Kommentar

SP – pragmatisch offen mit einem Hauch Idealismus

Beat Allenbach © zvg

Beat Allenbach /  Das SP-Migrationspapier ist eine gute Grundlage für eine offene Ausländer- und Asylpolitik. Die gesteckten Ziele sind ehrgeizig.

Mehrmals prallten am Kongress der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz in Lugano während der fünf Stunden dauernden Diskussion zwei Welten aufeinander: Mehrere Delegierte, vor allem Jungsozialisten, wollten für alle Einwanderer das Recht, in die Schweiz einreisen und hier bleiben zu dürfen. Idealerweise sollten nicht nur Waren und Geld ohne Schranken verschickt und verschoben werden können, auch Menschen müssten ihren Aufenthalts- und Arbeitsort frei wählen dürfen.

Doch die Welt ist ungerecht, die Unterschiede zwischen den Ländern so riesengross, dass die Personenfreizügigkeit wie sie zwischen den EU-Staaten und der Schweiz besteht nicht auf die ganze Welt ausgedehnt werden kann. Für reiche Länder wie die Schweiz und ihre Bevölkerung wären die Folgen einer unkontrollierten Einwanderung schwerwiegend. Die Jusos sehen ihre Forderung nach freier Einwanderung jedoch nicht als ein Fernziel, das anzustreben ist, sie wollen es jetzt verwirklichen, und zwar subito.

Realismus bedeutet nicht, vor der SVP kuschen

Die Parteileitung hingegen muss sich mit unserer widersprüchlichen Wirklichkeit auseinandersetzen. Im emotionsgeladenen Klima rund um die Ausländer- und Asylfrage will sie nicht chancenlose Maximalforderungen stellen. Sie wählt einen pragmatischen Weg, worauf die Jusos den – ungerechten – Vorwurf erhoben haben, die SP verneige sich vor der SVP. Die Sozialdemokraten wollen jedoch die Rechte der Ausländer soweit stärken, wie es angemessen ist. Im heutigen Klima ist dieses Ziel bereits sehr ehrgeizig, und es wird hartnäckiger Überzeugungsarbeit bedürfen, um es durchzusetzen. Dazu drei Beispiele:

  • Dass Menschen aus EU-Staaten fast ungehindert zum Arbeiten in die Schweiz einreisen dürfen, während Menschen aus der übrigen, meist armen Welt nur in Ausnahmefällen hier eine Stelle antreten können, widerspricht dem Gleichheitsprinzip. Deshalb schlägt die SP vor, versuchsweise mit einem wirtschaftlich vergleichbaren aussereuropäischen Land die Freizügigkeit zu testen, und zwar mit Japan.
  • Am Recht auf Familiennachzug wird konsequent festgehalten, und es soll insofern verstärkt werden, als Kinder mit Schweizer Bürgerrecht Anspruch haben sollen, einen ausländischen Elternteil in die Schweiz kommen zu lassen.
  • Sans-Papier, die seit fünf Jahren in der Schweiz regelmässig arbeiten oder sich in Ausbildung befinden, sollen im Rahmen einer grosszügigen Einzelfallregelung eine Aufenthaltsbewilligung erhalten.

Die SP unterstützt weiterhin das Freizügigkeitsabkommen mit der EU, Lohndumping soll jedoch künftig wirksamer bekämpft und die Arbeitgeber von Scheinselbständigen ermittelt und gebüsst werden. Weiter sind in den Wachstumsregionen neue Unternehmen und hochqualifizierte Personen nicht weiterhin mit Steuerprivilegien anzuglocken. Die Wohnungsnot soll gelindert werden, indem die Behörden den gemeinnützigen Wohnungsbau wirksam fördern. Mit zusätzlichen Angeboten für die Weiterbildung ist u.a. zu erreichen, dass vermehrt qualifizierte Männer und Frauen rekrutiert werden, die bereits hier leben.

Auseinandersetzung um Zwangsausschaffung

Den Jungsozialisten und einigen Genossen gelang es, einige ihrer Forderungen gegen den Willen der Parteileitung durchzusetzen. So sollen junge Ausländer, die als Minderjährige mindestens fünf Jahre in der Schweiz lebten, automatisch das Schweizer Bürgerrecht erhalten und nicht nur erleichtert eingebürgert werden. Der härteste Konflikt entfachte sich an der Zwangsausschaffung für abgewiesene Asylsuchende, die sich weigern, freiwillig die Schweiz zu verlassen. Die Jusos beharrten darauf, dass Ausschaffungen von gefesselten und mit Helm versehenen Menschen unwürdig und in jedem Fall abzulehnen sind.

Zwar beteuerte die Parteileitung, Zwangsausschaffung nach dem sogenannten Level IV dürften nur als allerletzte Möglichkeit in Betracht kommen, und ein Delegierter betonte, auch gegenüber Schweizern wende die Polizei Gewalt an, um einen Haftbefehl oder ein Urteil durchzusetzen. Trotzdem entschieden sich die Delegierten, wenn auch äusserst knapp, für den Verzicht auf Zwangsausschaffungen. Viele waren sich der Tragweite ihres Beschlusses wohl kaum bewusst, denn danach kann hier bleiben, wer sich mit aller Kraft gegen die Ausschaffung wehrt: das Asylgesetz würde so auf kaltem Weg ausser Kraft gesetzt.

Eine beachtliche Leistung

Das Migrationspapier mit seinen 75 Seiten und über 160 Feststellungen und Forderungen ist eine Richtlinie für eine offene Ausländer- und Asypolitik. In seinem Grundgehalt entspricht es weitgehend den Vorstellungen von Justizministerin Simonetta Sommaruga, die vor dem Kongress ihrer Partei für eine offene Schweiz geworben hat. Viele mögen sich fragen, was eine so umfassende Standortbestimmung bringe, die doch kaum jemand lesen werde. In zahlreichen Sektionen hat das Dokument jedoch eine breite Diskussionen ausgelöst: über 900 Änderungsvorschläge sind eingereicht worden, die zu einem guten Teil in die überarbeitete Fassung der Geschäftsleitung aufgenommen wurden.

Der Kongress behandelte noch rund 130 Anträge. Es ging teils um Grundsätzliches, teils um Nebensächliches – es wurde auch verlangt, einzelne Wörter zu wechseln und Formulierungen zu präzisieren. Eine starke Mehrheit der Delegierten stimmte schliesslich dem Migrationspapier zu, eine Minderheit, vor allem Jungsozialisten, lehnte es ab. Von der SP wurde eine aufwändige basisdemokratische Arbeit erfolgreich zu Ende geführt, wie Parteipräsident Christian Levrat zum Schluss mit Genugtuung feststellte.


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