
Hat der ungarische Grenzzaun (2015) doch Lücken bekommen?
Ungarns Asylpolitik mit doppeltem Boden
Gegen die Asylquoten der EU wettern – und dann trotzdem heimlich Flüchtlinge aufnehmen: Orbans eigenartige Asylpolitik.
Es geht um 1294 Menschen. So viele Flüchtlinge muss Ungarn gemäss Beschluss der EU-Innenminister aus dem Jahr 2015 aufnehmen. Das Land wehrte sich lautstark und auch juristisch gegen diese EU-weite Umverteilungsaktion von insgesamt 120'000 Flüchtlingen. Im September letzten Jahres wies der Europäische Gerichtshof die Klage ab. Ungarn polterte weiter: «Dieses Urteil ist empörend und verantwortungslos», sagte damals der ungarische Aussenminister Peter Szijjarto. «Es ist ein politisches Urteil, das das europäische Recht und die europäischen Werte vergewaltigt.» Ungarn werde auch in Zukunft keine Flüchtlinge aufnehmen.
Freimütiger Staatssekretär
So ist es allerdings nicht. Klammheimlich und unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung hat Budapest sehr wohl Flüchtlinge aufgenommen. Und zwar zufälligerweise ziemlich genau so viele, wie die EU in ihrem Verteilschlüssel für Ungarn vorgesehen hat. Man war dabei nicht einmal allzu beckmesserisch und hat von 1294 auf 1300 Personen aufgerundet. Die Öffentlichkeit hätte wahrscheinlich nie etwas davon erfahren, hätte Kristof Altusz geschwiegen. Doch der stellvertretende Staatssekretär im Aussenministerium erzählte der Times of Malta freimütig von der Flüchtlingsaufnahme und klärte auch gleich, warum man das nicht an die grosse Glocke gehängt habe: Weil man «die Begünstigten nicht habe in Gefahr bringen wollen». Was das auch immer heissen soll.
Ein Hinterzimmerdeal?
Für Regierungschef Viktor Orban und seine Partei Fidesz ist der Vorfall natürlich peinlich. Doch um eine Erklärung ist man nicht verlegen, und die lautet wie folgt: Man habe Menschen auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz gewährt, das habe nichts zu tun mit der von Brüssel diktierten Quote. Aussenminister Szijjarto erklärte gar, man kämpfe weiterhin gegen den Verteilmechanismus der EU. Die deutschsprachige ungarische Zeitung Pester Lloyd sieht es anders und vermutet hinter der ganzen Geschichte einen «Hinterzimmerdeal mit Merkel und anderen EU-Grössen», um Sanktionen Brüssels zu vermeiden.
Wählerschaft hinters Licht geführt
Für die sozialistische Opposition ist die Affäre vor den Parlamentswahlen vom kommenden April ein gefundenes Fressen. Es sei «inakzeptabel, dass die Regierung heimlich, ohne Wissen der ungarischen Bürger, Flüchtlinge ins Land holt, während sie einen blindwütigen Kampf gegen die Flüchtlingsverteilung in Europa führt». Die «bisher reibungslos funktionierende Propaganda-Maschinerie der Orban-Regierung» sei rund drei Monate vor den Wahlen ins Stocken geraten. Diese Propaganda habe stets von einem «flüchtlingsfreien» Ungarn gesprochen, Migranten mit Terroristen gleichgesetzt, teure Anti-Flüchtlingskampagnen gestartet und somit letztlich die eigenen Wählerinnen und Wähler betrogen.
Ob Wählerbetrug, Hinterzimmerdeal oder clevere Realpolitik: Wer Politik mit doppelten Standards betreibt, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel.
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Keine
Meinungen / Ihre Meinung eingeben
Ähnliche Artikel dank Ihrer Spende
Möchten Sie weitere solche Beiträge lesen? Ihre Spende macht es möglich:
Mit Kreditkarte oder Paypal - oder direkt aufs Spendenkonto
für Stiftung SSUI, Jurablickstr. 69, 3095 Spiegel BE
IBAN CH0309000000604575581 (SSUI)
BIC/SWIFT POFICHBEXXX, Clearing: 09000
Einzahlungsschein anfordern: kontakt@infosperber.ch (Postadresse angeben!)
5 Meinungen
- Die Mörgeli-Methode besteht darin, mit Schein-Problemen im Volch Ängste zu schüren + dann (als einzige) auch gleich eine Schein-Lösung anzubieten.
-- Bei 'Blocher' funktioniert das wunderbar: Mit jedem politischen Schein-Problem wächst seine Anhängerschaft um 1 ... 3 %. Irgendeinmal (nach ihrem Plan bei den Wahlen 2019) erreicht er dann das Quorum mit einem Wähleranteil von '40 % plus', womit er in Bundesbern endlich dominieren wird ...
-- Blocher spielt dieses Spiel mit Ängsten in der Öffentlichkeit seit der Minarett-Initiative (2008) + immer souveräner. Dabei helfen ihm die Schweizer Massenmedien gratis + franko. Kosten-günstiger geht es gar nicht mehr, die (relative) Mehrheit im Parlament zu erreichen ...
Bei Orban ist der Fall um 1 (kleine) Stufe komplexer.
- Ungarn muss die EU-Auflagen respektieren + jene 1294 Flüchtlinge aufnehmen. Würde er das verweigern, hätte das ernsthafte Konsequenzen für Ungarn als EU-Mitglied. Und die EU zahlt Ungarn bekanntlich jedes Jahr einen runden Geld-Betrag.
- Also lässt er grosszügig 1'300 Flüchtlinge rein. Und gut ist ...
ein wenig an Glanz verloren. Und wenn er die Karte Xenophobie in der Bevölkerung nicht mehr voll ausspielen kann, so ist zwar nicht sein Wahlsieg insgesamt, aber doch die angestrebte Zweidrittelmehrheit fraglich. Und diese braucht er, um seine Macht perfektionieren zu können. Mit der Etikettierung der Flüchtlinge als verfolgte Christen - also eben keine Muslime - wird er wohl die Gemüter besänftigen können.
Eine völlig andere Frage ist indessen, ob der wahrscheinliche Wahlsieg im April 2018 nicht ein Pyrrhussieg sein wird. Der in fast allen wesentlichen Fragen der EU auf Kontra eingestellte Orbán könnte im Zuge der unausweichlichen EU-Reformen mit seinem ohnehin schon arg gebeutelten Land aufs Abstellgleis geschoben werden. Und eine weitere Verschlechterung der Lebensumstände in Ungarn würde Orbán politisch nicht überleben.
„danke für den Artikel. Die Geschichte kennen wir ja leider ... Die zusammengeschrumpfte oppositionelle Presse hat freilich auch von diesem Malheur berichtet: das Problem ist, dass so eine Geschichte buchstäblich auf jeden Tag fällt. Die Reizschwelle der Ungarn wird aber dadurch nicht überschritten, da sie einfach von diesen nichts mitbekommen: eben gestern hörte ich mir die Abendnachrichten im öffentlich-rechtlichen (also von Steuergeldern getragenen) Radio an: Es war ekelhaft und stomach-turning (ich weiß dieses Wort auf Deutsch nicht). Es handelte sich einzig und allein um die Migranten und die „bösartige“ EU, die ihre Quoten Ungarn aufzwingen wolle, doch der Grenzzaun schützt das Land und so weiter und so fort … Und diese Sendung erreicht mehrere Millionen Leute, also genügend für die nächsten Wahlen. Ein Wahnsinn, aber leider das sind unsere Alltage, unglaublich deprimierend, ich sage ab und zu, dass wir mit dem Zeitungslesen aufhören sollten, haha."
Ihre Meinung
Loggen Sie sich ein. Wir gestatten keine Meinungseinträge anonymer User. Hier können Sie sich registrieren.
Sollten Sie ihr Passwort vergessen haben, können Sie es neu anfordern. Meinungen schalten wir neu 9 Stunden nach Erhalt online, damit wir Zeit haben, deren Sachlichkeit zu prüfen. Wir folgen damit einer Empfehlung des Presserats. Die Redaktion behält sich vor, Beiträge, welche andere Personen, Institutionen oder Unternehmen beleidigen oder unnötig herabsetzen, oder sich nicht auf den Inhalt des betreffenden Beitrags beziehen, zu kürzen, nicht zu veröffentlichen oder zu entfernen. Über Entscheide der Redaktion können wir keine Korrespondenz führen. Zwei Meinungseinträge unmittelbar hintereinander sind nicht erlaubt.
Spende bei den Steuern abziehen
Sie können Ihre Spende von Ihrem steuerbaren Einkommen abziehen. Für Spenden über 20 CHF erhalten Sie eine Quittung zu Handen der Steuerbehörden. Die Spenden gehen an die gemeinnützige «Schweizerische Stiftung zur Förderung unabhängiger Information» SSUI, welche die Internet-Zeitung «Infosperber» ermöglicht. Infosperber veröffentlicht Recherchen, Informationen und Meinungen, die in der grossen Presse wenig oder gar keine Beachtung finden. Weitere Informationen auf der Seite Über uns.
Wir danken Ihnen herzlich für Ihre Spende!