Kommentar

kontertext: Verlust an Glaubwürdigkeit

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Was es braucht, damit Politik glaubwürdig sein kann, ist bei Arendt und Brecht nachzulesen.

Seit den Wahlen in Deutschland kursiert eine Diagnose, die auch für die Schweiz und andere Gesellschaften eine bestimmte Gültigkeit beanspruchen kann. Sie lautet: Die Bürger haben das Vertrauen in die traditionellen Parteien und den Glauben an deren Politik verloren. Wie aber entsteht politische Glaubwürdigkeit?

Tränen statt Worte

Um Glaubwürdigkeit zu erlangen, muss sich Politik inkarnieren in Menschen, in erster Linie sind dies Politiker und Politikerinnen. In zweiter Linie ist Politik damit an die Medien gebunden, die mit den Politikern als deren Darstellungsplattform in einem engen Interdependenzverhältnis stehen. Wenn der «Glaube» oder das «Vertrauen» in die Politik schwindet, dann hat dies auch mit ihrer Vermittlung in den Medien zu tun.
Manchmal hilft es zu fragen, wie etwas entsteht, bevor man verstehen kann, wie und warum es schwindet. Wie entsteht politische Glaubwürdigkeit? Und wie zeigt sie sich?
Vielleicht mag dies ein singuläres Ereignis aus der italienischen Politik der Vergangenheit illustrieren. Es geschah, als die Arbeits- und Sozialministerin Elsa Fornero vor der Kamera verkünden musste, dass mit dem Sparpaket der Regierung Mario Monti nicht nur das Rentenalter erhöht wird, sondern auch die Renten, entkoppelt von der Inflation, sinken werden. Weil dieser Absturz eines ganzen Bevölkerungssegmentes in die Armut wie immer in einer technokratischen Sprache übermittelt werden musste, versagte der Ministerin bei dieser Ankündigung die Stimme. Sie sagte noch: «Deshalb müssen wir, und das hat uns viel Überwindung gekostet, Opfer verlangen…» – dann brach sie, ausgerechnet beim Wort ‹Opfer›, in Tränen aus.
Nimmt man den Begriff ‹Opfer› ernst, müsste auch jemand Verantwortung übernehmen für jene, die Leid erfahren und geschädigt werden – hier: die unteren Einkommensschichten. Aber das tut die Politik nicht mehr. Sie kann es unter Umständen sogar nicht mehr tun, weil die politischen Mechanismen so kompliziert sind, dass sie nur in abstrakten Vokabeln wie «Reformagenda» oder «Sparpaket» auftaucht. Sogar ‹Opfer› ist ein Begriff, dem politisch nicht mehr zu trauen ist. Ebenso wie wir wissen, dass wir bei einem Sparpaket nichts erhalten, wissen wir, dass die Aufforderung, ‹Opfer› zu bringen, weder einen religiösen noch einen politischen Sinn hat. Und so galten die Tränen von Elsa Fornera wohl nicht nur den Menschen – hier vor allem der italienischen Arbeiterklasse –, sondern dem Verlust einer glaubwürdigen Sozialpolitik, die auch an eine glaubwürdige und sinnvolle Sprache gebunden ist. Elsa Fornero glaubte ihren eigenen Worten nicht mehr – und es verschlug ihr die Sprache. Ihr emotionaler Ausbruch erinnerte aber daran, dass Politik nicht einfach ein rationales System der Verteilung von Macht und Mitteln und ein Kräftespiel der Strategien zur Durchsetzung von Interessen ist, sondern auch ein Projekt, das einer naheliegenden Vorstellung von ausgleichender Gerechtigkeit entspricht.

Politik als Mitleiden

Wenn Menschen der Politik müde sind, oder nicht mehr an sie glauben, dann wohl deshalb, weil sie (wie Hannah Arendt) ahnen, dass Politik die einzige Möglichkeit ist, die Welt zu verändern. Politik muss mithin mit Handlungsfähigkeit und mit Hoffnung auf eine andere Zukunft zu tun haben. Und damit auch mit Empathie. Es ist ebenfalls Hannah Arendt, die darauf verwiesen hat, dass es in der politischen Geschichte keine verändernde oder revolutionäre Kraft gab, die nicht durch die Leidenschaft des Mit-leidens ins Handeln kam. Im politischen Handeln wird das Mitleid zu Zorn und richtet sich auf die Ursache des Mitleids: die Ungerechtigkeit. Keinesfalls geht es also darum, in Mitleid zu verharren. Dies zu zeigen, war das grosse Projekt des Brechtschen Theaters – worauf ebenfalls Hannah Arendt nachdrücklich hingewiesen hat.

Es wurde sehr viel darüber spekuliert, ob der Antrieb hinter Angela Merkels Entscheid im Sommer, 2015 die Ostgrenze zu öffnen, Mitleid war. Wenn es das war, dann wäre ihre folgenschwere politische Entscheidung deshalb noch nicht falsch gewesen. Es gab in jenem Sommer in Deutschland, in Europa und in Afrika Millionen von Menschen, die Merkels Entscheid als Signal für eine offene, eine andere Zukunft aufnahmen. Als Akt des Position-Beziehens. Wer Position bezieht, auch das kann man aus Brechts Theater lernen, verwickelt sich in Widersprüche (im Gegensatz zu jenen, die auf der Parteinahme beharren). Merkels Positionsnahme ist aus den Widersprüchen nicht mehr herausgekommen. Sie hat soviel Mut gefordert («Wir schaffen das!») und soviel Hoffnung geweckt, dass das Handeln hinterherhinken musste. Auch darüber ist genügend berichtet worden. Auf der Brechtschen Bühne wären ihre Gegenspieler ein osteuropäischer Regierungschef, Horst Seehofer, Frauke Petry und ein Vertreter der Geflüchteten selber. Eventuell noch der türkische Ministerpräsident. Auf der Bühne Brechts wäre Angela Merkel eine tragische Heldin geworden, die dann, als sie von den grauenhaften Zuständen in den Libyschen Gefängnissen erfährt, verstummt und abtritt. Zum Beispiel könnte es ihr beim Wort «Flüchtlingsabkommen» die Sprache verschlagen. Denn das Leiden der Menschen in Libyen ist bei weitem grösser als jenes der Menschen damals an der Ostgrenze; so hat ihre Politik der Humanität ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verloren.

Bilder machen glauben

Interessant ist ein Kommentar des NZZ-Chefredaktors Erich Gujer vom 21. Oktober, in welchem er Angela Merkel zunächst wie einen Cowboy als ‹letzten Helden des milden Westens› in den Sonnenuntergang davonreiten sieht. Wie in einem Film. Und warum? Die Antwort steht weiter unten: «Mit der abrupten Öffnung der Ostgrenze gab die CDU zugleich die Idee des Staatsvolkes auf, das sich von anderen Völkern unterscheidet und aus dieser Distinktion seine Existenzberechtigung ableitet. Natürlich spürt das auch die Partei, aber weil sich noch niemand traut, Merkel hierfür direkt verantwortlich zu machen, bleibt das Thema eine offene Wunde», schreibt Gujer.
Bemerkenswert ist neben dem von einem einheitlichen Staatsvolk ausgehenden Konzept von Nationalstaat auch die implizite Bildlichkeit: die hereingelassenen Geflüchteten hätten Deutschland in seiner Existenzberechtigung angegriffen, offene Wunden klaffen nun ‹beim Thema›. Wunden können aber nicht an einem Thema klaffen, sondern nur an einem Körper. Wunden können mithin im Kontext des Politischen nur beschworen werden, wo der Staat als Körper gedacht wird. Das ist eine sehr alte Idee, sie stammt aus dem «Leviathan» von Hobbes und besagt dort aber ausdrücklich, dass die Idee vom Staatskörper eine Fabel, ein Konstrukt ist, wie es die Schweiz bestens kennt.
Natürlich hat ein Staat auch natürliche (geographische) Grenzen, aber diese können nicht verletzt werden wie ein menschlicher Körper. Seine Grenzen funktionieren auch ganz anders. Und vor allem täuschen die natürlichen Grenzen darüber hinweg, dass z.B. im transnationalen Handel die Grenzziehungen eines Staates fast gänzlich aufgehoben sind. So können wir in der Schweiz sehr ausführlich über die Burka als unverträgliche kulturelle ‹Distinktion› streiten und dabei ignorieren, wie schweizerische Investoren, Exporteure und Vermögensverwalter mit dem Saudi-Arabien-Geschäft reich werden und dabei sogar meist anonym bleiben – wie Bernhard Schär, Historiker und Experte für modernen Imperialismus, jüngst in einem Beitrag darlegt hat. Aber weil diese transnationalen Verstrickungen so abstrakt und unsichtbar bleiben, sind es die konkreten Gesten und Bilder, die umso mehr haften bleiben: Eine Politikerin öffnet aus Mitleid die Türen ihres Landes und lässt zu, dass ihr eigenes Volk in Angst und Schrecken versetzt wird. Mit ihrem Insistieren auf der ‹politischen Sünde› der Grenzöffnung treffen die Merkelkritiker einen sehr starken Nerv. Denn gerade weil die Grenzen des Staates letztlich imaginär sind, können Bilder dort ausserordentliche symbolische Wirkung tun. Die Bilder der scheinbar endlosen Ströme dunkelhäutiger junger Männer sind ins kollektive Unbewusste des «Staatsvolkes» eingefallen und wollen nicht mehr weichen, weil es tatsächlich starke Bilder waren. In Boulevardzeitungen wird diese symbolische Wirkung der Bilder von Geflüchteten und Flüchtenden bis dato auch offen als Desinformation gebraucht. Z.B. wenn es um die Einbürgerung der 3. Generation geht, zeigt die Basler Zeitung Bilder von jungen schwarzen Männern, die vor Simonetta Sommaruga Schlange stehen, um sich den Schweizer Pass zu erbetteln. Die allergrösste Mehrheit der 3. Generation Ausländer sind zwar Italiener und Italienerinnen, Spanier und Spanierinnen, aber weil wir glauben, was wir sehen, sind es hier plötzlich junge Afrikaner. Bilder aus dem kollektiven Unbewussten sind eben nur symbolisch oder phantasmatisch wahr, aber nicht faktisch.

Widersprüche statt Werbesprüche

Medien müssen, gerade weil sie durch ihre Boulevardisierung sich immer mehr eines Ethos entbinden, glauben machen. Sie erreichen damit das Gegenteil von Glaubwürdigkeit. Sie haben und brauchen wie die Werbung keine eigene Glaubwürdigkeit. Sie können glauben machen, weil wir längst nicht mehr glauben, was wir nicht sehen (was ursprünglich der Sinn des Glaubens ist), sondern primär das glauben, was als Bildnachricht oder eben Information zu uns kommt. Abstrakte politische Sprache, Allerweltsformeln und zweifelhafte Symbolisierungen können keine Glaubwürdigkeit geben. Für diese braucht es eine eigene und eindringliche Stimme der Vernunft. Und diese muss vom linken und linksliberalen Spektrum kommen. Um nochmals Brecht zu zitieren, nämlich die freundliche Wlassowa, die Mutter, die in ihrem Lied «mit der eigenen, der behutsamen Stimme berichtet, dass die Fahne der Vernunft rot ist» (Bertolt Brecht, Schriften zum Theater, Frankfurt/M. 1987, S.262f). Der Bericht muss also behutsam sein und eine eigene Stimme braucht es dafür, denn nur wer eine eigene Stimme hat, kann einräumen, dass politisches Handeln eher mit Widersprüchen als mit Werbesprüchen zu tun hat. Und dem kann es auch einmal die Sprache verschlagen.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst & Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.

  • Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Corina Lanfranchi, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.

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3 Meinungen

  • am 30.10.2017 um 12:35 Uhr
    Permalink

    Ganz ausgezeichnet!!

  • am 31.10.2017 um 06:55 Uhr
    Permalink

    Guten Morgen, besten Dank für die fundierten Gedanken. Die Politik von heute wird vom Geldadel gemacht, so glaube ich. Wir sind seit Jahren Medien ausgeliefert, die uns zu Gläubigen des neoliberalen Kapitalismus machen. Mit Vernunft geleiteten Entscheidungen in welche Richtung wir gehen wollen oder müssen, haben politische Weichstellungen schon lange nichts mehr zu tun. Wäre interessant zu wissen, wie zukünftige Generationen diese orientierungslose Epoche mal deuten werden (falls es den Homo Sapiens noch gibt).

  • am 31.10.2017 um 21:04 Uhr
    Permalink

    Das gleiche was für die Politik gilt, gilt auch für die Justiz.

    siehe

    https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2017/Joerg-Kachelmann-Verurteilt-trotz-Freispruch,kachelmann224.html

    "Falsche Behauptungen der Mannheimer Staatsanwaltschaft
    .
    .
    Die Mannheimer Staatsanwaltschaft ist es auch, die selbst mehr als ein Jahr nach dem Freispruch auf eine Presseanfrage antwortet, dass «am Griff des Messers DNA-Spuren festgestellt wurden, die von einer männlichen Person stammen und die mit der DNA-Typisierung des Herrn Kachelmann übereinstimmen.» Eine Behauptung, die sich schon während der Ermittlungen als falsch herausgestellt hatte.
    Kachelmann geht auch dagegen vor. Im Juli 2017 wird die Frage der vermeintlichen DNA-Spuren am Messer von einem Gericht geklärt. Die Richter befinden, dass die falsche Aussage der Staatsanwälte dazu führt, dass der Vorwurf der Vergewaltigung weiterhin an Kachelmann haften bleibt. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft unterzeichnet daraufhin eine Unterlassungserklärung."

    Richter stellen fest, das die Staatsanwaltschaft Mannschaft, mit kriminellen Machenschaften, einer Bürger diffamieren, das muss man sich mal vorstellen.
    Diese Leute haben in der Justiz absolut nichts verloren.

    siehe auch
    https://www.youtube.com/watch?v=n_emAF4cr6s

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