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Der «Guardian», die «New York Times« und «ProPublica» zeigen die tiefe Ausspähung der Privatsphäre. © tv

Überwachung (Teil 3): Wenig Grund zur Sorge?

Robert Ruoff /  Die Reaktionen in der Öffentlichkeit und den Medien der Schweiz zeigen: Es herrscht weitgehend das übliche geschäftliche Treiben.

In welchem Land, in welcher Gesellschaft leben wir? – In der Schweiz, also auf einer Insel der Seligen. Auf einer Insel, die von den Problemen dieser Welt nicht wirklich betroffen ist, auch wenn sie in den Medien für kurze Zeit viel Raum einnehmen. – Dieser Gedanke hat sich bei mir immer wieder und immer mehr gemeldet, seit ich vor zwei Wochen begonnen habe, mich mit der Frage zu beschäftigen: «Wo bleibt der Protest?»

Auslöser war ein Gespräch in der Infosperber-Redaktion, bei dem zunächst die üblichen «Protestorganisationen» im Zentrum standen: die Verbände von Journalistinnen und Journalisten. (Die Ergebnisse mitsamt dem kleinen Disput mit investigativ.ch sind nachzulesen im 1. Teil und im 2. Teil zur Medienfreiheit.)
Die Verbände haben allesamt aktiv protestiert gegen den «Überfall» des Neuenburger Staatsanwalts auf Wohnung und Familie des Enthüllungsjournalisten Ludovic Rocchi. Im Fall der «Antiterror»-Aktion der Londoner Polizei und des britischen Geheimdiensts gegen den «Guardian» und seinen Boten David Miranda haben sie auf den Protest und die nachhaltigen Aktionen der Europäischen Journalisten-Vereinigung EFJ/IFJ verwiesen oder sich hinter ihre angebliche Bedeutungslosigkeit als schweizerischer Kleinverband zurückgezogen.

So weit, so klar. Blieben also noch die Chefredaktoren und die Verleger. Allerdings mit wachsendem Zweifel. Denn auf die 17 Mail-Anfragen mit ein paar klaren, einfachen Fragen gab es drei, vier rasche Antworten – der Rest war Schweigen. Fürs erste.

Der Schein der grossen Freiheit

Aber vielleicht ist die eindringliche Nachfrage unangemessen. Vielleicht ist unsere Freiheit und die Freiheit unserer Kinder gar nicht so sehr gefährdet, wenn unsere Metadaten gespeichert und wenn wir ein bisschen beobachtet und elektronisch fichiert werden? Immerhin leben wir auf der Insel der Seligen wie in Obamas Vereinigten Staaten: in nahezu unbeschränkter und immer noch wachsender professioneller, multikultureller, sexueller, finanzieller Freiheit (für alle, die die entsprechende Potenz haben).

Wenn das nicht vielleicht nur der Schein der grossen Freiheit ist. Das Leben in einem System von enormer «repressiver Toleranz», wie Herbert Marcuse es vor 50 Jahren formuliert hat: Wir sind erzogen zur Toleranz gegenüber Krieg, Verschwendung, legalisierter Wirtschaftskriminalität und Medien, die zum Beispiel im Namen des «Kriegs gegen den Terror» absoluten Patriotismus predigen und abweichende, kritische Meinungen verunglimpfen und damit, so Marcuse, «die Alternativen unterdrücken».

Und wenn sich aus der Konsumgesellschaft doch einmal Widerstand meldet, den man nicht völlig ignorieren kann, lässt er sich im System der repressiven Toleranz technokratisch abfedern, wie das US-Präsident Obama gegenwärtig versucht. Als er sich sogar bei seinem jüngsten Besuch beim neutralen Verbündeten in Stockholm mit kritischen Fragen konfrontiert sah, gestand er zu, dass die neuen Technologien ungeahnte Möglichkeiten der totalen Überwachung bieten. Und erklärte zur Überwachung der Privatsphäre der Bürger:«Vielleicht müssen wir ja nicht alles tun, was wir tun können.»

In welcher Gesellschaft leben wir? Eine grundsätzliche Zuwendung zur Freiheit der Bürger und ihrer unbeobachteten Kommunikation hört sich anders an.

Die totale Penetration der Privatsphäre

Die jüngsten Enthüllungen über die Entschlüsselungsaktionen von NSA und GHCQ zeigen eine totale Penetration der Privatsphäre durch Geheimdienstoperationen, auch und gerade in unseren sogenannt «freiheitlichen» Staaten. NSA und GHCQ betreiben diese Penetration mit einer unbegrenzten, man möchte fast sagen kriminellen Energie, mit der sie in die Privatsphäre aller Menschen eindringen, bis hinein in die elektronischen Bankvorgänge, die in unserer kapitalistischen Gesellschaft ja schon als intimer gelten als ein sexueller Akt.

Diese Penetration lebt nicht nur von der Toleranz, sondern auch von der Mitwirkung der Internetgiganten von Google bis Facebook und ihrer zahlreichen kleineren Brüder und Schwestern, die uns alle mit dem Versprechen von Respekt und Sicherheit betrügen. Und wir können davon ausgehen, dass neben Briten und Amerikanern auch die Geheimdienste von Australien, Kanada und Neuseeland das gleiche Spiel spielen, und zumindest versuchsweise auch China und Russland und ihre Satelliten.

Wie es auch die europäischen Länder tun, mit Deutschland an der Spitze, wo bekanntlich in Wiesbaden das amerikanische Militär ein neues Hi-Tech-Spionagezentrum baut, und wo die NSA von jeher mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst zusammenarbeitet. All das ist noch ein Erbe des 2. Weltkriegs, nach dem die USA Deutschland als zentralen europäischen Horchposten ausbauten.

«Überwachtes Deutschland», heisst der Titel des Buches von Josef Foschepoth von 2012/13, über das die SRF2-Sendung «Kontext» dieser Tage berichtet hat. Das Buch beschreibt die Geschichte eines Landes, das von den Amerikanern zum meist überwachten Land Europas gemacht wurde und zum grössten kontinental-europäischen Stützpunkt der NSA. Deutschland ist auf diesem Gebiet, so Foschepoth, bis heute kein souveräner Staat, sondern ein Satellit in der globalen Strategie der Vereinigten Staaten von Amerika.

So erstaunt es nicht, dass die deutsche Bundesregierung die neuesten Enthüllungen über die Enthüllungs- und Dechiffrierungspraxis von NSA und GCHQ «kleinredet», wie «spiegel online» schreibt.
Die Globalstrategie der Zeit nach dem 2. Weltkrieg setzt sich fort, mit welchen Wandlungen auch immer.

Hat Peter Bodenmann recht, wenn er zum 125-Jahr-Jubiläum der SP schreibt: «Die Schweizer Geheimdienste sind die Laufbuben der 34 amerikanischen Geheimdienste»?

Serie «Medienfreiheit in der Schweiz»
Teil 1: «Die Schweizer Mühsal mit der Pressefreiheit»
Teil 2: «Medienfreiheit in Gefahr: der lästige Widerstand»
Teil 4: «Medienfreiheit bei Chefredaktoren unter ‹Diverses’»
Teil 5: «Bedrohte Medienfreiheit: Verleger im Einzelkampf»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Zum Infosperber-Dossier:

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2 Meinungen

  • am 8.09.2013 um 21:35 Uhr
    Permalink

    Apropos «Hat Peter Bodenmann recht, wenn er zum 125-Jahr-Jubiläum der SP schreibt: «Die Schweizer Geheimdienste sind die Laufbuben der 34 amerikanischen Geheimdienste»?"

    Intressant ist dazu das Buch Mossad: The Greatest Missions of the Israeli Secret Service [Hardcover] Michael Bar-Zohar (Author), Nissim Mishal (Author)

    Die Autoren scheinen einige insider-Quellen zu haben. Sie beschreiben, wie die Tinners junior bei Lieferungen für das Iran-Atomprogramm im Auftrag von Mossad-CIA-MI6 Sabotage betrieben haben sollen.
    Wenn der abgewählte Bundesrat auf Tips aus Langley hin damals die entsprechenden Akten so eilfertig hat vernichten lassen, ging es vielleicht auch darum, zu verdecken, in was genau diese Sabotage bestand und was im Iran alles noch explodieren kann.

    Werner T. Meyer

  • am 11.09.2013 um 10:19 Uhr
    Permalink

    Die Sorgen verbreiten sich tiefgreifender und schneller als dies die Presse zu berichten weiss, und vor allem was die spärlichen Antworten zu den Artikeln vorgeblich annehmen lassen.

    Ein Indiz findet sich auf dem IT-Markt, hier findet bereits in Zahlen sichtbar ein Umdenken statt was etwa die Sicherheit von bestimmten Cloud- Netzwerken und Softwarekonzernen, sowie der Anonymisierungstechnologie anbetrifft. Alternative Security -Dienste und Cloud-Speicher ausserhalb der USA haben Hochkonjunktur.

    Obwohl sich Wenige äussern und viele so tun als sei alles wie Gestern, vor den eigenen PC’s und Mobiltelefonen macht sich Unsicherheit und Unlust breit. Und lassen Sie sich nicht täuschen, viele die Angst haben geben zu solchen Artikeln wie diesem hier keinen Kommentar ab, oder man beginnt genau darauf zu achten «was man sagen darf und was nicht", etwa nicht den Schlüsselbegriff «rotes Kreuz» verwenden, der angeblich auf einer Liste der NSA zur Überwachung steht. Solche Selbsteinschränkungen haben nebenbei schwere Folgen für die Demokratie, sie behindern die Ausbreitung neuer Ideen und erschweren den Meinungsaustausch.

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