Wolfsbildbreit

Eine Begegnung mit dem Wolf ist äusserst selten und bleibt friedlich. © Peter A. Dettling

Erhellende Lektüre zum Wolf, seinen Freunden und seinen Hassern

Beatrix Mühlethaler /  Der Mythos vom bösen Wolf richtet mehr Schaden an als das Tier selber. Das Buch "Wolfsodyssee" bringt uns seinem Wesen näher.

Im Wolf personifiziert sich das Böse. Dieses Bild vermittelt nicht nur das Märchen vom Rotkäppchen. Der Mensch hat dieses Tier seit Jahrhunderten verfolgt und über weite Landstriche ausgerottet. Seit der Wolf aus einer überlebenden Population von Italien erneut in die Schweiz eingewandert ist, wird die Saga des Bösen wiederholt und zur zweiten Ausrottung aufgerufen: Nach regionalen Zusammenschlüssen haben Bauern, Jäger und andere Besorgte 2015 den Verein «Lebensraum Schweiz ohne Grossraubtiere» gegründet. Die Mitglieder sehen die Existenz des Menschen in den Alpen gefährdet und wollen mit der Eliminierung der Grossraubtiere dafür sorgen, dass der besiedelbare Teil der Alpen als Kulturraum für Mensch und Nutztier erhalten bleibt.

Als Hauptfeinde der alpinen Zivilisation müssen somit Wolf, Bär und Luchs herhalten. Dabei richtet sich der Blick auf Schafrisse sowie auf einzelne Raubtiere, die in der Nähe von Siedlungen gesehen wurden. Alle anderen Gefahren für das Leben des Menschen und seiner Nutztiere bleiben ausgeblendet, zum Beispiel der tausendfache Tod von (unbehüteten) Schafen infolge von Krankheiten und Abstürzen.

Jagdgesetz folgt dem Rufmord

Die Kampagne der vorwiegend männlichen Verängstigten bewegt auch die Politik. Nach vielen Vorstössen, die verlangten, den Schutz des Wolfs zu lockern, hat das eidgenössische Parlament dieses Anliegen mit einer Revision des Jagdgesetzes erfüllt. Das revidierte Gesetz regelt die Verfahren für bewilligte Abschüsse neu, sodass Wölfe noch leichter als heute für problematisch erklärt und geschossen werden können. Ausserdem könnten mit einer blossen Änderung der Vollzugsverordnung jederzeit weitere erklärte Bösewichte in die Schusslinie geraten: Luchs, Biber, Graureiher und weitere Tiere, die unsere zivilisatorischen Errungenschaften herausfordern.

Am 27. September wird das Volk über diese Revision abstimmen, weil die Umweltorganisationen das Referendum ergriffen haben. Doch wer weiss schon Genaueres über diese Tiere und ihre Verhaltensweisen? Insbesondere dem Wolf begegnet die Gesellschaft nur in Schlagzeilen, die ihn als blutrünstigen Schafjäger darstellen. Jetzt bietet das Buch «Wolfsodyssee» des Fotografen, Filmers und Malers Peter A. Dettling eine einmalige Gelegenheit, den Wolf von einer anderen Seite kennenzulernen. Vor 16 Jahren ist der Autor der Faszination dieses Tiers erlegen. Der aus dem bündnerischen Sedrun stammende Naturfreund hat die Tiere in der Wildnis aufgespürt, in Kanada, den USA und schliesslich in der Schweiz, wohin 1995 der erste Wolf zurückgekehrt ist.

Ein anderes Bild vom Wolf

Mit unglaublicher Ausdauer sass Dettling in Verstecken und ging abgelegene Pfade, um Wölfe beobachten zu können, ihre Verhaltensweisen zu studieren und im Bild festzuhalten. Dadurch hat er – oft im Austausch mit anderen Wildtierforschern – ein klareres Bild gewonnen, als dies aufgrund von Beobachtungen in Wildparks möglich ist.

Das Buch lässt uns an diesen Beobachtungen teilhaben und vermittelt uns ganze Familiengeschichten. Denn Wölfe sind soziale Tiere. Sie leben wie viele Menschen in einem engen Familienverband. Dabei berührt, wie die Elterntiere unter Mithilfe älterer Geschwister die Welpen umsorgen. Und es macht betroffen, wenn von einer Familie ein Mitglied nach dem anderen auf der Autobahn, unter dem Zug oder durch Kugeln und Fallen von Wilderern ums Leben kommt.

Diese Wölfin im kanadischen Banff-Nationalpark wurde nicht alt. Sie erlag einem Auto. Bild: Peter A. Dettling

Dettling hat auf diese Weise ganze Rudel verschwinden sehen. In allen Wolfsgebieten, sogar in den Nationalparks Banff in Kanada und Yellowstone in den USA sind Wölfe nicht sicher. In der Schweiz sei der Wolfsbestand wegen menschlicher Eingriffe äusserst langsam gewachsen, schreibt Dettling. 45 Wölfe habe man in den vergangenen 25 Jahren tot aufgefunden, wobei nur fünf eines natürlichen Todes gestorben seien. Die übrigen wurden legal oder illegal abgeschossen oder fielen dem Verkehr zum Opfer.

Risse der Wölfe sind marginal

Klar, die Wölfe brauchen zum Leben vorwiegend Fleisch und bringen somit andere Tiere zu Tode. Auch darauf geht der Autor ein und rechnet vor: Würden in der Schweiz 20 Wolfsfamilien leben, was von den Lebensräumen her möglich wäre, müssten für ihre Ernährung etwa 5300 Huftiere sterben.
Zum Vergleich: In der Schweiz leben heute 270 000 Rehe, Hirsche und Gämsen. Von diesen Huftieren kommen jährlich 65 000 durch die Jagd zu Tode, Tausende zusätzlich durch den Verkehr. Ähnlich ist die Bilanz bei den Nutztieren: Bei einem Bestand von 210 000 Schafen reissen Wölfe pro Jahr deren 200 bis 300. Durch Krankheit, Blitz- und Steinschlag hingegen sterben über 4000 Schafe. Und alle übrigen enden irgendwann im Schlachthof

Ein Kapitel widmet Dettling speziell der Kampagne gegen den Wolf in der Schweiz. «Diese Tiere haben einfach keinen Platz in der Schweiz», ist ein oft vorgebrachtes Argument gegen die Grossraubtiere. Nun, die Tiere selbst zeigen mit ihrer Zuwanderung und Niederlassung, dass sie es trotz angeblichem Platzmangel bei uns wohnlich finden. Ehrlicher wäre es also zu sagen: Wir wollen diese Tiere einfach nicht bei uns haben.

Verfehlter Aktivismus

Wie aggressiv Wolfshasser ihr Ziel verfolgen, hat Dettling persönlich mitbekommen. Und er hat beobachtet, wie Behörden und Politiker dem Druck nachgeben. So wurden auch Abschüsse junger Rudelwölfe bewilligt mit der Argumentation, man müsse den Tieren die Scheu vor dem Menschen einimpfen. Dettling weist nach, dass diese tödliche Aktion ein Scheinproblem bekämpft. Denn Wölfe geraten allenfalls auf einem Wildwechsel nahe an Siedlungen, weichen aber jedem Menschen aus, weil sie eine natürliche Scheu vor ihm haben. Zudem verfehlen Abschüsse nach Erfahrung Dettlings auch ihr anderes erklärtes Ziel, nämlich Wolfsgegner zu beruhigen.

Bei der Angstmache vor dem bösen Wolf wirken bisweilen auch die Medien mit. Dettling zitiert Schlagzeilen wie «Massaker im Freiburgischen – ein Wolf auf der Pirsch reisst einen Hirsch». Oder: «Jetzt fressen die Wölfe schon die Hofkatzen», nachdem auf einem Bauernhof etliche (teils zugelaufene) Katzen verschwunden waren.

Jenseits von Gut und Böse

Dabei gäbe es jenseits des Speisezettels viel Spannendes über den Wolf zu berichten, wie das Buch von Dettling zeigt. Zum Beispiel liesse sich hervorheben, welche wichtige ökologische Funktion grosse Raubtiere innehaben. Sie fördern etwa die Robustheit der Wildtierbestände, indem sie kranke Tiere eher erbeuten. Oder: Wo Grossraubtiere leben, verteilen sich Rehe und Hirsche im Raum besser, was dem Wald gut bekommt. So stellten die Förster im Gebiet des Calanda-Wolfsrudels fest, dass erstmals wieder junge Weisstannen aufkamen, die vorher allesamt verbissen wurden. Aber im Vergleich zu Jägern und Schafbesitzern oder schlichten Wolfsgegnern ist die Stimme der Förster leise. Wer nun also Lust hat, leise oder laut mitzureden, findet im Buch breit gefächertes Wissen zum Wesen des Wolfs und dem Umgang des Menschen mit diesem.

Peter A. Dettling, Wolfsodyssee – eine Reise in das verborgene Reich der Wölfe, Werdverlag 2020.

Weitere Informationen zum Thema Natur- und Tierschutz auf Infosperber:

– «Die Sicht des Wolfs: ‹Für eine Schweiz ohne Raubmenschen'»

DOSSIER: Schutz der Natur und der Landschaft

Nachtrag: 25 Jahre Wolf in der Schweiz

bm. Das Zusammenleben von Wolf und Mensch ist vor allem dort konfliktreich, wo er neu auftaucht. Das konstatiert die Stiftung KORA, die im Auftrag von Bund und Kantonen die Bestände von Grossraubtieren in der Schweiz überwacht. In einer neuen Broschüre legt diese Forschungsgemeinschaft für Raubtierökologie und Wildtiermanagement dar, wie ein Zusammenleben von Mensch und Raubtier gelingen kann.

Die Broschüre «25 Jahre Wolf in der Schweiz – eine Zwischenbilanz» bietet eine faktenreiche Darstellung zur Entwicklung der Wolfsbestände in der Schweiz, zu Übergriffen von Wölfen auf Nutztiere und die Konkurrenzsituation mit den Jägern. Sie zeigt auf, wie sich die rechtliche Situation darstellt und welche Massnahmen die Behörden ergriffen, um Schafhalter zu unterstützen. Als wichtige Faktoren für eine gelingende Integration der neuen Zuwanderer nennt KORA die Entschädigung bei Rissen, einen konsequenten, lokal angepassten Herdenschutz, die Zusammenarbeit der verschiedenen Interessengruppen, die Möglichkeit legaler Abschüsse und eine faktentreue offene Kommunikation. Ziel dabei ist, dass Grossraubtiere in den Alpen – auch in der Schweiz – tragfähige Populationen bilden und langfristig überleben können.

Als Ausblick hält KORA fest, dass es bei einem Tier mit so grossen Raumansprüchen und einem so grossen Ausbreitungspotenzial wie dem Wolf keinen Sinn macht, regional verschiedene Ansätze zum Umgang mit dem Wolf zu verfolgen. Deshalb werde die politische Herausforderung der kommenden Jahre «ein koordiniertes, grenzüberschreitendes Management der Wolfspopulation in den Alpen sein, das es erlaubt, die Akzeptanz in der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, sodass der Wolf im gesamten Alpenbogen bei tragbarem Konfliktniveau langfristig erhalten werden kann.» Unabhängig von der eigenen Einstellung zum Wolf ist die Lektüre dieser Broschüre gewinnbringend: Denn sie versammelt all jene Fakten rund um den Wolf, die man sonst aus verschiedensten Quellen zusammensuchen muss.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Wald

Schutz der Natur und der Landschaft

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6 Meinungen

  • am 10.08.2020 um 11:55 Uhr
    Permalink

    Was wohl den Wolf für den Viehhalter problematisch macht: «Wölfe, die in eine eingezäunte Weide eingedrungen sind, töten häufig mehr Tiere, als sie fressen können.» https://de.wikipedia.org/wiki/Herdenschutz#Surplus_Killing
    Wenn ich in der Surselva höre, es seien in einer Nacht ein Dutzend Schafe gerissen worden, ist das schon erschreckend.
    Dieses Verhalten des Wolfes dürfte der Author auch erwähnen, da nützt es nichts, wenn sein Fleischverzehr viel tiefer ist.

  • am 10.08.2020 um 14:19 Uhr
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    Es erschreckt mich regelmässig wie die Wolfschiesser ein komplett falsches Bild dieses schönen Tieres zeichnen,bar jeglicher Realität. Die wollen es gar nicht wissen,Hauptsache abknallen.

  • am 11.08.2020 um 08:45 Uhr
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    Bei uns in D. ist es genau so. Die Gerüchteküche kocht. Und Vorurteile lassen sich nicht widerlegen. Ein Elend ist das für diese schönen und auch nützlichen Tiere. Das böseste Raubtier ist weltweit nur der Mensch.

  • am 11.08.2020 um 18:16 Uhr
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    Dossier: Schutz der Narur und der Landschaft – bitte korrigieren.
    (Im gegensatz zu den sogenannten Leitmedien kommen bei Ihnen solche Fehler selten vor!)
    Antwort der Verfasserin: Danke für den Hinweis. Der Tippfehler ist korrigiert. bm.

  • am 15.08.2020 um 21:20 Uhr
    Permalink

    Betroffene Bergbauern usw. als «Wolfshasser» zu betiteln, wenn sie sich wehren, weil ihre Existenz gefährdet ist, ist mehr als nieder. Die Bundesbeiträge für Herdenschutz decken nur 50% der effektiven Kosten. Wenn die Landwirtschaft gefährdet ist, ist auch der Tourismus in Gefahr. Welcher Städter verbringt z.B. noch seine Familienferien in der Surselva, wo bereits 5 Wolfsrudel umher streifen?
    Bundespräsidentin Sommaruga appellierte explizit an die Bevölkerung im urbanen Raum. Die Städter müssten «Rücksicht nehmen auf die Situation auf dem Land und in den Bergen». Das sei in der Vergangenheit mehrmals gelungen. Und auch dieses Mal müsse das Schweizer Stimmvolk «über die Stadtmauern blicken» und Solidarität zeigen.
    An die Adresse von Umwelt- und Tierschutzverbänden, die das Referendum gegen das revidierte Jagdgesetz ergriffen hatten, sagte Sommaruga, dass der Wolf eine geschützte Tierart bleibe, die grundsätzlich nicht gejagt werden dürfe. Ein «ungesteuertes Wachstum» sei aber nicht erwünscht. Wölfe müssten ihre angeborene Scheu vor Menschen, Herden und Siedlungen bewahren.

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