Calaisjungledemolitions

Regelmässig eskalierte die Situation im «Dschungel von Calais» – auch bei der Räumung © cc/AmirahBreen

«Pfefferspray gegen schlafende Migranten»

Tobias Tscherrig /  Human Rights Watch wirft der französischen Polizei unter anderem Verstösse gegen internationale Menschenrechtsabkommen vor.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) veröffentlichte Ende Juli einen düsteren Bericht über die gegenwärtige Lage der Migranten in Calais («C’est comme vivre en enfer: Abus policiers à Calais contre les migrants, enfants et adultes»). Die Vorwürfe im 47-seitigen Bericht beruhen vor allem auf persönlichen Gesprächen mit Asylsuchenden – und sie sind happig. Gemäss HRW zeigen sie, wie die Ordnungskräfte, vor allem die «Compagnies républicaines de sécurité (CRS)», auf Abschreckung setzten und setzen, um die Entstehung von neuen Lagern im Keim zu ersticken:

  • regelmässiger und routinierter Einsatz von Pfefferspray gegen Migranten jeglichen Alters;
  • regelmässiger Einsatz von Pfefferspray während die Migranten schlafen oder in anderen Situationen, in denen von den Migranten keine Gefahr/Drohungen ausgehen;
  • regelmässiger Einsatz von Tränengas;
  • Konfiszierung oder Zerstörung von Schlafsäcken, Decken und Kleidern;
  • Nahrung und Trinkwasser der Migranten werden von den Ordnungskräften mit Pfefferspray «behandelt», um diese aus der Region zu vertreiben;
  • die lokalen Behörden verhindern den Zugang zu Wasser, Nahrung und anderen überlebensnotwendigen Produkten;

Auch die Hilfsorganisationen würden von den Ordnungskräften nicht verschont, schreibt HRW. In einem Fall seien diese von bewaffneten Einsatzkräften eingekesselt worden. Ausserdem würden CRS-Einsatzkräfte regelmässig den Kontakt zwischen Hilfsorganisationen und Migranten verhindern oder erschweren und den Migranten die abgegebenen Nahrungsmittel «aus den Händen schlagen.» Sobald die Mitarbeiter der Hilfswerke diese Aktionen filmen oder fotografieren wollen, würden die Geräte ohne rechtliche Grundlagen eingezogen, die Daten angesehen und/oder gelöscht, steht im Bericht von HRW.

Fabien Sudry, der Präfekt des Verwaltungsbezirks Pas-de-Calais, wies die Vorwürfe postwendend als «erlogen und verleumderisch» zurück. Die Polizei respektiere die Regeln des Rechtsstaates. Das einzige Ziel sei die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.

Erneut sammeln sich Hunderte Migranten

Calais ist ein Brennpunkt der Flüchtlingskrise in Europa. Die Stadt kämpft seit über 15 Jahren mit massiven Migrationsproblemen. Nicht zuletzt wegen des Eurotunnels, der in der Nähe von Calais Frankreich mit Grossbritannien verbindet: Das Nadelöhr, durch das tausende Flüchtlinge nach Grossbritannien gelangen wollen, entpuppte sich für viele als Sackgasse. Es entstanden grosse illegale Lager, mit entsprechenden Problemen: mangelnde Hygiene, Platznot, kriegsähnliche Zustände. Im Oktober 2016 räumten die Behörden schliesslich das bekannteste und grösste dieser Lager, den «Dschungel von Calais.» Die Migranten und Flüchtlinge sollten danach auf rund 450 Aufnahmeeinrichtungen in Frankreich verteilt werden.

Damit konnten die Probleme von Calais aber nicht dauerhaft gelöst werden. Seitdem sammeln sich auf den Strassen der Region wieder Hunderte Migranten, die irgendwie nach Grossbritannien gelangen wollen. Die Lage ist noch immer prekär –auch wenn sich die Behörden bemühen, die Entstehung neuer Elendslager zu verhindern. So wurde nicht staatlichen Organisationen zum Beispiel untersagt, Duschen für Flüchtlinge bereitzustellen. In der Nähe der alten Camps wurden zudem Anschläge angebracht, die Hilfestellungen verbieten: «Reguläre, andauernde Präsenz von Individuen, die Essen an Migranten austeilten» würden in der Nähe der alten Camps den Frieden und die Sicherheit bedrohen, steht auf den Plakaten.

Migranten sollen sich nicht festsetzen
Am 23. Juni 2017 besuchte der Innenminister von Frankreich, Gérard Collomb (Parti socialiste), die französische Hafenstadt Calais. Dies, nachdem Menschenrechtsorganisationen die französische Regierung auf die humanitäre Situation der Flüchtlinge aufmerksam gemacht hatten. «Ich bin gekommen um mir selber ein Bild von der Lage zu machen», sagte Collomb anlässlich des Besuchs.

Der Innenminister fand deutliche Worte. Es müsse vermieden werden, dass sich wieder Migranten festsetzen, sagte er etwa. Damit bekräftigte er erneut seine ablehnende Haltung gegenüber der Eröffnung eines Empfangszentrums in Calais. Er wolle vor allem, dass sich die Geschichte nicht wiederhole, sagte Collomb und meinte die Situation im «Dschungel», die den Behörden in den letzten Jahren deutlich über den Kopf gewachsen war.

Collomb wies zudem die Kritik der Hilfsorganisationen zurück, welche das Vorgehen der Ordnungskräfte in Calais als übertrieben hart und als Abschreckungstaktik bezeichnen. Der Innenminister konterte mit der Aussage, es gebe nicht auf der einen Seite aggressive Polizisten und auf der anderen Seite Migranten, die von legendärer Sanftmut wären.

Da Frankreichs Regierung das Entstehen von neuen illegalen Lagern in Calais befürchtet, sollen in den nächsten Tagen in Nordfrankreich zwei neue Aufnahmezentren entstehen. Diese sollen Platz für insgesamt 300 Bewohner bieten. Zudem kündigte Collomb kürzlich eine Untersuchung zu den Vorwürfen von Polizeigewalt an.

Forderungen von Human Rights Watch
Damit gibt sich HRW nicht zufrieden. Die Menschenrechtsorganisation veröffentliche zuhanden der französischen Regierung sechs Empfehlungen:

  • Der Einsatz von Pfefferspray und anderen gewalttätigen Mitteln gegen schlafende Migranten oder gegen Migranten, die friedfertig sind, soll allen Ordnungskräften, insbesondere den CRS-Einheiten, durch alle Behörden verboten werden.
  • Die Verantwortlichen von Calais sollen sich an das Urteil des Verwaltungsgerichts von Lille halten, wonach unter anderem Wasserverteilstationen, Toiletten und Duschen zu installieren sind. Zukünftig müsse die unmenschliche Behandlung beendet werden, heisst es in der Urteilsbegründung. Die Untätigkeit der Behörden sei nicht rechtens.
  • Der Innenminister muss einen Ankunftsschalter in Calais installieren, damit die Asylgesuche vort Ort gestellt werden können. Als Alternative soll er den Transport in andere französische Städte erleichtern, damit an einem bestehenden Schalter die Asylgesuche gestellt werden können.
  • Die französische Regierung muss seine Pflichten beim Empfang der Flüchtlinge erfüllen, so wie es das europäische Abkommen vorsieht. Die Regierung muss allen Ankommenden, die während der Wartefrist über keine Unterkunft verfügen, eine solche zuweisen. Die Regierung sollte auch mit humanitären Gruppen und Nicht-Regierungs-Organisationen zusammenarbeiten, um dringende Unterkünfte zu organisieren. Vor allem im Norden Frankreichs existieren keine derartigen Not-Unterkünfte.
  • Die lokalen und nationalen Behörden müssen garantieren, dass unbegleitete minderjährige Asylsuchende schnellstmöglich identifiziert und über ihre Rechte informiert werden. Beim Stellen der Asylgesuche sollen sie juristische Hilfe in Anspruch nehmen können. Ausserdem sollen sie Zugang zu Kinderschutz-Zentren erhalten.
  • Die Polizei soll nach jeder Identitätskontrolle Quittungen abliefern, um sie dazu anzuhalten, fundierte Kontrollen verantwortungsbewusst durchzuführen. Auf diesen Quittungen sollen mindestens der Name und das Alter der kontrollierten Person, die legale Basis der Kontrolle, das Resultat der Kontrolle, sowie der Name und die Einheit der Polizeibeamten aufgeführt werden. So sieht es die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte vor.

Frankreich ist nicht auf der Höhe
Anfang August haben Frankreich und Grossbritannien die Flüchtlingskrise zu einer europäischen Priorität erklärt. Sie kündigten an, das Drama in Calais entschlossen zu beenden. Das soll mit einer Verschärfung der Massnahmen erreicht werden: Grossbritannien stellt unter anderem zusätzliche zehn Millionen Euro zur Grenzsicherung bereit und bot die Entsendung von Spürhunden, Überwachungskameras und die Errichtung höherer Absperrungen an. Frankreich schickte zusätzliche Polizisten nach Calais. Seitdem sinkt die Zahl der Versuche, illegal die Grenze zu überqueren. Im Gegenzug werden die Zusammenstösse zwischen französischen Polizisten und Migranten härter und enden oft mit dem Einsatz von chemischen Reizstoffen.

Dem Vorgehen der Ordnungskräfte in Calais stehen die Worte des französischen Präsidenten Emmanuel Macron (En Marche) gegenüber. Er versprach sowohl im Wahlkampf als auch nach seiner Wahl, die Flüchtlingskrise auf eine humane Weise lösen zu wollen. Davon ist bisher wenig zu sehen. Immerhin stellte Regierungschef Edouard Philippe (Les Républicains) im Juli einen Aktionsplan vor, der bis 2019 die Schaffung von 7500 zusätzlichen Unterkunftsplätzen für Asylbewerber und von 5000 Plätzen für anerkannte Flüchtlinge vorsieht. Demnach sollen bereits im nächsten Jahr 4000 zusätzliche Plätze für Asylbewerber entstehen. Ausserdem will Frankreichs Regierung die Bearbeitungszeiten für Asylanträge von derzeit 14 auf noch sechs Monate verkürzen. Philippe sagte im Juli, Frankreich sei bei der Aufnahme von Flüchtlingen «nicht auf der Höhe». Das müsse sich ändern.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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Eine Meinung zu

  • am 9.08.2017 um 11:56 Uhr
    Permalink

    Alarmierend dieser Bericht aus Frankreich. Aber es gibtt auch positive Nachrichten aus unserem Nachbarland:
    Der Biobauer Cédric Herrou verdient unsere Bewunderung. Er hat in Südfrankreich unweit der italienischen Grenze hunderten von Migranten aus Afrika geholfen, sich aus dem Flüchtlingselend in Italien zu befreien. Und was macht die Schweiz? „Das Boot ist voll“ heisst es erneut, und wir geben unnütz Geld aus für Nachtsichtgeräte, Drohnen und Helikopterflüge an der Grenze. Diese Haltung ist höchst unfair gegenüber unserem überlasteten Nachbarland und passt nicht zu unserer angeblich christlichen Kultur.
    Martin A. Liechti, Maur

    Freundlich grüsst Sie

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