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Spiel-Experte Synes Ernst © cc

Der Spieler: Zeit, Spiel und Lebenskunst

Synes Ernst. Der Spieler /  Die Umstellung auf die Sommerzeit regt zum Nachdenken über die Zeit an. Spielende Menschen haben ein besonderes Verhältnis dazu.

Red. Der «Spieler» Synes Ernst macht bis Mitte Januar Pause. Deshalb veröffentlichen wir unterdessen einige frühere «Spieler»-Beiträge, die besondere Aufmerksamkeit gefunden hatten. Diesmal vom 23. März 2014.
In der Nacht von heute Samstag auf morgen Sonntag werden unsere Uhren auf Sommerzeit umgestellt. Eine Stunde weniger, denken wir, dabei hätten wir doch so viel zu tun, und mit Schrecken stellen wir einmal mehr fest, dass die Zeit niemals reichen wird, um sämtliche Projekte, Pläne und Pflichten zu erfüllen (selbst dann nicht, wenn es die Sommerzeit nicht gäbe). Uns fehlt je länger, je mehr die Zeit. Und trotzdem geben wir die Hoffnung nicht auf, dass sich dies einmal ändern würde, dass wir die Zeit haben, um alles zu erledigen, was wir uns vorgenommen haben oder was uns auferlegt worden ist. Dass wir die Zeit haben, wozu wir Lust haben, und dass wir die Zeit haben, um frei und endlich Mensch zu sein. Es sind nicht nur berufstätige Menschen, die solches hoffen, sondern auch Menschen, die im so genannten Ruhestand leben.

Solche Hoffnungen müssen immer Hoffnungen bleiben. Denn es gehört zu den Grundbedingungen unseres Lebens, dass unsere Zeit begrenzt ist. Unser irdisches Leben hat einen Anfang und ein Ende. Deshalb haben wir Menschen nie genügend Zeit. Vor allem haben wir nie genügend Zeit, um die scheinbar unendlichen Möglichkeiten, die uns die Gegenwart bietet, auszuprobieren und auszuleben. Dort die Unendlichkeit der Möglichkeiten, hier die Begrenztheit der Zeit, die uns zur Verfügung steht: Wir dürfen uns nicht wundern, dass wir unter Dauerstress stehen und dass die Klage, wir hätten kaum noch Zeit weder für uns selber noch für die anderen, zur pessimistischen Dauermelodie der Moderne geworden ist.

Sklaven der Zeit
Bewusst oder unbewusst werden wir je länger je mehr zu Sklaven der Zeit. Die Freiheit – ein Kernbegriff der Moderne – droht uns ausgerechnet im wohl «freiesten» Moment, den es in der Geschichte je gegeben hat, abhanden zu kommen. Als Gejagte und Gehetzte haben wir die Herrschaft über die Zeit verloren. Wir sind nicht mehr autonom und spüren immer stärker, dass unser Leben von aussen bestimmt wird und wir einer Wirklichkeit ausgeliefert sind, die immer komplexer,, schwieriger und für uns unfassbarer wird.

Eine solche Entwicklung muss krank machen. Ich bin der Meinung, dass es höchste Zeit ist, nach Möglichkeiten zu suchen, die uns helfen, den fatalen Kreis zu durchbrechen. Es gibt verschiedene Wege. Eine Voraussetzung ist ihnen jedoch gemeinsam: Sie verdrängen die Endlichkeit des menschlichen Lebens nicht, sondern akzeptieren sie als feste Tatsache. Entscheidend vor diesem Hintergrund ist, dass wir wieder lernen, unsere Zeit bewusst zu gebrauchen, um sie zu nutzen, «und sie nicht im blossen Verbrauch zu verlieren», wie Wilhelm Schmid in seinem lesenswerten Buch «Philosophie der Lebenskunst» geschrieben hat. Der vielbeschäftigte moderne Mensch versteht sich nicht aufs Leben, weil er es nicht versteht, seine Zeit bewusst zu gebrauchen. Stattdessen wird er getrieben, er wird gelebt. Wer die Lebenskunst beherrscht und sein Leben autonom führt, wählt mit Klugheit und Bedacht unter den vorhandenen Möglichkeiten einige wenige aus und versucht, diese zu realisieren. Allem anderen schaut er mehr oder weniger gelassen und heiter entgegen.

Ausdruck eines erfüllten Lebens
Heiterkeit und Gelassenheit – zwei scheinbar altmodische Begriffe! Heiterkeit steht jedoch nicht für Jubel und Trubel, also die Merkmale unserer Gesellschaft, die überall Fun und Spass haben will. Und Gelassenheit ist alles andere als jene zeitgenössische Gleichgültigkeit, aus der letztlich nur jener übersteigerte Individualismus spricht, der sich in den vergangenen Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften breit gemacht hat. Heiterkeit und Gelassenheit sind vielmehr Ausdruck eines erfüllten Lebens, das heisst, eines selbstbestimmten und deshalb freien Lebens. Menschen, die heiter und gelassen sind, haben nicht das Gefühl, gelebt zu werden, sondern sind Herren ihrer Zeit. Sie stehen, wie man sagt, über den Dingen.

Wo finden sich solche Menschen? Ich zähle Menschen, die spielen, zu dieser Kategorie. Denn spielende Menschen bestimmen über ihre Zeit. Wer allein oder mit anderen spielen will, unterbricht ganz bewusst seinen Alltag, das heisst, den normalen Gang der Zeit. Er handelt frei und souverän. Um zu spielen, müssen wir uns an bestimmte Regeln halten, ohne die kein Spiel möglich ist. Diese Regeln gestalten das Spiel als eigene Welt mit eigenem Ort und – was in diesem Zusammenhang wichtig ist – mit eigener Zeit. Wer spielt, ist in doppeltem Sinn Herr seiner Zeit. Denn er verfügt sowohl über die Spielzeit als auch über seine eigene Lebenszeit.

Spielen ist mehr als billige Unterhaltung. Spielen ist für mich Ausdruck von Lebenskunst. Das heisst eines freien, selbstbestimmten Lebens. Menschen, die spielen, müssen (oder müssten) demzufolge Lebenskünstler sein. Das sind Menschen, die wissen, dass ihr Leben begrenzt ist und es deshalb ganz bewusst führen, um die Möglichkeiten, die in ihm stecken, nicht zu vergeuden. Eigentlich müssen Spielerinnen und Spieler Menschen sein, die im grauen Alltag durch Heiterkeit und Gelassenheit auffallen. Denn sie haben die Zeit im Griff. Wenn ich aber ehrlich bin, sind Heiterkeit und Gelassenheit nicht gerade jene Eigenschaften, die in Spielerkreisen an oberster Stelle stehen. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass gerade bei sehr engagierten Gesellschaftsspielern Spielen mehr dem mühsamen Abarbeiten von umfangreichen Spielregeln gleicht als der lustvollen Interpretation einer spielerischen Vorlage.

Spielen ist eine angeblich nutzlose Beschäftigung. Aber sie ist von existenziellem Wert. Nicht nur für Kinder, die ihre Persönlichkeit übers Spielen entwickeln. Sondern auch für Erwachsene, die im Spiel erfahren, was freies und selbstbestimmtes Leben ist.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt.

Alle Beitrage im DOSSIER: «Der Spieler: Alle Beiträge»

Zum Infosperber-Dossier:

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Der Spieler: Alle Beiträge

Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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