Erzählerin erneut in Gefahr. Allerdings ist ihre «angemessene» Panik keine solche im vollen Wortsinn, denn ihre Fluchten und Hilferufe sind keine «kopflose Reaktion». Und so könnte es denn sein, dass das Corona-Virus eben doch Grund zur Panik bietet: zur angemessenen Panik mit Reaktionen, die keinesfalls kopflos sind, aber so drastisch, dass man im Normalzustand nicht dazu bereit wäre.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war Redaktor beim «Sprachspiegel» und zuvor beim Berner «Bund». Dort schreibt er die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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