Spenden

Charity-Veranstaltung in den USA: Gemeinnützige Organisationen übernehmen staatliche Aufgaben © charitywater/cc

Wohltätigkeit mit Haken

Jürg Müller-Muralt /  Spenden in den USA ersetzen Lücken im Sozialsystem. Gleichzeitig wird Wohltätigkeit immer mehr zum lukrativen Finanzgeschäft.

Spendenaufrufe steigen jeweils spätestens ab Mitte November sprunghaft an. Die unterschiedlichsten Organisationen wollen von der christlich inspirierten Spendefreudigkeit in der Vorweihnachtszeit profitieren. Das gilt in noch viel stärkerem Masse für die USA: Dort ist private Wohltätigkeit in all ihren Facetten um ein Mehrfaches präsenter als hierzulande. Ohne private Wohlfahrtsinstitutionen läuft fast gar nichts mehr – vor allem seit den Achtzigerjahren, als Präsident Ronald Reagan seinen Kahlschlag gegen den Sozialstaat durchführte. Er hat zahlreiche ursprünglich staatliche Sozialaufgaben an private gemeinnützige Organisationen ausgelagert.

Doch Reagan war nicht der erste und auch nicht der letzte Präsident, der die Bürgerinnen und Bürger zu privatem sozialem Engagement aufgerufen hat; das hat spätestens seit Herbert Hoover (1929-1933) Tradition. Auch Präsident Barack Obama hat auf dem Parteitag der Demokraten 2012 erklärt: «Wir wissen, dass die Arbeit der Kirchen und Wohltätigkeitsorganisationen gegenüber rein staatlichen Programmen handfeste Vorteile aufweist.»

Spenden wachsen massiv

Der Grund dafür: Das Verhältnis zwischen Bürgerinnen, Bürger und Staat unterscheidet sich deutlich von jenem in Europa. In den USA ist die Ansicht stark verankert, dass der Staat bei der Lösung von sozialen Fragen und der Wahrung des Gemeinwohls in verschiedensten Bereichen weder allein zuständig, noch der effizienteste Problemlöser sei. Das verdeutlichen einmal mehr die jüngsten verfügbaren Zahlen zur Wohltätigkeit, wie sie die Giving USA Foundation für das Jahr 2013 veröffentlicht hat. Zum vierten Mal in Folge ist die Summe gewachsen: Die Spenden für wohltätige Zwecke stiegen im vergangenen Jahr auf 335,17 Milliarden Dollar an. Seit dem offiziellen Ende der Rezession 2009 ist das ein Zuwachs von 22 Prozent. Gegen ein Drittel (31,5 Prozent) der Mittel flossen in religiöse Wohltätigkeitsorganisationen oder Kirchgemeinden, 16 Prozent in Bildung, 12,5 in die (nicht religiöse) Sozialhilfe, 10,5 an Stiftungen, die eigens für die Verteilung von Subventionen geschaffen wurden, 9,5 in den Gesundheitssektor, 5 in Kunst und Kultur, 4,5 in humanitäre Projekte, 3 in ökologische und 7,5 Prozent in sonstige Zwecke (Zusammenstellung: «Le Monde diplomatique»).

Keine demokratische Kontrolle

Allein schon diese Verteilung weist auf ein Grundproblem privater Wohltätigkeit hin (siehe Infosperber-Beitrag): Das Geld fliesst dorthin, wo die Spenderinnen und Spender wollen, und nicht unbedingt dorthin, wo die Prioritäten in einem demokratischen Prozess gesetzt würden. So finanzieren die Spenden von Superreichen und von Stiftungen Aufgaben, die in anderen Ländern durch den Staat wahrgenommen werden, ohne dass in den USA der Staat etwas über die Verteilungsmodalität zu sagen hat. Als Prototyp gilt dabei etwa die Bill- und Melinda-Gates-Stiftung, die mit Abstand grösste private Stiftung der Welt, die punkto Kapitalausstattung die staatlichen Forschungsprogramme und selbst die Weltgesundheitsorganisation weit hinter sich lässt. Dass es dabei beim Mitteleinsatz keine demokratische Kontrolle gibt, ist mehr als ein Schönheitsfehler. Denn Microsoft-Gründer Bill Gates kann frei entscheiden, wohin sein Geld fliesst. Das Allgemeinwohl oder irgendwelche Regeln der Umverteilung müssen nicht beachtet werden.

Die Folgen des staatlichen Rückzugs

Wenn Spender das Sagen haben, was mit ihrem Geld wo zu geschehen hat, führt das auch im Kleinen zu höchst stossenden Situationen, wie die Zeitung «Le Monde diplomatique» (Dezember 2014, nur im Print erhältlich) in einem Beitrag unter dem Titel «Wenn Bürger den Sozialstaat untergraben: Die fatalen Wirkungen der neoliberalen Spendenkultur in den USA» berichtet. Die Grundschule einer Ortschaft in Kalifornien beispielsweise erhielt von ihren wohlhabenden Einwohnerinnen und Einwohnern rund zehn Millionen Dollar. Damit wurden Kindern grosszügige Musik-, Kunst- und Computerkurse ermöglicht. Eine nur wenige Kilometer davon entfernte Gemeinde mit einer deutlich weniger begüterten Einwohnerschaft konnte den Kindern dagegen nicht einmal einen einfachen Geigenunterricht anbieten. Das gleiche Bild zeigt sich auch bei den Universitäten: Im Jahr 2013 erhielt das eine Prozent der Elitehochschulen (Stanford, Harvard, Columbia, Yale etc.) 17 Prozent der gesamten Spendengelder für Universitäten.

Anders als von ihren Anhängern propagiert, sind die reichlich sprudelnden Spendengelder nicht nur Ausdruck einer spontanen und uneigennützigen Philanthropie und eines hohen Bürgersinns. Gemäss «Le Monde diplomatique» ist die Spendentätigkeit «ebenso das Ergebnis einer konzertierten Strategie, die aufeinanderfolgende Regierungen verfolgt haben, um sich möglichst kostengünstig aus dem sozialen Bereich zurückziehen zu können.»

«Stimme der Plutokratie»

Der Staat verzichtet zudem auf erkleckliche Summen an Steuergeldern, weil die Spenden teilweise von den Steuern abgezogen werden können. Der Politikwissenschaftler Robert Reich spricht in einem Artikel in der «Boston Review» vom März 2013 von Einnahmenausfällen von über 53 Milliarden Dollar, die dem Fiskus dadurch jährlich entstehen. Reich kritisiert denn auch vor allem die Stiftungen: Eine demokratische Gesellschaft sei verpflichtet, für die Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu sorgen, doch «die Stiftungen sind die Stimme der Plutokratie.»

Spezielle Donatoren-Finanzinstrumente

Zunehmend in die Kritik geraten die so genannten Donor-Advised Funds (DAF), speziell für die Wohltätigkeit geschaffene Finanzinstrumente. Sie sind zwar nicht neu, wuchsen aber in den letzten Jahren geradezu explosionsartig. Die DAF funktionieren wie folgt: Der Spender zahlt eine bestimmte Summe in einen solchen Fonds ein, profitiert sofort von einem Steuervorteil und kann selbst bestimmen, wann das Geld an eine wohltätige Organisation ausbezahlt wird. Bis zu diesem Zeitpunkt kann die investierte Summe wachsen, und zwar steuerfrei. Das Geld darf zwar nicht zurückgefordert werden, aber es kann unbeschränkt lange im Fonds bleiben und sogar später in die Verantwortung der Kinder gelegt werden.

Die amerikanische Non-Profit-Informationsplattform Pro Publica kritisiert diese Art der Spendenvergabe scharf. Die Welt der Finanzindustrie habe die Welt der Philanthropie infiltriert, heisst es in einem Beitrag mit dem bezeichnenden Titel «The Wall Street Takeover of Charity». Wohltätigkeit werde im Fall der DFA nicht mehr durch Non-Profit-Organisationen verwaltet, sondern durch profitorientierte Finanzinstitute: «Ein Argument für diese Fonds lautet, dass sich dieses Geld durch Investitionsgewinne vermehrt. Aber das widerspricht der Idee der Wohltätigkeit.» Pro Publica nennt folgende Zahlen: Im Jahr 2013 sind die Beiträge an die DFA gegenüber dem Vorjahr um 24 Prozent auf 17 Milliarden Dollar gestiegen. Dagegen wurden im gleichen Zeitraum nur 10 Milliarden an wohltätige Institutionen ausbezahlt. Die Auszahlungen hätten in den vergangenen drei Jahren kontinuierlich abgenommen. Das bedeutet, dass die DFA immer mehr einnehmen und immer weniger ausgeben. Die DFA kennen eben keine gesetzliche Pflicht, eine bestimmte Summe pro Jahr zu spenden; dies im Gegensatz zu Stiftungen.

Was an dieser Form der Wohltätigkeit besonders stört, ist der steuerliche Aspekt: Wenn ein Investor beispielsweise in einem Jahr sehr hohe Einkünfte erzielt und eine grosse Spende in einen solchen Fonds einzahlt, profitiert er von erheblichen Steuerreduktionen. Aber wohltätige Organisationen können warten, weil das Geld über Jahre hinweg im Fonds gebunden bleibt – und der Öffentlichkeit gehen gleichzeitig noch Steuergelder verloren.


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