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Synes Ernst, Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Ein idealtypischer Preisträger

Synes Ernst. Der Spieler /  „Azul“ setzt die Reihe der Legepiele fort, die es bis zum „Spiel des Jahres“ geschafft haben. Eine Wahl, die zu erwarten war.

Selten hat eine Preisverleihung von „Spiel des Jahres“ so wenig Wellen geworfen wie die Ausgabe 2018, die am 23. Juli in Berlin über die Bühne gegangen ist. „Keine Überraschungen“, bilanzierten die spielaffinen Online-Medien praktisch unisono. Das war nicht immer so. Was hat sich die Jury seit 1979, als sie mit „Hase und Igel“ den ersten Preisträger erkor, nicht alles anhören müssen! Als ehemaliges Mitglied des Gremiums (1982 – 2007) erinnere ich mich an die zum Teil massive Kritik an den Wahlergebnissen, so an den nach der Wahl von „Tikal“ (1999) erhobenen Vorwurf, die Jury würde vollständig an den Bedürfnissen des breiten Publikums vorbei entscheiden. Oder an das wehleidige Gejammer aus der Branche, nachdem das ungewöhnliche Kartenspiel „Hanabi“ 2013 den begehrten Titel errungen hatte. Mit solchen Spielen mache die Jury das Geschäft kaputt, hiess es.

Ein Verführer zum Spielen

Und jetzt? Nichts dergleichen. Das hat sehr viel mit dem Titel zu tun, der 2018 den „Spiele-Oscar“ gewonnen hat. Denn das taktische Legespiel „Azul“ (ausführliche Besprechung siehe Link unten) ist meines Erachtens ein idealtypischer Preisträger. Als solcher hat er einen Hauptzweck zu erfüllen, der darin besteht, möglichst viele Menschen an den Tisch zu locken und zum Spielen zu verführen. Das gelingt ihm, wenn

  • er mit einem spannenden Thema auf sich aufmerksam macht, wenn dieses Thema den Spielablauf unterstützt, Material und Gestaltung haptische und ästhetische Bedürfnisse befriedigen,
  • der Einstieg einfach und das Geschehen auf dem Spielbrett quasi selbsterklärend ist,
  • bei aller Einfachheit eine gewisse Spieltiefe vorhanden ist,
  • die taktischen Möglichkeiten die Spielenden herausfordern, nicht aber überfordern,
  • die Einflussmöglichkeiten gut ausbalanciert sind,
  • immer wieder Überraschungen langweilige Routinen durchbrechen und starke Emotionen freisetzen,
  • und ein Spannungsbogen vom Anfang bis zum Ende die Teilnehmenden an das Spiel fesselt.

Bei „Azul“ sind diese Punkte erfüllt. Dass das Plattenlegerspiel bzw. Fliesenlegerspiel Preisträger-Potenzial hat, verrät es schon beim ersten Kontakt. Was mir sofort aufgefallen ist: „Azul“ spricht Gelegenheits- und Vielspieler gleichermassen an, was seine Qualitäten als Botschafter für das Spiel noch erhöht. In dieser Hinsicht erinert es an die Reihe der taktischen Legespiele, die in den vergangenen Jahren die Auszeichnung „Spiel des Jahres“ gewonnen haben: „Carcassonne“ (2001), „Qwirkle“ (2011) und „Kingdomino“ (2017).

Eine Menge von Anleitungen

Eine Frage stellt sich nun: Ist ein Spiel, das die eben genannten acht Punkte erfüllt, automatisch ein Anwärter auf die höchste Auszeichnung im Bereich der analogen Gesellschaftsspiele? Lässt sich ein „Spiel des Jahres“ am Reissbrett konstruieren? Die Antwort ist klar: Nein! Es gibt zwar eine Menge Anleitungen, wie man ein Brettspiel entwickeln kann. Man kann auch Dutzende von bisherigen Preisträgern bis ins letzte Detail analysieren – das todsichere Rezept findet man trotzdem nicht. Dafür gibt es zwei Gründe, einen äusseren und einen inneren.

Der äussere Grund: Der Preis wird von einer Jury vergeben, von einer Gruppe von Menschen mit hohen Fachkenntnissen im Bereich der Spiele. Jedes Jahr steht sie vor der Aufgabe, aus einem Riesenangebot von neuen Spielen jenes zu wählen, das in ihren Augen künftig als Botschafter für „Spiel des Jahres“ auftreten soll. Der Auswahlprozess ist anspruchsvoll. Zum technischen Prozedere gibt es ein paar wenige formelle Kriterien, der Rest, nein: die Hauptsache verläuft völlig informell. Sie besteht aus Spielen, Spielen und nochmals Spielen, und zwar in verschiedenen Gruppen in unterschiedlicher Zusammensetzung. So bildet sich jedes Jurymitglied seine Meinung, die es dann in die entscheidende Diskussion innerhalb der Gruppe hineinträgt. Wer schon solche Gruppendiskussionen miterlebt hat, weiss, wie dynamisch solche Prozesse verlaufen oder wie scheinbar unbedeutende Faktoren plötzlich wichtig werden können, selbst wenn das Ziel, das am Schluss erreicht werden soll, völlig unbestritten ist. Es gibt nicht nur die Subjektivität des einzelnen Individuums, sondern auch die Subjektivität der Gruppe. Dieser Umstand macht das jeweilige Wahlergebnis begründbar, jedoch nicht vorherseh- oder berechenbar. Höchstens erwartbar, wie im Fall von „Azul“.

„Emotion pur am Tisch“

Der innere Grund: „Spielen, das ist Emotion pur am Tisch.“ Das sagt Stefan Feld, einer der gegenwärtig erfogreichsten Spielautoren. Wie hoch die Emotionen gehen, welcher Art sie sind, ob Freude, Lust, Frust, Aggression, Empathie – das lässt sich bei keinem Spiel zum voraus planen. Entscheidend dafür sind Spiel und Spielende zugleich. Wie reagieren die einzelnen Spielerinnen und Spieler auf das Spielgeschehen, wie reagiert die Gruppe, die zum Spielen zusammengekommen ist, als Ganzes? Schaukelt man sich gegenseitig hoch? Was passiert, wenn jemand seine Überlegenheit zur Schau stellt? Wie geht die Runde mit Schadenfreude um, wie mit Aggressionen? Solches ist unvorhersehbar. Nun können Autoren Elemente und Mechanismen in ein Spiel einbauen, von denen man weiss, welche Emotionen sie auslösen. Auktionen lassen beispielsweise den Blutdruck unter den Teilnehmenden steigen (bei mir jedenfalls), Würfel sorgen entweder für Glück oder Pech, geschlagene Figuren für Frustrationen. Das heisst: Emotionen lassen sich bis zu einem gewissen Grad bewusst steuern, nicht aber das Spielerlebnis als Gesamtes. Ob ein Spiel zu einem Erlebnis wird, entscheidet letztlich jedoch nicht die Vorlage, entscheiden weder Autor noch Verlag. Dafür sind die Spielenden allein verantwortlich, durch ihre Art und Weise, wie sie das Werk und seine Regeln – von „Siedler von Catan“ über „Ein solches Ding“ bis hin zu „Azul“ – interpretieren.

Dynamische Prozesse, wo man hinschaut, letztlich unberechenbar! Das macht das Spielen so spannend. Und kaum ein anderes Kultur- und Unterhaltungsmedium lässt uns die Freiheit, selber zu entscheiden, wie wir es für uns zum Erlebnis machen wollen.

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Azul: Taktisches Legespiel von Michael Kiesling für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Next Move / Plan B Games / Pegasus, ca. Fr. 60.-


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

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Der Spieler: Alle Beiträge

Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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