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Déchir Chemam, gewähltes Verfassungsrats-Mitglied der Islampartei an-Nachda © upg

«Wir wollen kein theokratisches Tunesien»

upg /  Interview mit Dechir Chemam der islamischen Sieger-Partei an-Nahda. Er wurde am Sonntag in den Verfassungsrat gewählt.

Kebili (Tunesien). Die Islam-Partei an-Nahda hat in den ersten freien Wahlen Tunesiens im 217-köpfigen Verfassungsrat 90 der Sitze erobert. Viele reden von einer «islamistischer» Partei, was nach «extremistisch» oder fundamentalistisch tönt und grosses Misstrauen weckt.
Tatsächlich handelt es sich um eine konservative islamische Partei mit einer sehr breiten Abstützung, besonders – aber nicht nur – in der religiösen Unterschicht der Bevölkerung. Die Partei war bis zur Revolution verboten und viele ihrer heutigen Führungskräfte sassen jahrelang im Gefängnis oder wurden zu Zwangsarbeit verurteilt. Aus diesen Gründen hat die Partei heute eine hohe Glaubwürdigkeit.
Der rechte Flügel von an-Nahda pflegt auch Kontakte zu extremen islamistischen Imamen, wie das Westschweizer Fernsehen nachgewiesen hat. Solche Kontakte sind bei uns etwa mit Kontakten rechtskonservativer katholischer Kreise mit Opus Dei zu vergleichen. Allerdings unterstützen extremistische Islame zuweilen gewaltsame Terroristen.
Die grosse Mehrheit der Wählerschaft – auch von an-Nahda – sind jedoch religiöse Muslime, die durchaus die Vorstellung eines demokratischen Staates haben und einen solchen auch wünschen. Die Sehnsucht nach demokratischen Strukturen ist im Laufe der achtmonatigen Wahlvorbereitungen enorm gestiegen. Es ist ein fast unglaublicher Erfolg, dass sich sämtliche Parteien auf die Spielregeln der Abstimmung geeinigt und die Abstimmung ohne Gezänk oder Zwischenfälle stattfinden konnte. Über 90 Prozent aller registrierten Stimmberechtigten haben völlig freiwillig, ja mit verbreiteter Begeisterung an diesen ersten freien Wahlen teilgenommen. Es war ein nationales Event.
Als ein Vertreter der Islampartei an-Nahda ist am Sonntag Dechir Cheman in den Verfassungsrat gewählt worden. Er vertritt die Wähler der Region Kebili im Süden Tunesiens an der Grenze zur Sahara. Drei Tage vor seiner Wahl konnte ihm Infosperber einige Fragen stellen.

INTERVIEW

Wie definieren Sie Ihre Partei an-Nahda, die am Sonntag von allen Parteien wahrscheinlich am meisten Stimmen erhalten wird?
Dechir Cheman: Wir sind eine zivile, vom Koran und der Scharia inspirierte Partei.
Will denn die Partei die religiösen Gesetze der Scharia zu den zivilen Gesetzen machen?
Nein, wir wollen keinen theokratischen Staat. Wir sind keine Wortführer des politischen Islams.
Wären Sie damit einverstanden, dass die Präambel der neuen Verfassung ausdrücklich festhält, dass Tunesien ein laizistischer Staat ist?
Es soll heissen, dass Tunesien ein arabisches und islamisches Land ist.
Selbstverständlich haben Moslems die Pflicht und das Recht, vor der Ehe keine sexuellen Beziehungen einzugehen und auch keine gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakte zu pflegen. Doch möchte Ihre Partei dies allen Tunesierinnen und Tunesiern vorschreiben?
Ja, das muss der Staat verbieten. Es gibt absolute Wahrheiten und unverrückbare Dinge.
Was gehört denn noch dazu?
Die Blasphemie (Gotteslästerung) und das Diffamieren des Propheten.
Falls der Verfassungsrat am Schluss einer Verfassung zustimmt, die als laizistisch erklärt wird, und die nicht alle absoluten Wahrheiten zum Gesetz macht: Würde sich an-Nahda trotzdem weiter am politischen Prozess beteiligen oder auf die Strasse gehen?
Wir würden den Mehrheitsentscheid akzeptieren, jedoch mit friedlichen Mitteln versuchen, die Verfassung zu ändern.
——
Dieses Interview fand am 20. Oktober 2011 in Kebili am regionalen Sitz der Partei an-Nahda statt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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