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Altstadt von Diyarbakir – künftig fast komplett in Staatsbesitz © kurdosh/Flickr/cc

Landraub in historischer Altstadt

Amalia van Gent /  Die türkische Regierung verstaatlicht fast die ganze Altstadt von Diyarbakir. Die Grundeigentümer werden enteignet.

Der Beschluss, einen Grossteil des historischen Altstadtviertels Sur in der kurdischen Stadt Diyarbakir zu enteignen, ist während einer Sondersitzung des türkischen Kabinetts Mitte März gefallen. Am 25. März hat die «Resmi Gazete», die türkischen Staatszeitung, den Beschluss veröffentlicht. Mit der Publikation im Staatsorgan ist der Entscheid rechtskräftig. Die enteigneten Parzellen gehen in den Besitz des Ministeriums für Umwelt und Stadtplanung über.
Auf einem Plan markierte die Architektenkammer von Diyarbakir alle Grundstücke rot, die in der offiziellen Mitteilung unter «dringende Enteignungen» aufgeführt waren. Damit ist künftig nahezu die gesamte Altstadt von Sur in Staatsbesitz. Betroffen sind historische Moscheen, jahrhundertealte Kirchen, der verwinkelte Basar und die doppelstöckige Karawanserai sowie Hunderte von Privathäusern und Geschäften.

Alle rot markierten Grundstücke werden enteignet.
Zahlreiche historische Bauten
Wie weit die Geschichte von Diyarbakirs Altstadt zurückreicht, bleibt im Dunkeln. Der Ort tauchte erstmals in assyrischen Texten als «Amedi» auf und diente später unter den Römern als Bollwerk gegen die Parther. Im 6. Jahrhundert liess Kaiser Justinian die mächtigen Stadtmauern aus grauem Basalt bauen, die bis heute gut erhalten sind. Als wichtiger Knotenpunkt auf der Seidenstrasse änderte die Stadt im Laufe der Jahrhunderte mehrmals ihren Namen. Je nach Herrscherhaus hiess der Ort Amida, Amed, O’mid, Emit, Amide, Amedu, Kara Amid, Dikranagerd, Diyarbakir.

Die Befestigungsanlage um die Altstadt gehört heute zum Unesco-Weltkulturerbe
Armenier, Assyrer, Byzantiner, Perser, Araber und Osmanen lösten sich hier an der Macht ab und liessen kulturelle Schätze zurück: Die armenische Kirche Surp Giragos wurde gemäss Angaben der Istanbuler Armenier-Zeitung «Agos» bereits im Jahr 1610 schriftlich erwähnt; sie ist bis heute die grösste armenische Kirche im Nahen Osten. Unter den Armeniern hiess die Stadt Dikranagerd. Für die Armenier wie für die christlichen Assyrer war Dikranagerd eines der wichtigsten Zentren, bis die Jungtürken 1915 die Dezimierung der christlichen Minderheiten Anatoliens anordneten. Den endlosen Todesmärschen und Massentötungen fielen schätzungsweise anderthalb Millionen Menschen zum Opfer.
Im 20. Jahrhundert wurde Diyarbakir vor allem als kulturelles und politisches Zentrum der Kurden der Türkei bekannt. Bis heute sind die Kurden besonders stolz auf «ihre» islamischen Kulturschätze im Zentrum der Altstadt. Dazu zählt etwa die grosse Ulu-Moschee, die im 12. Jahrhundert von den Ommayaden gebaut wurde. Zu den wertvollen historischen Bauten zählt auch die Karawanserai Hasan Pasa Hani.
Städte im Ausnahmenzustand
Die ummauerte Altstadt, bekannt vor allem als Sur, bildet ein Mosaik von historischen Moscheen, Kirchen und Medressen. Vor einem Jahr hat die Unesco die Festungsmauer und den Garten «Hevsel» in die Weltkulturerbe-Liste aufgenommen. Die Bewohner der Altstadt träumten von mehr Einnahmen aus dem Tourismus und bauten gar Fünf-Sterne-Hotels.
Dann brachen im kurdischen Südosten der Türkei wieder bewaffnete Kämpfe aus. Der Konflikt zwischen türkischen Sicherheitskräften und der kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) spitzte sich zu als Präsident Recep Tayyip Erdogan kurz vor den Wahlen 2015 die Friedensgespräche mit der PKK abrupt beendete, um im türkisch-nationalistischen Lager keine Stimmen zu verlieren.
Als Reaktion auf das Ende der Friedensgespräche erklärte die PKK-nahe Jugendorganisation, die sich «Patriotische revolutionäre Jugendbewegung» nennt, Städte wie Sur, Cizre, Sirnak und Silopi zu autonomen kurdischen Gebieten. Bewaffnete Jugendliche bauten in den Städten Strassenbarrikaden und versuchten den Sicherheitskräften den Weg zu versperren. Sie hatten nicht mit der massiven Reaktion des türkischen Staates gerechnet. Zunächst wurde über diese Gebiete der Ausnahmezustand verhängt, dann schritten paramilitärische Milizen als Ordnungsmächte ein – ein Grauen. (Infosperber berichtete: «Ausgangssperre: Leichen bleiben tagelang liegen»). «Wir haben einen Fehler gemacht», gestand vor kurzem Duran Kalkan, führendes Mitglied der PKK. «Wir glaubten, unsere Feinde wären menschliche Wesen.» Kalkan verschwieg, dass die PKK die Aktionen ihrer Jugendorganisation in den Städten unterstützt und damit auch zivile Opfer in Kauf genommen hatten.
«Was hatten wir noch vor einem Jahr?», fragte vor wenige Tage der altgediegene türkische Journalist Taha Akyol rhetorisch. Er folgerte: «Wir sprachen von einem Lösungskonzept, und die Hoffnung auf Frieden war im Westen und im Osten des Landes spürbar. Und was haben wir heute? Über 300 Märtyrer (gefallene Soldaten) und mehr als 3000 tote Terroristen (kurdische Guerilla-Kämpfer).»
3300 Tote im Zeitraum von vier Monaten in einem offiziell nie erklärten Krieg hat die türkische Gesellschaft traumatisiert. Dabei berücksichtigt diese Zahl nicht die Zivilisten, die von der einen oder anderen Seite getroffen wurden und sie berücksichtigt auch nicht die Verletzten, die traumatisierten Kinder, die Inhaftierten. Die Städtchen sind zum Teil so stark zerstört, dass sie sich kaum unterscheiden von den verwüsteten syrischen Städten. Auch Teile Surs liegen in Trümmern. Während der Zeit der Ausgangssperren haben fast 20’000 Bewohner Sur verlassen und sind bei Verwandten untergekommen.
Mehrere Kirchen verstaatlicht
Obwohl die Waffen nun auch in Sur grösstenteils verstummt sind, wissen die Bewohner nicht, ob sie in ihre Häuser zurückkehren dürfen. Denn offiziell sind sie vom Staat enteignet worden. Grundeigentümer werden durch Ersatzparzellen und Zahlungen entschädigt. Sie könnten theoretisch auch die Höhe der vom Staat vorgeschlagenen – meist lächerlichen – Kompensationszahlungen vor Gericht anfechten. Allerdings können sie die willkürliche Enteignung nicht rückgängig machen. Gemäss Artikel 27 des Enteignungsgesetzes sind die Bürger im Fall von Krieg und Katastrophen dem Staat gegenüber machtlos.
Die Direktorin für Kulturerbe der Obergemeinde Diyarbakirs, Nevin Soylukaya, kündigte in der armenischen Zeitung «Agos» rechtliche Schritte gegen die Enteignung an. Laut ihren Angaben wird auch die armenische Kirche Surp Giragos verstaatlicht.

Glaubenszentrum der Armenier: Die renovierte Kirche Surp Giragos
Als die Hoffnung auf einen bevorstehenden Frieden noch die Träume der Bürger in Diyarbakir beflügelte, hatte die Stiftung der Kirche gemeinsam mit der armenischen Gemeinde Spendengelder gesammelt, die Kirche restauriert und sie 2011 eröffnet. Ebenfalls verstaatlicht wurden auch je eine armenische, katholische, protestantische, chaldäische und syrisch-orthodoxe Kirche, die im Besitz religiöser Stiftungen waren.
Luxuswohnungen und Boutique-Hotels?
«Die Terroristen haben ein Feuer entfacht, wir aber werden einen Rosengarten blühen lassen», erklärte Anfang Februar Regierungschef Ahmet Davutoglu im Städtchen Mardin, das südlich von Diyarbakir liegt. Wenn der Regierungschef anatolischen Boden betritt, benutzt er gern eine betont blumige Sprache. «Was sie zerstören, bauen wir neu auf; was sie in Brand setzen, ersetzen wir durch schönere Bauten», sagte er auch während seines Besuchs in Diyarbakir Anfang April.
Die Architektenkammer von Diyarbakir ist skeptisch. Sie mutmasst, dass Baubarone und die unter Erdogan beinahe allmächtige staatliche «Wohnungsbaugesellschaft» (TOKI) bereits Pläne schmieden, die ärmlichen Altstadthäuser Surs durch teure Luxusvillen, exklusive Boutique-Hotels und feine Restaurants zu ersetzen. Regierungschef Davutoglu hat Investitionen für Südostanatolien in Höhe von über 9 Milliarden Dollar angekündigt.
Das Vorgehen in Sur ruft die Enteignungen im Istanbuler Viertel Sulukule in Erinnerung, dem einst ältesten Romaviertel der Welt. Byzantinische Quellen aus dem 14. Jahrhundert erwähnen, dass «ein Volk von Musikern und Akrobaten» sich neben der alten Stadtmauer von Konstantinopel niedergelassen habe. Sulukule blieb ein Viertel der Musiker, der Bordelle und der Armut, bis seine wunderschöne Lage entlang der byzantinischen Befestigungen zwischen dem Goldene Horn und dem Marmara-Meer der grenzenlosen Bodenspekulation in Istanbul zum Opfer fiel. Spätestens 2009 waren sämtliche Roma-Bewohner aus Sulukule vertrieben und fern der Metropole umgesiedelt worden. Anstelle ihrer verfallenen Häuser stehen heute teure, meist sterile Luxus-Wohnungen für reiche Istanbuler und Mitglieder der regierenden AK-Partei.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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