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Gottesstaat Wallis will das Kreuz bis vor Bundesgericht tragen © cc

Kruzifix-Streit: Kanton Wallis auf dem Holzweg

Kurt Marti /  Der Staatsrat verwickelt sich im Kruzifix-Streit in fatale Widersprüche. Die kalte Dusche vor Bundesgericht ist so gut wie sicher.

Der OS-Lehrer Valentin Abgottspon erhielt im Oktober 2010 die fristlose Kündigung, weil er sich weigerte, ein Kruzifix im Klassenzimmer aufzuhängen. Die aufschiebende Wirkung wurde ihm durch die Walliser Regierung (Staatsrat) und durch das Kantonsgericht entzogen, so dass er nach den Herbstferien nicht mehr an der OS Stalden unterrichten durfte. Im Herbst 2011 lehnte der Staatsrat seine Beschwerde gegen die fristlose Entlassung ab. Dagegen erhob Abgottspon Beschwerde beim Kantonsgericht. Im letzten Januar war der Schriftwechsel abgeschlossen.

Kantonsgericht müsste dem Staatsrat in den Rücken fallen

Der Entscheid des Kantonsgerichtes wird bis spätestens im Juni erwartet. Alles andere als eine Ablehnung der Beschwerde wäre eine Riesenüberraschung. Das Kantonsgericht müsste sich in Widerspruch zu einem früheren Urteil in einem ähnlichen Fall setzen und vor allem müsste es dem Staatsrat in den Rücken fallen. Es ist also ziemlich sicher, dass der Gottesstaat Wallis seinen Kreuzweg bis zum bitteren Ende vor dem Bundesgericht durchziehen wird. Die Analyse der bisherigen Argumentation des Staatsrates, der Schulbehörde und des Kantonsgerichtes deutet stark darauf hin.

Staatsrat wischt Expertengutachen vom Tisch

In seinem ablehnenden Entscheid geht der Staatsrat erstaunlicherweise gar nicht auf das Expertengutachten ein, welches von Abgottspon und seinem Anwalt Peter Volken eingereicht wurde. Das 45-seitige Gutachten von Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel, wischt der Staatsrat mit einem einzigen Hinweis auf ein neustes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom Tisch.

Die Grosse Kammer des EGMR hat ein Urteil der kleinen Kammer aus dem Jahre 2009 revidiert und damit das Aufhängen von Kruzifixen in italienischen Schulzimmern nicht als Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gewertet. Die Entscheidung, Kruzifixe in den Klassenzimmern aufzuhängen, falle vielmehr in den Ermessensspielraum des Staates Italien.

Deshalb ist der Walliser Staatsrat der vorschnellen Ansicht, dem Gutachten von Professor Schefer sei «ein Grossteil der Grundlage entzogen» und folglich verzichtete er auf eine materielle Auseinandersetzung. Offenbar ist der Staatsrat der Meinung, durch das Strassburger Urteil sei ebenfalls das Urteil des Bundesgerichtes betroffen, welches 1990 das Aufhängen von Kruzifixen in Klassenzimmern für verfassungswidrig erklärte. Eine folgenschwere Fehleinschätzung.

Kompetenzzentrum für Menschenrechte ist anderer Meinung

Anderer Meinung ist das Schweizerische Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR), dessen Direktor Walter Kälin ist, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern: «Trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gilt die bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern der obligatorischen Schule das Gebot der religiösen Neutralität der Schule verletzt, weiterhin.» (siehe Link unten)

Der Europäische Gerichtshof habe nämlich «ausdrücklich festgehalten, dass die Entscheidung, ob in den Klassenzimmern öffentlicher Schulen Kruzifixe hängen sollen oder nicht, grundsätzlich in den Ermessenspielraum der Staaten falle und die diesbezüglichen Entscheidungen der Staaten zu respektieren seien. Staaten wie der Schweiz ist es damit ausdrücklich freigestellt, allfällige Kruzifixverbote beizubehalten.» Und folglich sei der Kruzifix-Entscheid des Bundesgerichtes aus dem Jahre 1990 durch den Gerichtshof nicht tangiert und nach wie vor gültig.

Widersprüchliche Darstellung des Walliser Staatsrates

Das Rechtsgutachten von Professor Schefer kommt zum Schluss, dass die fristlose Kündigung von Abgottspon die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) sowie die Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) verletzt (siehe Link). Statt sich konkret mit der Argumentation des Expertengutachtens zu befassen, verläuft sich der Walliser Staatsrat im Dickicht faktenwidriger und widersprüchlicher Behauptungen.

Beispielsweise erwähnt der Staatsrat kritiklos die Stellungnahme des Regionalrates der OS Stalden, welcher behauptet, man habe «zu keiner Zeit verlangt», Abgottspon könne «seine verfassungsmässigen Recht nicht wahrnehmen bzw. hätte entgegen seiner Ansicht religiöse Handlungen persönlich zu dulden oder vorzunehmen.» Insbesondere habe die Schulbehörde «keine Einwände dagegen erhoben, dass Herr Abgottspon das Kruzifix aus dem Klassenzimmer entfernte.» Laut Abgottspon ist diese Behauptung «alleine schon dadurch widerlegt und redlicherweise nicht mehr anzuführen, da die Aufforderung, wieder ein Kruzifix aufzuhängen, aktenkundig ist. Zudem wurde (auch dies aktenkundig) zwei Mal über Nacht ein Kruzifix in meinem Schulzimmer aufgehängt.»

Erstaunlicherweise widerlegt der Staatsrat die Darstellung des Regionalrates gleich selbst, in dem er schreibt, dass Abgottspon sich geweigert habe, das abgehängte Kruzifix wieder aufzuhängen. Also gab es doch Einwände gegen das Abhängen des Kruzifixes. Doch damit nicht genug: Am Schluss seines Entscheides erklärt der Staatsrat, der Regionalrat habe «zu Recht» festgehalten, dass sich das Urteil des Bundesgerichtes aus dem Jahre 1990 «lediglich zum Kruzifix im Lehrerzimmer äusserte» und nicht zum Kruzifix in anderen Räumlichkeiten der Schule.

Damit ist offensichtlich auch der Staatsrat der Meinung, dass das Urteil des Bundesgerichtes zumindest für den Fall des Kruzifixes im Klassenzimmer relevant ist und demzufolge die verfassungsmässig geschützte Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt wurde.

Nicht Abgottspon hat den Konflikt zuerst publik gemacht

Im weiteren behauptet der Staatsrat, Abgottspon habe «den Konflikt mit seiner Schule medial publik gemacht». Dabei sei es ihm nicht nur um die Glaubens- und Gewissensfreiheit gegangen, sondern um die Verbreitung der Ziele der Freidenker. Auch diese Darstellung wird durch die Fakten eindeutig widerlegt, wie Abgottspon und sein Anwalt in ihrer hängigen Beschwerde ans Kantonsgericht festhalten und wie jeder im Internet selbst nachprüfen kann (siehe Link unten).

Öffentlich wurde nämlich der Konflikt mit der Schule erst nachdem Egon Furrer, CVP-Grossrat und Gemeindepräsident von Stalden, im Grossen Rat eine entsprechende Frage an Erziehungsdirektor Claude Roch richtete. Schon am folgenden Tag behauptete der Metzgermeister Furrer im Regional-TV Kanal 9, ein OS-Lehrer verlange, die Kruzifixe und Kreuze «aus sämtlichen Unterrichtsräumen» zu entfernen. Weil Abgottspon die Kruzifixe nur aus seinem Klassenzimmer entfernte, sowie aus dem Lehrerzimmer und dem Aufsichtsraum entfernen wollte, war er nun gezwungen, Furrers faktenwidrige Behauptung öffentlich richtigzustellen.

Statt einen Maulkorb verpassen, endlich verfassungskonforme Zustände herstellen

Im Zusammenhang mit der Publizität des Falles hält das Rechtsgutachten von Professor Schefer fest, mit der fristlosen Entlassung habe die Schulbehörde die Äusserungen Abgottspons in den Medien sanktioniert und damit sei die Meinungsfreiheit gemäss Artikel 16 der Bundesverfassung verletzt. Laut Professor Schefer hat Abgottspon zu Recht auf «verfassungswidrige Praktiken der Schulbehörden hingewiesen». Dabei habe er in Form und Inhalt die Treupflicht zu seinem Arbeitgeber nicht verletzt.

An die Adresse der Schulbehörde hält Professor Schefer fest: Wenn sich die Schulbehörde ernsthaft Sorgen um das Ansehen der Schule mache, dann liege «das rechtmässige Mittel zum Schutz des Ansehens nicht in der Einschränkung entsprechender öffentlicher Äusserungen, sondern in der Herstellung verfassungskonformer Zustände». Im Klartext: Statt dem Freidenker Abgottspon einen Maulkorb zu verpassen, hätte die Schulbehörde die Bundesverfassung anwenden sollen.

Spektakuläre Spitzkehre des Walliser Staatsrates

Die Argumentation des Staatsrates setzt prioritär auf die Kruzifix-Debatte und lässt wohlweislich offen. ob allein das fehlende Diplom eine fristlose Kündigung gerechtfertigt hätte. Damit vollzieht er eine spektakuläre Spitzkehre, denn nach der fristlosen Entlassung lautete die Sprachregelung des Erziehungsdepartementes und der Schulbehörde klipp und klar: Das Kruzifix ist nicht der Grund der Kündigung.

Gegenüber der «NZZ am Sonntag» erklärte Erziehungsminister Claude Roch: «Das Kruzifix ist hier nicht die Frage.» Eine Woche zuvor hatte er gegenüber «Le Matin» noch erklärt, Abgottspon müsse auf Geheiss der Schulbehörde das Kreuz wieder aufhängen. Übrigens erfuhr Abgottspon die Bestätigung seiner fristlosen Entlassung erstmals aus der «NZZ am Sonntag». Soviel zur famosen Kommunikation der Walliser Behörden.

Walliser Schulgesetz widerspricht der Verfassung

Der Staatsrat und die Schulbehörde begründen ihren Entscheid mit dem veralteten Walliser Schulgesetz vom 2. Juli 1962, welches drei Monate vor Beginn des zweiten Vatikanischen Konzil in Kraft trat. Gemäss Artikel 3 ist es das Ziel der Schule, den Schüler «auf seine Aufgabe als Mensch und Christ vorzubereiten.» Laut Schulbehörde hat der Bundesrat und die Bundesversammlung «eine analoge Bestimmung des St. Galler Schulgesetzes, welche die Volksschule ‚auf christliche Grundsätze‘ verpflichtet, für verfassungskonform erklärt.»

Dieser Hinweis auf das St. Galler Schulgesetz steht im Entscheid des Staatsrates, ohne auf die entsprechende Argumentation des Gutachters Schefer einzugehen. Dieser zeigt nämlich klar auf, worin der Unterschied zwischen den «christlichen Grundsätzen» und dem «Mensch und Christ» liegt. Mit den «christlichen Grundsätzen» meinte der Bundesrat damals die Erziehung nach den Grundsätzen von Demokratie, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit und ausdrücklich kein spezifisch religiöses Bekenntnis.

Laut Schefer wird jedoch im Walliser Schulgesetz «spezifisch die christliche Religion hervorgehoben». Damit sei die Glaubensfreiheit und somit die konfessionelle Neutralität verletzt, was durch die gültige Rechtssprechung des Bundesgerichtes bestätigt werde.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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