TahrirPlatz

Fernsehbilder von Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo vom 1. Dezember 2012 © srf

Erich Gysling: Warum die Islamisten gewinnen (1)

Erich Gysling /  Fernsehbilder vom Tahrir-Platz in Kairo täuschen darüber hinweg, dass die Demonstranten nur eine kleine Minderheit repräsentieren.

Als vor nunmehr fast zwei Jahren die Massenproteste gegen die autoritären Führer in der Arabischen Welt begannen, ging das westliche Ausland allgemein davon aus: Nun kommt eine grundlegende Neuordnung, nun beginnt der Nahe und der Mittlere Osten, sich zu demokratisieren. Wer skeptisch darauf hinwies, dass möglicherweise andere Kräfte als die fortschrittlich gesinnten Demonstranten auf dem Kairoer Tahrir-Platz und anderen Zentren des Umbruchs letztendlich Gewinner der Revolution, der «Arabellion», sein könnten, wurde als Schwarzmaler kritisiert.
Rückhalt des Islam im Volk
Erste Anzeichen zugunsten islamischer Kräfte gab es ab dem Sommer 2011, als in Tunesien die an-Nahda-Partei die meisten Mandate bei den Wahlen gewann. Im Zeitraum zwischen Dezember 2011 und Januar 2012 folgten die Wahlen in Ägypten – mit dem Resultat, dass die so genannt gemässigten Muslimbrüder 47 Stimmenprozente eroberten und die radikaleren Salafisten zusätzliche 24 Prozent. Macht zusammen 71 Prozent. Dass die ägyptische Justiz diesen Urnengang dann als ungültig erklärte (was Präsident Mursi jetzt wieder in Abrede stellt), ist hinsichtlich der Stimmung im Volk von untergeordneter Bedeutung: Die ägyptischen Wahlen zeigten mit aller Deutlichkeit, wie stark der Rückhalt islamischer und islamistischer Parteien im Volk mit seinen 80 Millionen Menschen ist.
Von Tunesien bis Syrien
Das gilt nicht nur für Ägypten und das bereits erwähnte Tunesien – auch im Nach-Ghaddafi-Libyen spielen Strömungen zugunsten der Shari’a, des islamischen Rechts, eine wesentliche Rolle, und wahrscheinlich gilt das Gleiche für die noch immer schwerwiegend zersplitterten Anti-Assad-Kräfte in Syrien. Und, unterschiedlich schattiert, präsentiert sich die Lage in an-deren Ländern.
Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo vertreten eine kleine Minderheit
Man darf trotzdem nicht sagen, der «arabische Frühling» oder die «Arabellion» sei nichts als eine – salopp formuliert – Fata Morgana. Denn ein tief greifender Umbruch, eine Revolution vollzieht sich nicht im Zeitraum von knapp zwei Jahren, sondern, das lehrt die Geschichte mit Blick auf andere Kulturen, in vielleicht zehn Jahren oder mehr.
Aber wir können dennoch klar feststellen, dass jene, die sich mutig gegen die alten Autokraten stellten, nicht gleichbedeutend sind mit den Mehrheiten in den verschiedenen Ländern. Etwas zugespitzt könnte man sogar folgende Rechnung aufstellen: Auf auf den Revolutionsplätzen aktiv war, wie, als hervorragendes Beispiel, auf dem Tahrir in Kairo, repräsentierte nur eine Minderheit von einigen Prozenten innerhalb der betreffenden Gesellschaft.
Die Schätzung hinsichtlich Ägyptens besagt: Im ganzen Land engagierten sich offen vielleicht zwei Millionen Menschen – das wäre ein Vierzigstel der Gesamtbevölkerung. Und interessanterweise ist es so, dass auch bei den Wahlen in Ägypten nur etwa zwei bis drei Prozent der Kandidaten der «Revolutionäre» erfolgreich waren, d.h. dass sie, im Endeffekt, lediglich eine kleine Minderheit darstellen oder darstellten.
Darauf beruft sich nun natürlich Präsident Mursi, der den Muslimbrüdern ein breites Aktionsfeld verschaffen will. Und dessen kürzliche Entscheidungen Anlass zur Frage geben, ob die Muslimbrüder wirklich, wie von vielen Seiten noch vor wenigen Monaten deklariert, etwa ebenso gemässigt sind wie die Parteigänger der AKP in der Türkei – denen man zugute hält, dass ihnen an einer Harmonisierung von islamischen und weltlich-modernen Ideen gelegen sei.
Weshalb religiöse Parteien so viel Zustimmung finden
Weshalb finden denn der Islam, islamische Parteien ein derart breites Echo, so viel Zustimmung? Es gibt dafür verschiedene Gründe:
Für Viele, auch für nicht intensiv Gläubige, beinhaltet der Islam erstens geistige Sicherheit und zweitens soziale Gerechtigkeit. Sicherheit in dem Sinne, als man, das ist eine verbreitete Sichtweise, in diesem Leben als echter Muslim nichts falsch machen kann und sich so auch «einen Platz im Jenseits» sichert. Man verzichtet zwar, folgt man diesem Weg, auf einen Teil seiner Freiheit, aber das scheint untergeordnet gegenüber dem Ziel der Sicherheit.
Der Westen wird da wie in einem Spiegelbild als Gegenwelt gesehen: Viel Freiheit, wenig Sicherheit – wenigstens wenig moralische, ethische, wenig Gewissheits-Sicherheit. So betrachtet ist der Westen mit seinen Wertvorstellungen ebenso sehr Verführung wie Gefahr.

Das Thema soziale Gerechtigkeit ist möglicherweise noch wichtiger, versucht man, eine Gesellschaft als ganzen Körper zu verstehen. Im Islam hat das Ziel der sozialen Gerechtigkeit tatsächlich einen hohen Stellenwert, und schaut man sich die «Leistungsbilanz» der Muslimbrüder in der Mubarak-Zeit an (da waren sie zwar als sozial engagierte Institution akzeptiert, als politische Kraft aber verboten), kann man tatsächlich feststellen: die «Brüder» erwiesen sich als korruptionsresistent und als effizient, wann immer sie Dienste für die Benachteiligten anbieten konnten. Ihre Ambulanzen waren zur Stelle, wenn es Katastrophen gab. Den Studentinnen in Kairo boten sie Minibus-Transporte an, damit sie nicht mehr «entwürdigt» in den mit Männern überfüllten öffentlichen Bussen von den weit draussen liegenden Vorstädten ins Zentrum fahren mussten.
In Gaza erwies sich die islamistische Hamas ähnlich un-korrupt – das machte sie ja sogar wahlfähig für liberale Palästinenser. Und ähnlich wie die Muslimbrüder in Ägypten profitierten, ein weiteres Beispiel, die in der Ben Ali-Zeit Tunesiens diskriminierten Anhänger der Islamistenpartei an-Nahda.
Die erlittene Repressionen von Seiten der Regime kommt, kam zumindest, in den Monaten des Umbruchs, der Reputation von islamistischen Parteien auf jeden Fall zugute.

Es folgt Teil 2: «Aufstände gegen Pfründenwirtschaft und Korruption»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Erich Gysling, früherer Chefredaktor von TV DRS und Leiter von Rundschau und Tagesschau, jetzt Chefredaktor des in sechs Sprachen erscheinenden Buchs "Weltrundschau", spezialisierte sich als Journalist auf den Nahen Osten. Nach einem Arabisch-Studium publizierte er drei Bücher über die Beziehungen zwischen der mittelöstlichen und der westlichen Welt. Er bereist die Region (inklusive Iran) weiterhin regelmässig.

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