Kommentar

Sprachlust: Redensarten halten selten am Rhein an

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  An ihren Redensarten sollt ihr sie erkennen - das gilt für Sprachen, aber nicht immer für Dialekte: Da überwiegt die Gemeinsamkeit.

Ist Redensart auch Wesensart? Wenn das Wesen einer Sprache gemeint ist, kann man das gewiss sagen: Welche Redewendungen und anderen bildhaften Ausdrücke sie verwendet, charakterisiert eine Sprache stark und verleiht ihr Würze. Wer übersetzt, kann davon ein Liedlein singen: Solche Wendungen in eine andere Sprache zu übertragen, ist oft knifflig und nur als Annäherung möglich. Aus derartigen Eigenheiten der Sprache auf solche der Völker zu schliessen, die sie sprechen, ist noch viel heikler. Schweizerdeutsche Redewendungen etwa eignen sich schlecht zur Abgrenzung, wie ein Blick in zwei Neuerscheinungen zeigt.
«Ds Gurli fiegge» – diese Redensart wird zwar kaum jemand wörtlich ins Hochdeutsche zu übertragen versuchen, zumal sie nicht einmal im Bernbiet alle noch verstehen. Aber wie steht es mit «Blas mer i d Schue», das dem neuen Buch des unlängst pensionierten Radioredaktors Christian Schmid den Titel gegeben hat (im Cosmos-Verlag)? Es gehört zur grossen Familie der Abwandlungen von «leck …», die auch im neu aufgelegten Redewendungen-Duden vertreten ist. Dieser verzeichnet, mit einem Beleg aus Österreich, die Variante «die Schuhe aufblasen». Die beiden Bücher zeigen, dass Schweizer- und Hochdeutsch bei den Redensarten mehr Gemeinsamkeiten als Exklusivitäten aufweisen.
Die Abreibung des Wachstuchs
Christian Schmid hat 75 träfe Aussprüche ausgewählt und geht (auf Hochdeutsch) jedem von ihnen nach, bis tief in die Geschichte und breit in die Geografie. Für «Gurli fiegge» etwa – das aus dem Einwachsen von Tuch stammt und «zurechtweisen» bedeutet – findet er als hochdeutsches Pendant die «Abreibung». In die Schuhe geblasen wird ebenfalls im Elsass, in Vorarlberg und bei den Schwaben. Zuweilen räumt der Mundartspezialist auch mit verbreiteten Irrmeinungen auf. Dazu rechnet er mit guten Argumenten die Ansicht, «en guete Rutsch» wurzle im jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana. Während der Duden diese Ableitung für «wahrscheinlich» hält, hat Schmid keine Belege dafür gefunden, wohl aber alte Verwendungen von «Rutsch» für «Reise».
Die Erläuterungen im Duden sind naturgemäss viel knapper, dafür enthält der Band eine ausführliche Einleitung über die Linguistik der Redensarten. Unter den 500 neuen Einträgen (von über 10’000) fallen hierzulande altvertraute auf, so «(k)ein Büro aufmachen», «(kein) Musikgehör haben» und «Sonderzüglein»; sie alle werden als «schweiz.» gekennzeichnet. Eher befremdlich wirken auf Schweizer Ohren – zumindest derzeit noch – «in die Bucht schmeissen», nämlich bei e-Bay versteigern, «sich freuen wie ein Schnitzel» (ohne Erklärung) oder «sich (k)eine Rübe machen», d. h. (keine) Gedanken.
Mit der höchsten Eisenbahn
Verzeichnet ist auch «auf den letzten Drücker», wie es hiesige Gazetten in letzter Zeit für «mit knapper Not» ebenfalls zu sagen belieben. Den Schreibern sollte man wohl «ds Gurli fiegge» – oder täusche ich mich da, weil mir die Redensart hierzulande bloss noch nicht aufgefallen ist? Der Drücker, um den es da geht, ist laut Duden vermutlich die letzte Türklinke eines abfahrenden Zuges. Wir sagen zwar «Türfalle», aber für Fachleute ist das Ding auch in der Schweiz ein Drücker.
Und manches, was einem hochdeutsch vorkommen mag, gibt es in einzelnen Dialekten doch. Mir ging es in Christian Schmids Buch mit «Fäderläsis» so, das ich ohne viel Federlesens als «vermundartete» Schriftsprache eingestuft hätte – dabei steht es in (mindestens) fünf Schweizer Dialektwörterbüchern. Umgekehrt hätte ich nicht gedacht, dass «höchschti Isebaan» aus Berlin kommt, doch erfährt man im Buch genau, woher: aus einem Schwank von 1841. Da mag auch der «letzte Drücker» den gleichen Weg genommen haben – oder es noch tun.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch

Zum Infosperber-Dossier:

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Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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