Sexuelle Gewalt, Kolonialismus – eine Parallele

Romano Paganini /  Die #MeToo-Bewegung hängt mit der Natur-Ausbeutung zusammen. Warum sie das Potenzial hat, die herrschenden Strukturen aufzubrechen.

«Er hatte mich zum Oralsex gezwungen. Ich sagte immer und immer wieder, dass ich das nicht wolle und er damit aufhören solle. Ich versuchte von ihm wegzukommen, aber vielleicht tat ich das nicht genügend. Dann habe ich aufgegeben. Das ist das Schlimmste am Ganzen und es ist auch der Grund, warum er es danach mit so vielen anderen Frauen getan hat: die Leute geben auf und fühlen sich hinterher irgendwie schuldig.»
Das hatte Lucia Evans vergangenes Jahr dem New Yorker zu Protokoll gegeben. Mit «er» ist Harvey Weinstein gemeint. Der Filmproduzent penetrierte während Jahrzehnten diverse Frauen, darunter auch die damalige Schauspielaspirantin Lucia Evans. Mit seinen Händen. Mit seinem Mund. Mit seinem Schwanz. Und gegen ihren Willen.

Ähnlich tönt es in Bolivien

Ein paar tausend Kilometer weiter südlich der USA, in der bolivianischen Hauptstadt La Paz, schrieb die Schriftstellerin und Sängerin Julieta Paredes vor ein paar Jahren einen Text, der frappante Parallelen zu den Schilderungen Evans› aufweist. Einziger Unterschied: Indigene Völker ersetzen die Position der Frau als Opfer, die Kolonialherrschaft jene des Mannes als Täter. «Wir können sagen», schreibt Paredes, «dass die koloniale Penetration eine Erinnerung an die koitale Penetration hervorruft, wie ein Bild der sexuellen Gewalt, wie die koloniale Invasion. Wir sagen damit nicht, dass jede koitale oder sexuelle Penetration generell mittels Gewalt geschieht. Doch genauso wenig, wie sich eine Frau die Vergewaltigung ihres Körpers wünscht, genauso wenig wünscht sich ein Volk die koloniale Invasion.»

Für Julieta Paredes gibt es keinen Unterschied zwischen Gewalt am weiblichen Körper und der Gewaltherrschaft europäischer Königreiche (früher), transnationaler Firmen und mafiöser Politiker (heute). «Das Patriarchat ist die Grundlage jeglicher Unterdrückung und aller Ausbeutungsformen sowie aller Gewalt und Diskriminierungen, von der sowohl die gesamte Menschheit als auch die Natur betroffen ist. Ein System, das historisch auf dem sexualisierten Körper der Frau aufgebaut ist.»

#MeToo – ein Sammelbecken für verunsicherte Bürger

Die 51-Jährige stellt damit ein Paradigma in Frage, das innerhalb der #MeToo-Debatte kaum Erwähnung findet: unsere Alltagsstrukturen und deren Ausbeutungsmuster. Denn die Forderungen von #MeToo betreffen Männer und Kinder, Pensionierte und Arbeitslose, Ausgesteuerte und Flüchtlinge, Alleinerziehende und Obdachlose, Prostituierte und Menschen mit Behinderungen. Sie alle haben das Recht darauf, «Ich auch» zu sagen. Gründe dafür gibt es genügend: steigender Druck am Arbeitsplatz, soziale Ausgrenzung in Asylheimen oder Psychiatrien, geringe Wertschätzung gegenüber Care-ArbeiterInnen, Hausfrauen und -vätern oder RentnerInnen und SozialhilfeempfängerInnen, die sich aufgrund der hohen Lebenskosten kaum über Wasser halten können. Die multiplen Krisen unserer Zeit sind längst in Europa angekommen – auch wenn man selten darüber spricht.
#MeToo ist keine Frage des Geschlechts, sondern der Wahrnehmung. Die Bewegung könnte zum Sammelbecken verunsicherter Bürger werden, die politisch kaum vertreten sind, aber genau spüren, dass etwas falsch läuft. Im Gegensatz zu den politischen Parteien – allen voran die Neuen Rechten in Europa –, die sich gegen alles Mögliche abgrenzen wollen, ohne die Fundamente unseres Zusammenlebens tatsächlich in Frage zu stellen, hat #MeToo das Potenzial, etwas in Bewegung zu bringen, das über die Geschlechter-, Rassen- und Klassenfrage hinausgeht.
Voraussetzung ist allerdings ein Sich-bewusst-Werden gegenüber sämtlichen Krisen, die sich weltweit installiert haben und die aufgrund unseres globalisierten Alltags oft intim miteinander verbunden sind. Dadurch würde erkennbar, dass es dem chinesischen Näher, dem kolumbianischen Kakaobauern, dem deutschen Metallarbeiter oder der Schweizer Hausfrau letztlich um dasselbe geht: mehr Respekt, um den Alltag in Würde führen zu können. Nur durch eine Öffnung kann das von urbanen Frauen geprägte #MeToo auf andere Bewegungen übergreifen. Und nur so kann Verständnis für die Argumentation von Julieta Paredes geschaffen werden. Denn die Ausbeutung der Erde, also unserer Lebensgrundlage, scheint derzeit nur in jenen Weltregionen wahrnehmbar, in denen sich die Menschen weiterhin bewusst sind, dass sie von ihr abhängig sind.

Der Schnitt zwischen Denken und Körper

Schon oft wurde der Versuch unternommen, diese einfache Tatsache – also die Abhängigkeit vom Menschen zur Natur – kleinzureden oder zu kaschieren. Einer der letzten fand Mitte des 17. Jahrhunderts statt und sollte den Zeitgeist westlicher Gesellschaften bis heute prägen. Damals entkoppelte der französische Rationalist René Descartes (1596-1650) mit seinem Grundsatz «Ich denke, also bin ich» die Bindung zwischen Denken und eigenem Körper und schob damit einen Keil zwischen Mensch und Natur. Sein Ziel: «Eine praktische Philosophie, wodurch wir die Kraft und Wirkung des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gesteine, der Himmel und aller übriger Körper in unserer Umwelt ebenso deutlich als die Geschäfte unserer Handwerker kennenlernen und also im Stande sein würden, sie ebenso praktisch zu allem möglichen Gebrauch zu verwerten und uns auf diese Weise zu Herrn und Eigentümern der Natur zu machen.» (1)
In Europa sollte man sich in den folgenden Jahrhunderten immer selbstbewusster die Krone der Schöpfung aufsetzen. Dies sorgte für eine Grundhaltung gegenüber dem Leben, die weitgehend ohne Empathie, Spiritualität und Umweltbewusstsein auskam. Die femininen Aspekte unserer Existenz – egal ob Mann oder Frau – wurden abgetrennt, ja es fand gewissermassen eine Kastration statt. Und so «penetrierte» Mann weiterhin mit kolonialer Selbstverständlichkeit nicht nur Völker und Gewohnheiten in Afrika und Amerika, sondern auch Wälder, Felder und Gewässer. Mann rodete, bohrte, schürfte, sprühte, vergewaltigte und versklavte, als ob’s kein Morgen gäbe. In Potosí, der einstigen Silberstadt in den bolivianischen Anden, wird seit dem 16. Jahrhundert ein Berg abgetragen und stückchenweise Richtung Europa verschifft. #MeToo gilt also auch für die indigenen Aymaras von Potosí. Und natürlich auch für den Cerro Rico, den Berg selbst. #MeToo gilt für den Regenwald und seine BewohnerInnen in Brasilien. Sie mussten den Soja-Monokulturen weichen, mit denen China, die USA und Europa Schweine sowie Biodieseltanks füttern.
Dass #MeToo von Frauen geboren wurde, ist kein Zufall. Doch Ausbeutung und Unterdrückung sind ein jahrtausendaltes Phänomen, das sich in allen Lebensbereichen beobachten lässt, die patriarchalen Mustern unterliegen.

Die Pervertierung des Maskulinen

Beispiele gäbe es auch aus Europa und von anderen Kontinenten. Die Logik, die dahintersteht, ist wie bei Lucia Evans und Harvey Weinstein dieselbe: Ein Machtverhältnis wird zu Gunsten des (oftmals physisch) Stärkeren ausgenutzt und die herrschenden Strukturen erschweren es, diesen Missbrauch zu politisieren. Das Patriarchat, einst limitiert auf die «Herrschaft der Väter», erstreckt sich längst auf Ehemänner, männliche Vorgesetzte oder leitende Männer in Politik und Wirtschaft (2). Der Mann hat im Laufe der Jahrhunderte eine Position eingenommen, die nicht mehr der Selbsterhaltung dient, sondern nur noch der Selbstbefriedigung. Trunken vor Macht taumelt er von einem Krieg in den nächsten, spekuliert mit seinem dreckig verdienten Geld an Börsen und in Casinos und weiss bis ins hohe Alter nicht, was er mit seiner sexuellen Energie anfangen soll. Krise? Ja natürlich! Allerdings liegt dies nicht am Geschlecht selbst, sondern an der Entkopplung von der Natur, dem Verleugnen des Femininen und der damit verbundenen Pervertierung des Maskulinen. Schliesslich steigt ein Kind nicht mit der Kalaschnikow oder dem Goldvreneli aus dem Mutterleib und wünscht sich den Chefposten bei Glencore. Als erstes will es an den Busen der Natur. Auch das eine simple Tatsache.

Dies zu erkennen ist in hochindustrialisierten Regionen wie jener Mitteleuropas, wo sich das kartesianische Wahrnehmen tief in die Körper der Bewohner gefressen hat, genauso schwierig wie den Zusammenhang zwischen menschlichem Leben sowie dessen Abhängigkeit von Wäldern, Feldern und Gewässern wahrzunehmen. Urbanisiert bis in die Knochen und digitalisiert bis in die Haarspitzen ist das Intuitive und damit das Feminine auf der Strecke geblieben. Der Kontakt zum Planeten und seinen Zyklen ist genauso verloren gegangen wie das Verständnis für das Wachstum einer Pflanze. Oder weiss heute noch jemand, wie lange es dauert, bis eine Tomate erntereif ist? Der Takt wird nicht von Tages- und Jahreszeiten vorgegeben, von Saat- und Erntezeiten oder von Wind und Wetter. Das Diktat stammt von Fahrplänen, WhatsApp-Nachrichten und Börsenkursen. Die Natur? Ideal für den Wochenendausflug oder die Ferien.

Aufgeben gilt nicht

Lucia Evans gab ihren Kampf gegen den wesentlich grösseren und stärkeren Harvey Weinstein irgendwann auf und empfand dies als die grösste Demütigung. Das Patriarchat hatte seine Wirkung einmal mehr voll entfaltet. Bis #MeToo ins Rollen kam.
Sollte es der Bewegung nun gelingen, Bewusstsein für die global stattfindenden Unterdrückungsmuster zu schaffen und die Debatte damit in eine neue Dimension zu hieven, könnten jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendalte Strukturen ins Wanken geraten. Wie gesagt: Gründe für ein gemeinsames #MeToo gibt es genügend. Sei dies im Namen von Waffen-, Pestizid- oder Braunkohlegegnern, im Namen von Indigenen, Flüchtlingen oder Plantagearbeitern, im Namen von Rentnern, Working Poor oder unterbezahlten Lohnarbeitern. Der Name ist letztlich nicht so wichtig. Entscheidend ist die Solidarität unter diesen oftmals isoliert lebenden Menschen und Gruppen.
Aufgeben gilt jedenfalls nicht. Denn dadurch würden nicht nur die transnationale «Massenvergewaltigung von Mutter Erde», sondern auch die herrschenden Verhältnisse unter Menschen weiter legitimiert. Und das kann nicht im Interesse jener sein, die sich von #MeToo betroffen fühlen.

(1) Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Verlag Antje Kunstmann
(2) Maria Mies: Patriarchat und Kapital – Rotpunktverlag

Dieser Text erschien in leicht veränderter Version zuerst bei http://mutantia.ch/ich-auch/


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Gewalt_linksfraktion

Gewalt

«Nur wer die Gewalt bei sich versteht, kann sie bei andern bekämpfen.» Jean-Martin Büttner

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Eine Meinung zu

  • am 9.06.2018 um 22:41 Uhr
    Permalink

    Gandhi wurde einmal gefragt, was er von der westlichen Zivilisation halte. Seine Antwort: es wäre eine gute Idee!
    Jeder Mensch entscheidet sich bewusst oder unbewusst, ob er eine Gesellschaft unterstützt, die
    Ressourcenausbeutung zwecks Kapitaloptimierung betreibt oder eine, die eine respektvolle Beziehungsgestaltung zwecks Potentialentfaltung in den Mittelpunkt stellt.

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