aa_Sprachlust_Daniel_4c

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprache: Engels «Stilkunst», erstattete Raubkunst

Daniel Goldstein /  Reiners’ «Stilkunst» hiess zuerst «Deutsche Stilkunst» wie ein von den Nazis verbotenes Werk. Es war die Vorlage und ist wieder da.

Raubkunst kann nicht nur in Sammlungen hängen, sie kann auch zwischen Buchdeckeln stecken, und in beiden Fällen braucht es Provenienzforschung, um das festzustellen. Die gedruckte Kunst, um die es hier geht, heisst auch so: «Deutsche Stilkunst» nannte Eduard Engel sein Hauptwerk, das er von 1911 bis 1931 in 31 Auflagen veröffentlichte. 1938 starb er 87-jährig; er hatte noch ein Publikationsverbot erdulden müssen, weil er jüdischer Herkunft war. Erspart blieb ihm, mitanzusehen, wie 1943 der regimetreue Ludwig Reiners ebenfalls eine «Deutsche Stilkunde» publizierte. Ohne «Deutsche» im Titel wurde sie nach dem Krieg bis 2004 stets wieder neu aufgelegt und erwarb den Ruf eines Standardwerks.
In den letzten Jahren haben verschiedene Publikationen, darunter eine Dissertation, nachgewiesen, dass Reiners wesentliche Teile und sogar Fehler von Engel übernommen hatte, ohne seine Hauptquelle auch nur zu erwähnen. Der Schweizer Sprachkundler Stefan Stirnemann bemühte sich unermüdlich darum, diese Umstände einem breiteren Publikum bekanntzumachen, und er konnte an einer Art Rückgabe der Raubkunst mitwirken: Letztes Jahr hat der von Hans Magnus Enzensberger gegründete Verlag Die Andere Bibliothek die 31. Auflage der «Deutschen Stilkunst» neu herausgegeben, mit einem ausführlichen, einfühlsamen, aber nicht unkritischen Vorwort von Stirnemann.

Klassische Vorbilder

Engel, im Hauptberuf Stenograph im Reichstag, war ein Kenner der Literatur der grossen westeuropäischen Kultursprachen und publizierte auch darüber; chauvinistische Verachtung für andere lag ihm fern. Und doch ging ihm nichts über deutsche Sprache und Literatur, jedenfalls die in seinen Augen gute. Die fand er vor allem bei den Klassikern Goethe, Schiller und Lessing, aber auch etwa bei Heine oder Keller. Mit zahllosen Beispielen zeigte er, was auch Schreibende ohne literarischen Ehrgeiz von ihnen lernen können: sorgfältige Wortwahl, Klarheit im Auf- und Satzbau, so einfache Darstellung, wie es der Gegenstand nur zulässt.
Im Grunde hielt Engel guten Stil nicht für lehr- und lernbar: Jeder müsse seinen eigenen finden und vor allem den Einfluss schlechter Vorbilder meiden. Solchen räumt er wohl noch mehr Platz ein als den guten, und die meisten Verfasser kennt heute kaum noch jemand. Seine Leitlinien sind die Zweckmässigkeit des Schreibens und die Rücksicht auf die Leserschaft: Nur die Sache, nicht der Text an sich soll Anstrengung verlangen. Oft empfiehlt der Stilkundler das goldene Mittelmass, etwa beim Einsatz von Bildern oder bei der Länge. Sein Hauptwerk umfasst allerdings in der Neuausgabe gut 900 Seiten.

Er dachte «Deutsch»

Geradezu verbissen bekämpfte Engel die «Fremdwörterei» und liess nur gerade längst als Lehnwörter eingebürgerte Wörter wie «Prosa» gelten. Noch mehr als die Fremdwörter selber war ihm ihr Gebrauch in der deutschen Wissenschaftssprache seiner Zeit ein Dorn im Auge: Vernebelung und Eindruckschinden warf er ihr vor. Um Fremdwörter gar nicht erst aufkommen zu lassen, hatte er sich selber beigebracht, stets «Deutsch zu denken». «Deutsch» schrieb er in der letzten Auflage immer gross, auch wenn er es als «Beiwort» (Adjektiv) verwendete – dabei legte er sonst durchaus Wert darauf, dass die Regeln eingehalten würden, nur wollte er nicht «schulmeisterlich» sein.
Sein inbrünstiges Deutschtum hat ihn vor der Verfemung und Beraubung durch die Nazis nicht bewahrt. Nun ist sein «Lebensbuch», wie er es nannte, wenigstens wieder greifbar; eher als Kostbarkeit für Bücher- und Sprachfreunde denn als stilbildendes Volksbuch; dazu ist es zu weitschweifig und unserer Zeit zu weit entrückt. Engel hat nie sein Werk zur lehrbuchmässigen «Stilfibel» gerafft. Jene von Reiners aber ist bei C. H. Beck immer noch erhältlich. Dagegen steht auf der Verlagswebsite bei der «Stilkunde» des 1957 gestorbenen Nachahmers «vergriffen, kein Neudruck». Letztes Jahr war noch einer angekündigt.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Kürzlich hat er auf seiner Website Sprachhäppchen als E-Buch publiziert.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.