Kommentar

Sprachlust: Südliche Silbensalven sagen nur «äuä»

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Mehr kann weniger sein, auch beim Reden. Eine Studie über das Sprechtempo zeigt: Schnellere Sprachen sind an Information dünner.

Jetzt haben wir’s wissenschaftlich: Am Mittelmeer wohnen besonders schnellzüngige Europäerinnen und Europäer. Bei einem Vergleichstest zwischen den fünf verbreitetsten westeuropäischen Sprachen sowie Japanisch und Chinesisch kamen Testpersonen aus Frankreich und Italien auf etwa 7 Silben pro Sekunde, jene aus Spanien gar auf fast 8. Noch etwas näher an dieser Schallgrenze lagen Japanischsprechende, aber – und das ist die Überraschung aus dieser Studie – das Tempo nützt all diesen Zungenakrobaten nichts.
Denn die Forscher der Universität Lyon massen nicht nur die Silbenkadenz der (je gleich vielen) Männer und Frauen, die keine Sprechprofis waren. Sie bekamen alltägliche Texte zu lesen und sollten diese in einem Tempo vortragen, das ihnen normal erschien. Da die kurzen Berichte oder Gespräche aus dem Englischen in die anderen Sprachen übersetzt worden waren, enthielten sie überall «gleich viel Information», auch wenn sich ihre Silbenzahl unterschied. Die Vorlesezeit wurde damit zum Mass für die «Effizienz» jeder Sprache als Mittel, pro Minute möglichst viel mitzuteilen.
Je eiliger, desto dünner
Und siehe da: Japaner brauchen für eine bestimmte Information so viele Silben, dass ihr Tempovorsprung nicht nur verpufft, sondern sich in einen Rückstand verwandelt. Ihre «Informationsrate» liegt bei bloss 74 Prozent der Referenzgrösse (Vietnamesisch, das die Forscher als Sprache ausserhalb des Vergleichs wählten). Englisch kam mit 108 Prozent an die Spitze, obwohl es mit vergleichsweise bedächtigen 6 Silben pro Sekunde gesprochen wurde. Deutsch schaffte mit annähernd gleichem Tempo, aber geringerer «Informationsdichte» 90 Prozent. Chinesisch, am stärksten befrachtet und am langsamsten gesprochen (gut 5 Silben), erbrachte 94 Prozent, und noch etwas näher am Vietnamesisch-Standard von 100 Prozent lagen die drei getesteten romanischen Zungen.
Die Studienautoren waren von der Hypothese ausgegangen, auch sehr unterschiedliche Sprachen seien ähnlich komplex, die einen mehr in der Phonetik, die andern mehr in Grammatik und Satzbau; das gleiche sich aus, und das universelle Mitteilungstempo entspreche dem, was Menschen aufnehmen könnten, ohne gelangweilt oder überfordert zu sein. Wie die Probetexte ankamen, wurde freilich nicht getestet. Ohnehin sind die Forscher vorsichtig mit der Interpretation ihrer Studie, die nur mit 20 Texten und 6 – 10 Personen pro Sprache arbeitete. Statistisch gesehen, könnten zuverlässige Prozentzahlen jeweils um fast einen Zehntel nach oben oder nach unten von den ermittelten abweichen.
Reden Schweizer «dicht»?
Nur der Spitzenplatz des Englischen und der Schlussrang des Japanischen unter den untersuchten Sprachen scheinen einigermassen gesichert. Allerdings waren ja die Probetexte ursprünglich englisch, was einen Heimvorteil bedeuten könnte. Im mitgelieferten Beispiel sind die französische und die italienische Übersetzung eher geschwätziger als das Original; die deutsche allerdings ist etwas lakonischer. Die Studie ist in der Fachzeitschrift «Languages» erschienen.
Zumindest der Tendenz nach sehen die Forscher ihre Hypothese bestätigt: Je langsamer, desto gehaltvoller. Es wäre reizvoll, entsprechende Untersuchungen auch innerhalb eines Sprachgebiets zu unternehmen, zum Beispiel des deutschen, und dann müsste auch noch zwischen Dialekt und Standardsprache unterschieden werden. Es stimmt ja wohl, dass Schweizer im Durchschnitt langsamer «Schriftdeutsch» reden als Deutsche (die zuweilen auch ihren Dialekt für Hochdeutsch halten). Im Schweizerdeutschen wiederum fallen die Unterschiede des Sprechtempos so deutlich aus, dass allein schon das die Lyoner Forscher lange beschäftigen könnte. Gewiss sähen sie ihre Hypothese ein weiteres Mal bestätigt, wenn sie nur schon die Informationsdichte studierten, die ein Massimo Rocchi dem berndeutschen «äuä» verleiht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel»; Verfasser der Kolumne «Sprachlupe», alle 14 Tage in der Zeitung «Der Bund».

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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2 Meinungen

  • am 3.11.2012 um 08:41 Uhr
    Permalink

    Ihre Beiträge zur Deutschen Sprache sind immer wieder sehr erhellend. Herzlichen Dank dafür. Wir Schweizer lassen uns leicht von unseren nördlichen Nachbarn verunsichern. Rhetorisch sind die Deutschen uns Deutschschweizern weit überlegen. Das führt zwangsläufig zu einem Komplex. Im Geschäfts- oder Politikleben wird dieses Manko natürlich schamlos ausgenutzt. Speziell, wenn man z.B. als Bittsteller nach Berlin reist, um Fluglärmfragen zu klären… Die von Ihnen erwähnten Studien beweisen offenbar, dass der schnelle Deutsche eben nur schnell ist. Von Schumi die Speed und von Karl Dall den Inhalt? Jedenfalls haben wir Eidgenossen beim Langsamsprechen genügend Zeit, uns zu überlegen, was denn da genau gesagt werden soll. Bezeichnend ist, dass wir für unsere eigene Sprache nicht einmal «Schweizerisch» wählen, sondern sie «Schweizerdeutsch» nennen.
    In diesem Zusammenhang ist es auch interessant zu beobachten, dass die meisten von uns eigentlich ganz ordentlich Deutsch sprechen könnten, dies aber aus Protest nicht tun. Mundart vermittelt uns offenbar Identität.
    Es wäre für uns Schweizer wahrscheinlich ziemlich irritierend, wenn uns die Tagesschau in astreinem Hochdeutsch vorgetragen würde. Der Status Quo ist, so glaube ich wenigstens, ganz in Ordnung.

    Gruss aus Korea, wo Sprache alles ist.

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