Sprachlupe: Von Viren und von Sprachregeln verunsichert

Daniel Goldstein /  Bei Ungewissheit hält man sich gern an (vermeintliche) Regeln. Man sollte die so gewonnene Gewissheit aber nicht andern aufdrängen.

Mit Gewissheiten zu leben, fällt leichter, als mit Ungewissheiten. Das ist in diesen Corona-Zeiten besonders bitter, denn die Ungewissheiten lasten hartnäckig auf der Gesellschaft. Nur nicht auf Leuten, die sich stattdessen auf vermeintliche Gewissheiten stürzen und stützen – und dann besserwisserisch und rechthaberisch über jene herfallen, die sich anders verhalten. Dabei hätte es längst ein Übungsfeld für den Umgang mit Ungewissheiten gegeben: die Sprache. Da entscheiden wir laufend Fragen wie die, ob das Gegenüber mit «Wecken» jetzt ein Brötchen oder das Abbrechen des Schlafs gemeint habe.
Meistens ist das im Zusammenhang so klar, dass sich keine Gelegenheit zur Besserwisserei ergibt. Aber wehe, man kann einer Mehrdeutigkeit eine – gültige oder vermeintliche – Regel entgegenhalten: Dann finden sich immer Leute, die das genüsslich tun. Ob es dieselben sind, die jetzt auch das Virus (oder gar dessen Nichtexistenz) besser kennen als noch so sachkundige andere, weiss ich nicht. Aber sie verhalten sich oft ganz ähnlich, besserwisserisch und rechthaberisch eben. Besonders dann, wenn sie wieder einmal einen Beleg dafür gefunden haben wollen, wie unsinnig die Orthografiereform doch gewesen sei.
Was Mama im Stillen denkt
Sie jammern dann zum Beispiel darüber, dass sie nicht mehr am Grossbuchstaben erkennen können, ob sich eine Mutter «im Stillen» oder «im stillen» Sorgen um die Zukunft ihres Kindes macht. Heute steckt in der geänderten Rechtschreibung eine Ungewissheit, denn selbst falls die Mutter nicht gerade am Stillen ihres Bébés ist, macht sie sich ihre Gedanken «im Stillen», wenn sie diese nicht mit jemandem teilt. Am andern Ende des Verdauungstrakts finden es manche lustig, dass «er machte halt» immer noch zweideutig ist: Es kann, jedenfalls in der Schweiz, auch bedeuten: «Er erleichterte sich eben.» Heute ist die für einen Stopp eindeutige Grossschreibung ebenfalls zulässig: «Er machte Halt.» Der Duden empfiehlt aber die gewohnte Kleinschreibung aufgrund des Verbs «haltmachen».
Andere Regeln, jenseits der Rechtschreibung, wurden manchen noch in der Schule eingetrichtert, doch ist der allgemeine Sprachgebrauch darüber hinweggegangen. Darauf zu beharren, Temperaturen könnten nur niedrig sein, nicht aber tief (wie etwa ein Graben), bringt wenig; die Gefahr eines Missverständnisses ist gering. Wo indes die Wortwahl für eine Unterscheidung wichtig ist, bedaure ich die zunehmende Verwischung. Bei «anscheinend» (dem Anschein nach) und «scheinbar» (nur zum Schein) kann man sich nicht mehr darauf verlassen, richtig verstanden zu werden. Auch «mitunter» ist kein sicherer Wert mehr: Statt für «ab und zu» wird das Wort so oft für «unter anderem» verwendet, dass die Deutung mitunter Glückssache ist.
Wo Mama auch dabei ist
Gewichtiger als solche Details ist die Frage des «generischen Maskulinums» – also des Umstands, dass im Deutschen die meisten Sammel- oder Funktionsbezeichnungen grammatikalisch männlich sind. «Die Schweiz zählt 8,6 Millionen Einwohner» – wer das liest, wird kaum meinen, so viele seien männlichen Geschlechts. Und doch lesen oder hören wir häufig «Einwohner und Einwohnerinnen». So wird uns auf Schritt und Tritt mitgeteilt, dass es Frauen gibt. Zweifelsfrei inbegriffen wären sie auch, wenn es hiesse, im Land lebten «8,6 Millionen Menschen». Diese Variante wäre eleganter, ist aber ebenso wenig vorzuschreiben oder zu verbieten wie eine der anderen.
Die Verbissenheit, mit der manche die paritätische Geschlechternennung verlangen oder aber bekämpfen, trägt nur zur Verhärtung bei, hilft aber weder den Frauen noch der Sprachkultur. Wenn man sich hier – und erst recht bei kleineren sprachlichen Reibungsflächen – Gelassenheit angewöhnt, dann kann man vielleicht auch besser mit anderen Ungewissheiten umgehen und zum Beispiel trotz Meinungsverschiedenheiten über die Covid-Pandemie die angeordneten Massnahmen einhalten.

— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war Redaktor beim «Sprachspiegel» und zuvor beim Berner «Bund». Dort schreibt er die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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9 Meinungen

  • am 3.10.2020 um 12:07 Uhr
    Permalink

    Herr Goldstein, und was denken Sie über die immer stärker werdenden englischen Ausdrücke die sich in unsere Sprache breit machen ? Meiner Meinung ist das sehr traurig und kontraproduktiv für unsere Gemeinschaft, alles wird (weil es vermutlich modern aussieht oder man fühlt sich weltoffen) immer stärker mit diesen sprachfremden und quasi als grafisches Denksport-Modell beinahe überall verwendet, sei es beim Fernsehen (Lockdown) sei es bei den Drucksachen (Zeitungen, Prospekte usw.), hier müsste Einhalt geboten werden. Ich finde es müssig alles auf die Seite des Computers bezogene Sprache zu schieben. Ist meine Meinung, wenn ich zurück denke und das Buch von Walter Heuer vor mich nehme, kommt mir das K******.

  • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
    am 3.10.2020 um 17:25 Uhr
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    Lieber Herr Schorno-Weber, wenn Sie oben im Suchfenster «angliz*» eingeben (ohne Anführungszeichen), finden Sie allerhand Antworten.

  • am 5.10.2020 um 16:05 Uhr
    Permalink

    @ D. Goldstein:
    Lieber Herr Goldstein, können Sie ein Beispiel geben, das den Unterschied zwischen «anscheinend» (dem Anschein nach) und «scheinbar» (nur zum Schein) anschaulich und verständlich macht? Besten Dank!

    @ A. Schorno-Weber:
    Ganz Ihrer Meinung bez. Anglizismen in der deutschen Sprache.
    Eben bekomme ich von der SBB die Mitteilung, dass ich meine Gift Card auch nachts am Billettautomaten aufladen kann. Falls ich nicht bis zum nächsten Morgen warten kann, um die Schwiegermutter zu vergiften… 🙂

  • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
    am 5.10.2020 um 22:10 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Fröhlich, anscheinend habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, aber Herr Schorno-Weber liefert ein schönes Beispiel: Scheinbar will er seine Schwiegermutter vergiften.

  • am 9.10.2020 um 14:31 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für diesen wohltuenden Text: eine eindeutig zweideutende Wortanalyse der Sprachreform.
    Endlich mal einer, der nicht nur plappert, sondern auch weiss, wovon er redet.
    Ich schreibe eindeutig-zweideutig und doppeldeutig, das erhöht das Komplikationsniveau.
    Das Problem ist nur, dass Teile eine ganz andere Bedeutung ergeben und zu Trugschlüssen führen, was dann zu Komentaren führt, die gar nichts mit dem Problem zu tun haben, sondern nur auf Fragmenten basieren, was in einer eindeutigen Wahrnehmung eindeutig auf widersprechen hinausläuft. Man kann sich nicht mehr vorstellen, dass die andere Meinung auch richtig sein kann, und nicht «könnte», weil «könnte» der doppelte Konjunktiv wäre und eine These nicht berücksichtigt, dass sich im Prinzip zwei Antithesen gegenüberstehen, ohne dass es eine These gibt.
    Als Beispiel: «Nach dem Schild «Ende Hauptstrasse» herrscht Rechtsvortritt. Dank diesem Satz weiss niemand, dass dieses Schild nicht den Vortritt regelt, sondern die Vorfahrt. Um genau zu sein, die Vorfahrt auf einer Kreuzung Hauptstrasse-Hauptstrasse. Ich fahre von einer Hauptstrasse in eine Hauptstrasseund habe nach der Kreuzung wieder die Vorfahrt, Ihr nennt dieses Schild Hauptstrasse, es ist aber eine Vorfahrtstrasse an der dieses Schild steht. Weil Hauptstrassen sind keine Strassen, die Hauptstrasse ist ein Netz, welches jeden Punkt mit jedem Punkt verbindet, ohne dass man das Netz verlassen muss. Das war der Sinn der Hauptstrasse, bevor es Autobahnen gab.

  • am 10.10.2020 um 11:24 Uhr
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    @ Herr Goldstein
    ich muss Sie auf einen Überlegungsfehler hinweisen in Ihrer Antwort vom5.10 16:05 haben Sie die Worte scheinbar und anscheinend vertauscht.
    Um keine Antithesen ohne These zu haben, muss Ihre Antwort heissen: «Lieber Herr Fröhlich, scheinbar habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, anscheinend will er seine Schwiegermutter vergiften.
    Wir haben alle einen Achtel Fehler in der Wahrnehmung, welche solche «Verdreher» produzieren.
    Sie unterstellen mit Ihrer Aussage, dass Hr Schorno-Weber seine Schwiegermutter vergiften will, statt Herrn Fröhlich darauf hinzuweisen, dass er Ihren Text nicht verstanden hat.
    Auch ich musste alle drei Kommentare dreimal lesen, bis mir diese Verdrehung auffiel.
    Beide Aussagen ergeben einen Sinn, aber leider nicht den Gleichen. Aber Ihre Antithese sucht den Fehler bei Ihnen als Schreiber, statt an der Begriffsfähigkeit des Lesers, was dazu führt, dass der Leser nun davon ausgeht, dass der Hr Schorno-Weber ein Mörder sein könnte, statt seine Wahrnehmung in Frage zu stellen.
    Scheinbar ist Antithese, anscheinend ist eine These.

  • am 10.10.2020 um 11:34 Uhr
    Permalink

    Bitte das Datum in meinem Kommentar korrigieren. Mein Text bezieht sich auf die Aussage von Hr Goldstein vom 5.10. 22:10 und nicht die Aussage von Herr Fröhlich
    Danke

  • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
    am 10.10.2020 um 22:36 Uhr
    Permalink

    Die Erklärung von Herrn Wyss, wonach «anscheinend» eine These, «scheinbar» aber eine Antithese einleite, ist hilfreich, um den Unterschied zu verstehen. Aber sie ist in diesem Fall etwas irreführend, denn in meinem Beispiel beziehen sich die beiden Aussagen nicht aufs gleiche Thema. Aus Herrn Fröhlichs Bitte um ein Beispiel hatte ich abgeleitet, dass meine vorherige Erklärung ihm nicht genügte, und mit «anscheinend» die These aufgestellt, die Erklärung sei zu wenig klar gewesen. Über die Stichhaltigkeit dieser These ist damit noch nichts gesagt. Hätte ich hier «scheinbar» geschrieben, so wäre das etwas anmassend gewesen, denn damit hätte ich impliziert, die Erklärung habe (für verständige Leute) durchaus genügt.
    "Scheinbar» ist insofern antithetisch, als es (implizit oder explizit) ein Dementi einschliesst: «Aber der Schein trügt.» In Bezug auf Herrn Schorno-Webers Mordansicht wagte ich just dieses Dementi, da ich darauf vertraute, sein Wortspiel mit «Gift» sei scherzhaft gemeint gewesen, nicht etwa als Verschleierungsmanöver für einen durchaus bestehenden Mordplan. Letzteren unterstelle ich ihm gerade nicht, denn in meinen Augen deuten seine Worte eben nur scheinbar auf eine solche Absicht. Hätte ich hier «anscheinend» geschrieben, so hätte ich formal offengelassen, wie ernst er es mit dem Vergiften meine; so etwas wie eine Schuldsvermutung hätte ich aber wohl bei den meisten Lesern doch geweckt.

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