Kommentar

Profillose Geschichtsschreibung

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Wolfgang Hafner /  Geschichtsforschung in autoritärer werdenden Zeiten – oder die historische Aufarbeitung der «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen».

Red. Wolfgang Hafner ist Sozial- und Wirtschaftshistoriker. Er war einer der ersten Historiker der neueren Generation, der die Aussage von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen für seine Arbeit verwendete. Hafner ist Autor von mehreren Büchern u.a. der Publikation «Pädagogik, Heime, Macht eine historische Analyse».

Ab den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts begann sich rund um den Zürcher Historiker Rudolf Braun allmählich die Sozialgeschichte zu etablieren, die neben der bisher idealistisch geprägten Geschichtsschreibung neue Felder für die Geschichtsforschung eröffnete. Diese Schule grenzte sich sowohl gegen fundamentalistische als auch gegen «basisdemokratische» Strömungen ab. Lokale Geschichtsaufarbeitung unter der Devise «Grabe wo du stehst», die damit verbundene «Oral history» – die mündlichen Zeugnisse von Zeitzeugen – gehörten nicht zu ihrem Repertoire.
Diese Befragungen waren innerhalb der Geschichtswissenschaft methodisch umstritten. Sie galten als zu journalistisch, zu voyeuristisch. Zeitzeugen wurden bloss von Volkskundlern oder Ethnologen befragt. Die Distanz zu der aktionistisch ausgeprägten Basisforschung sollte der universitären Geschichte ihren intellektuellen Reflexionsraum belassen. Und um diesen Reflexionsraum zu pflegen, war vor allem eine von sozialwissenschaftlichen Theorien geleitete Forschung angesagt, bei der die Strukturen und deren Veränderung – wie funktionieren die jeweiligen politischen Machtverhältnisse, warum und wie kommt wirtschaftliche Entwicklung zustande? – eine wichtige Rolle spielten.
Methoden der Betroffenheit
Die Zeiten haben sich geändert. «Oral history» ist heute in der Geschichtswissenschaft breit akzeptiert. Dafür ist der Freiraum und die damit verbundenen widersprüchlichen Diskurse im Rahmen einer Kulturgeschichte, die sich vorwiegend auf die Auswirkungen des historischen Prozesses auf die körperlichen Befindlichkeiten und dessen Verformungen konzentriert, weitgehend verschwunden. Aus der Betroffenheit Einzelner werden die Argumente für den Diskurs herausgefiltert. Die politische Machtfrage wird nicht mehr diskutiert.
Und mit der Einmittung der Geschichtsschreibung auf Gefühlslagen sowie einer auf politische Widerspruchslosigkeit ausgerichteten opportunistischen Geschichtsschreibung, hat auch die basisorientierte Geschichtsforschung ihre Ausrichtung geändert. Sie rutscht – vor allem mit der Methode der «Oral history» – in die Nähe eines Modells, wie es in den 80er-Jahren in Singapur betrieben wurde: Der damalige autoritäre Präsident Lee Kuan Yew liess in breitem Umfang auf Interviews aufbauende historische Stadtteilforschung durchführen um der «Unordnung» in seinem Staat mit Hilfe einer identitätsstiftenden Forschung zu begegnen. Geschichte war Teil einer sozialtechnokratischen Befriedungstechnologie. Und die Historiker und Historikerinnen mutierten zu «GemeinwesenarbeiterInnen» im Dienste einer Stabilisierung staatlicher Herrschaft, beziehungsweise des gerade bestehenden Herrschaftssystems und dessen Werten.
Gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen
Ein Beispiel dieser Art von Geschichtsschreibung zeigt sich hierzulande etwa im Zusammenhang mit der Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen durch das EJPD. Diese Aufarbeitung beschränkt sich weitgehend auf das tragische Einzelschicksal und den möglichen Einfluss staatlicher Stellen und Gesetze.
Es waren aber gesellschaftliche Strukturen, es war die ökonomische Lebenssituation der Unterschichten, welche die Voraussetzung bildete für Verdingungen und Zwangseinweisungen. Und diese Verarmung entstand durch ein wirtschaftliches Verteilungssystem, das auf einem relativ tiefen Niveau startete, gleichzeitig aber auch grosse Investitionsvorhaben (Aufbau industrieller Produktionsanlagen, Kraftwerksbau, Strassen, Eisenbahnen) zu Lasten des Konsums förderte.
Flankiert wurde dieser erzwungene Konsumverzicht durch ein föderales System, das kleinräumig organisiert war und sich so wie ein «gesellschaftliches Zwangssystem» (Erich Gruner) auswirkte. Dieses Zwangssystem war auch nach dem zweiten Weltkrieg nach einem patriarchalen Weltbild, einer «soldatischen» Vorstellung von Ehre und Moral («der männliche Mann» – so der Heilpädagoge Heinrich Hanselmann) sowie der Unterdrückung der Frauen organisiert. Folgerichtig wurden etwa «liederliche» Frauen – das heisst vor allem unverheiratete Mütter – dem Regime der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen unterworfen.
Aber letztlich blieben die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen von untergeordneter Bedeutung. Es war die Armut, welche zur Fremdplatzierung führte: Rund zwei Drittel aller Fremdplatzierungen dürften durch Eltern oder Elternteile erfolgt sein.
Der Blick aufs Ganze geht verloren
Im Zeichen der gemeinwesenorientierten Empörungsbewirtschaftung geht aber der Blick auf die strukturellen Rahmenbedingungen und die damit verbundenen moralingesättigten Leitbilder verloren. Geschichtsschreibung dieser Art reiht sich nahtlos ein in eventorientierte historische Forschung, die am vergangenen Ereignis klebt ohne eigenständige Strategien zu entwickeln. Damit verschwinden intellektuelle Resonanz- und Freiräume; Korrektive, in denen langfristige Perspektiven entwickelt werden, gibt es kaum mehr.


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