Boillat

Pierre Boillat war während dreissig Jahren an vorderster Front der Gesundheitspolitik © CSS, Christian Lanz

Pierre Boillat kritisiert Santésuisse, SP und SVP

upg /  «Die SP will die Gesundheitskosten steigen lassen, damit eine Einheitskasse bessere Chancen hat», sagt der Gesundheitspolitiker.

Pierre Boillat ist seit dreissig Jahren ein Exponent des Schweizer Gesundheitswesens: Als CVP-Regierungsrat und längjähriger Gesundheitsdirektor des Kantons Jura, als Verwaltungsrat der Suva und der Krankenkasse CSS. Seine Bilanz, die er im Interview zieht, ist ernüchternd.

Herr Boillat, was ist heute im Gesundheitswesen anders als vor dreissig Jahren?

Man war damals toleranter und kompromissbereiter. Heute sind die verschiedenen Interessengruppen viel verkrampfter. Was im Parlament läuft ist typisch: Wir erleben einen Schiffbruch nach dem andern.

Erhöht das politische Patt im Parlament den Druck auf die Kassen?

Ganz sicher. Je stärker die Kosten steigen, desto mehr geraten die Kassen in die Kritik, obwohl sie gegen die steigenden Kosten fast nichts unternehmen können. Ich war sehr erstaunt und enttäuscht, dass SP und SVP das moderate kleine Sparpaket mit dem Verbot von Maklerprovisionen (für das Abwerben von Versicherten) kürzlich bachab geschickt haben. Offensichtlich will die SP die Gesundheitskosten weiter steigen lassen, damit ihre Einheitskasse bessere Chancen hat. Die Motive der SVP sind undurchsichtiger. Einige SVP-Parlamentarier sind auch Kassen-Vertreter. Für mich ist es ein Skandal, dass Bundesratsparteien, die das Wohl der Bürgerinnen und Bürger im Auge halten sollten, diese Vorschläge abgelehnt haben.

Eine Einheitskasse wird auch mit dem Argument gefordert, dass es heute zwischen den Kassen gar keinen richtigen Wettbewerb gibt.

Um den Wettbewerb zu fördern, verlangen die Kassen schon lange, dass sie bei Spitälern und Ärzten die Leistungen der Grundversicherung frei einkaufen können. Für mich ist die Vertragsfreiheit eine wesentliche Voraussetzung, um langfristig ein zahlbares Gesundheitssystem zu ermöglichen. In diese Richtung müssen wir ausbrechen aus der heute unbefriedigenden Situation, und nicht in Richtung Einheitskasse und Staatsmedizin.

Bei den Kassen scheint die Vertragsfreiheit jedoch keine grosse Priorität mehr zu haben, seit die Ärzteschaft mit einem Referendum dagegen drohte.

Wahrscheinlich müssten Santésuisse und die Kassen etwas mutiger sein und offensiver kommunizieren. Sie operieren zu stark aus der Defensive.

Warum hat die Vertragsfreiheit vorläufig keine Chance?

Ich muss hier ganz offen sprechen: Die Reputation der Krankenkassen ist bei vielen Versicherten angeschlagen. Früher herrschte eine Art Vertrauensverhältnis. Noch vor zehn Jahren mussten die Kassen nicht als Feindbild herhalten. Heute ist das Klima konfrontativ. Manche Gesundheitsdirektoren sollten bei den Spitälern eine Strukturbereinigung vornehmen. Stattdessen wälzen manche Kantone Kosten auf die Kassen ab. Dann schwärzen sie die Kassen erst noch an, um einen Sündenbock zu haben und von ihrer Passivität abzulenken. Erst kürzlich habe ich einem Gesundheitsdirektor zugehört, der fast nur gegen die Kassen wetterte. Einige Kantone verlangen sogar eine Einheits-Krankenkasse, um von Problemen abzulenken, die sie nicht gelöst haben. Das gab es früher nicht.

Und die Haltung der Ärzte?

Vor dreissig Jahren gab es noch halb so viele Ärzte pro Einwohner. Alle verdienten genug. Heute, wo es doppelt so viele gibt, verhalten sie sich mehr gewerkschaftlich als liberal. Es ist bezeichnend, dass FMH-Präsident Jacques de Haller für die SP in den Nationalrat will: Er geht zu den Sozialdemokraten, die für eine staatliche Medizin eintreten.

Die Ärzteschaft war schon immer dafür, dass der Staat die Kassen zwingt, sämtliche Ärzte unter Vertrag zu nehmen. Das garantiert auch schlechten Ärzten ein gutes Einkommen.

Das erlebe ich anders. In der deutschen Schweiz kenne ich viele Ärzte, welche nichts gegen eine Vertragsfreiheit hätten.

Haben sich die Kassen für ihren Image-Schwund nicht auch selber an der Nase zu nehmen?

Doch, das muss ich leider zugeben. Die «Jagd auf gute Risiken» schadet uns enorm. Gesunde Menschen, die wenig kosten, lockt man in Billigkassen. Es gibt zwar einen Risikoausgleich unter den Kassen, aber dieser ist völlig ungenügend. Leider hat unsere Dachorganisation Santésuisse ihre Führungsrolle nicht wahrgenommen und keinen besseren Risikoausgleich durchgesetzt. Wir können uns solche Defizite und eine schlechte Kommunikation nicht mehr leisten, denn es geht um die Existenz der Kassen, wenn eine Einheitskasse zur Abstimmung kommt. Vor diesem Hintergrund kam auch der Verzicht auf das fragwürdige Telefonmarketing reichlich spät.

Was meinen Sie im Rückblick: War es richtig, dass die Kassen mit den Ärzten Tarife aushandelten, die den Ärzten erlauben, ihre Einkommen mit mehr und häufig unnötigen Einzelleistungen zu optimieren?

Es bestand damals ein allgemeiner Konsens darüber. Andere Honorarsysteme wie in Skandinavien waren wenig bekannt. Aber tatsächlich gibt es bessere Systeme, die in erster Linie auf Kopfpauschalen beruhen. Heute fördern die Kassen Gruppenpraxen, welche solche Pauschalen kennen. Ich unterstütze solche Gruppenpraxen sehr.

Santésuisse weckt oft den Eindruck, nicht an vorderster Front für die Interessen der Prämienzahler zu kämpfen. Sie einigt sich hinter den Kulissen mit Ärzten, Spitälern oder der Pharmabranche auf undurchsichtige Kompromisse.

Es wäre tatsächlich besser, den Leistungserbringern nicht schon drei Schritte entgegen zu kommen, bevor ein Kompromiss gefunden wird. Die Kassen sollten ausschliesslich die Interessen ihrer Mitglieder im Auge haben.

Sie haben sich stets für das Vergleichen der Qualität von Behandlungsergebnissen eingesetzt, doch die Opposition von Spitälern und Ärzten war offensichtlich zu gross. Warum haben die Kassen noch kein eigenes Rating eingeführt?

Das ist eine gute Frage. Mit Umfragen bei den Kassenmitgliedern wäre das möglich. Dagegen sprach vielleicht die Angst vor dem Datenschutz und vor der Reaktion von Spitälern und Ärzten. Interessanterweise spielt der Datenschutz bei der Suva keine Rolle.

Die Suva kennt die vollständigen Patientendossiers…

…und sie unterliegt auch nicht dem Vertragszwang. Die Suva kann unzweckmässige Behandlungen stoppen und einzelne Ärzte und Spitäler ausschliessen. Diese Vertragsfreiheit hat die generös bezahlten Gewerkschaftsvertreter im Suva-Verwaltungsrat nie gestört, den Kassen wollen sie diese Freiheit jedoch nicht gewähren.

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Dieses Interview erscheint auch im CSS-Magazin


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