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Synes Ernst, Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Innovation auf ausgefahrenen Geleisen

Synes Ernst. Der Spieler /  Reisespiele gehören zum eisernen Bestand unserer Spielkultur. Das neue „Schweizer Eisenbahnspiel“ will innovative Wege gehen.

„Eisenbahnspiele gehen mit der Zeit. Damit wird es denkbar, dass auch der Gotthard-Basistunnel spielerisch noch zu Ehren kommt. Aber bitte nicht mit einem doofen Würfel-Laufspiel … Das hätte das Wunderwerk der Technik nicht verdient!“ Wenige Tage vor der Eröffnung des Neat-Basistunnels durch den Gotthard am 1. Juni 2016 hatte ich mich an dieser Stelle mit der Gattung der Eisenbahnspiele befasst (Link am Schluss dieses Beitrags). Meine Prognose ist nicht in Erfüllung gegangen, und damit auch die darin geäusserte Befürchtung nicht, glücklicherweise.

Marketingbotschaft vor Spielidee

Diese hatte ich nicht aus dem Blauen, sondern aus der Erfahrung heraus formuliert, wonach Schweizer Verlage in der Regel den Marketinggedanken über den spielerischen Gehalt stellen, wenn sie einen Titel zu einem typisch schweizerischen Thema produzieren. Besonders gilt dies für die Bereiche Tourismus, Reisen, Eisenbahnen, was nicht von ungefähr kommt: Die ersten Spiele mit dem Titel „Reise durch die Schweiz“ entstanden zur gleichen Zeit, als der Schweizer Tourismus in der so genannten „Belle Epoque“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts seinen ersten Höhepunkt erlebte. Neben technischen Errungenschaften, wie etwa die eben eröffnete Gotthardbahn oder Dampfschiffe auf dem Vierwaldstättersee, zeigten die Spiele die Sehenswürdigkeiten in den Städten und die Schönheit der Alpen. Die Absicht hinter diesen Produkten war klar: Wer es spielte, sollte nicht nur mit seinen Figuren durch die Schweiz reisen, sondern viel lieber als Touristin oder Tourist in dieses technisch aufgeschlossene und schöne Land kommen. Es handelte sich um Werbespiele.

Dass die ersten Bahn- und Reisespiele einfache Würfel-Laufspiele waren, darf uns nicht verwundern: Es gab im Bereich der Brettspiele nichts Anderes. Angesichts des heutigen Reichtums an Spielideen vergessen wir gerne, dass die Spielelandschaft vor allem im deutschsprachigen Europa bis in die 1960er Jahre eine Ödnis war, weshalb die Gattung der Bahn- und Reisespiele auch nicht aus dem Rahmen fiel. Erst ab den 1970er Jahren setzte in den angelsächsischen Ländern in diesem Bereich eine Entwicklung ein, die Spiele wie „Zug und Zug“ (2004 „Spiel des Jahres“) hervorbrachte. Damit war der Beweis erbracht, dass anspruchsvolle Bahn- und Reisespiele mit komplexeren Mechanismen und höheren taktischen Herausforderungen durchaus möglich sind. „Zug um Zug“ ist eines der erolgreichsten Brettspiele der vergangenen Jahre, ein echter Klassiker.

Willkommene Partner

Bleibt die Frage: Gilt das auch für Titel, die von einem Verlag zusammen mit einem Sponsor publiziert werden? Solche Partnerschaften sind nicht selten. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen verschlingen Entwicklung und Produktion eines Spiels enorm viel Geld. Im relativ eng begrenzten Markt Schweiz können die Kosten über den Verkauf kaum hereingespielt werden. Folglich sind Partner, die sich finanziell beteiligen, sehr willkommen. Zum andern verfügen Sponsoren, wie etwa SBB oder Swiss, über eine Marketingmacht, von der selbst grössere Verlage nur träumen können. Trägt ein Spiel das SBB-Logo, profitiert es automatisch vom Ruf, den das Unternehmen in der Öffentlichkeit hat. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass sich potentielle Käufer oder Käuferinnen sagen: „Das Spiel muss gut sein, da es sich die SBB nicht leisten kann, ihren Namen für ein schlechtes Produkt herzugeben.“ Umgekehrt verfolgen auch die Sponsoren ihre eigenen Interessen: Für sie ist das Spiel einer von verschiedenen Kanälen, um ihre Botschaft unter die Leute zu bringen. Da der Begriff „Spielen“ sehr positiv belegt ist, sind Spiele a priori ein sympathischer Werbeträger. Für die erfolgreiche Vermittlung der (Werbe-)Botschaft gilt jedoch eine klare Bedingung: Sie muss eingängig formuliert sein, direkt und ohne Umwege. Hat da ein Spiel, das gewisse Ansprüche stellt, überhaupt eine Chance?

Mit all diesen Überlegungen im Hinterkopf habe ich mich mit dem „Schweizer Eisenbahnspiel“ auseinandergesetzt, das unlängst im Verlag carta media erschienen ist. Entstanden ist es in Zusammenarbeit mit der SBB, was ihm zusammen mit der vollständigen Titelbezeichnung „Das Schweizer Eisenbahnspiel“ einen quasi-offiziösen Aufritt verleiht. Das Cover mit dem „FV Dosto“, einem der künftigen Paradezüge der SBB (der bis jetzt allerdings mehr negative als positive Schlagzeilen provoziert hat), unterstreicht diesen Anspruch. Mein Interesse geweckt hatte jedoch insbesondere die Aussage von carta media-Inhaber und -Geschäftsführer Thomas Vock: „Die innovative Spielidee unterscheidet sich von den herkömmlichen Reisespielen.“ Aha, dachte ich, da versucht sich einer von den Fesseln der Gattung und der Geschichte zu befreien. Ist ihm das gelungen?

Innovative Elemente

Nicht ganz. Denn Titel und Cover entsprechen vollständig den alten Mustern. Sie geben keinen einzigen Hinweis auf die Innovationen, die der Verleger verspricht. Wer etwas Solides, Bekanntes oder Bewährtes sucht, kommt hier auf seine Rechnung, wer aber auf Neues, Innovatives oder Überraschendes aus ist, hingegen nicht. Eine vertane Chance, denn „Das Schweizer Eisenbahnspiel“ enthält tatsächlich einige Elemente, die es vom Würfeln-Ziehen-Mechanismus gängiger Reisespiele abheben. Es geht zwar letztlich auch hier darum, möglichst rasch eine der vier möglichen Bahnstrecken quer oder längs durch die Schweiz (Chur – Siders, Schaffhausen – Genf, Chiasso – Basel oder Locarno – Basel) zu absolvieren. Für uns war dies aber eher eben Nebenschauplatz. Denn wir haben uns ganz auf das konzentriert, was den eigentlichen Kern dieses Spiels ausmacht – die Art und Weise, wie die Zugweiten der einzelnen Spielfiguren bestimmt werden. Sie ist für Reisespiele aus Schweizer Verlagen tatsächlich innovativ.

Zur Festlegug der Zugweiten muss jeder Spieler die seine Beginn jeder Runde nach dem Zufallsprinzip ausgelegten neun Wagenkarten in die richtige (aufsteigende) Reihenfolge bringen. Jede Wagenkarte trägt eine Zahl zwischen 2 und 70. Was zum Rundenbeginn so aussieht: Lokomotive 28, 53, 2, 17, 69, 25, 26, 44, 61, Schlusswagen, sollte sich am Ende der Runde so präsentieren: Lokomotive, 2, 17, 25, 26, 28, 44, 53, 61, 69, Schlusswagen. Zu diesem Ergebnis kommt man, indem man, wenn man an der Reihe ist, eine seiner Karten abwirft und sie durch eine andere ersetzt, die man entweder von einem offenen oder verdeckten Stapel nimmt. Bei diesem Tauschmanöver sollte man möglichst wenig dem Zufall überlassen, sondern darauf achten, zu jenen Karten zu kommen, welche die eigene Zugkomposition am besten vervollständigen. Entscheidend ist dabei, dass man nicht jene Karten ablegt, auf welche die liebe Konkurrrenz gerade gewartet hat. Es ist daher dringend empfohlen, die Mitspielenden beim Ordnen ihres Wagen-Durcheinanders zu beobachten und seine Taktik entsprechend auszurichten. Dieses Geben und Nehmen von Karten kann durchaus Emotionen auslösen, gerade im Spiel zu viert. Wie habe ich mich schon geärgert, weil eine Spielerin mir eine Karte, die so toll in mein Schema gepasst hätte, vor der Nase weggeschnappt hatte! Wer würde sich da bei der nächstbesten Gelegenheit nicht liebend gerne revanchieren? Nur diese Gelegenheit muss sich erst noch bieten … Notfalls kann auch eine der wenigen Ereigniskarten für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen.

Je länger mein Zug, desto mehr Schritte kann ich mit meiner Figur auf dem Spielplan zurücklegen. Das Maximum pro Runde sind neun Punkte. Diese bekommt, wer sein Chaos am schnellsten geordnet hat. Dieses Ordnungsprinzip ist seit den 1980er Jahren als „Racko“-Prinzip bekannt. Der Mechanismus war damals erstmals in einem Ravensburger-Kartenspiel angewendet worden, das diesen Namen trug. Eine ähnliche Spielidee steckt übrigens in „Game of Trains“ (Abacus), in dem die Spieler einzelne Waggons nach bestimmten Regeln zu ganzen Zügen umrangieren müssen. Abstrakt umgesetzt wird das taktisch anspruchsvolle Sortierprinzip schliesslich in „Completto“ (Schmidt Spiele).

Unnötige Quizfragen

Zurück zum „Eisenbahnspiel“: Zusatzpunkte und damit ein schelleres Vorankommen kann man auch gewinnen, indem man Quizfragen zu Schweizer Städten richtig beantwortet. Ich finde dies problematisch, weil mir das Niveau der Fragen für Kinder zwischen acht und zehn Jahren zu hoch scheint und so eine mögliche Zielgruppe, die sich für das Thema sehr wohl interessieren könnte, vom Spiel ausgeschlossen wird. Schade.

Das Wissenselement stört mich aber noch aus einem anderen Grund: Vor mehr als dreissig Jahren hat Erwin Glonnegger, Spielekenner und früherer Leiter des Ravensburger Spieleverlags, in einem Vortrag gesagt, es sei eine typische Unart von Schweizer Spieleherstellern, „dass sie versuchten, hinterrücks immer noch etwas Pädagogisches in ihre Produkte hineinzupacken“. Für mich ist diese Fragerei ein unötiger Rückfall in die Steinzeit schweizerischer Reisespiele und trübt den sonst guten Eindruck, den ich vom „Eisenbahnspiel“ gewonnen habe.

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Das Schweizer Eisenbahnspiel. Taktik-, Lauf- und Wissenspiel für zwei bis vier Spielerinnen und Spieler ab 9 Jahren. Verlag carta media, ca. Fr. 40.- (Leider ohne konkrete Angaben zu Autorschaft oder Verantwortlichen für die Spielidee!)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

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