Kommentar

Mutwillig zerredete Volksrechte

Niklaus Ramseyer ©

Niklaus Ramseyer /  «Die in Bern oben» foutieren sich gern um den Wortlaut von Volksinitiativen. Neuerdings schon vor der Abstimmung.

Volksinitiativen stören den Politbetrieb der Machthabenden in Bern – und in Kantonen und Gemeinden. Dass nach einem Ja zu einem Volksbegehren oft die Verlierer der Abstimmungen in Regierung und Parlament das entsprechende Gesetz ausarbeiten müssen, ist inzwischen als Problem erkannt. Diese Verlierer scheuen sich indes immer weniger, den Wortlaut angenommener Initiativen zu ignorieren – und diesen im Gesetz kaum oder gar nicht umzusetzen. Das war etwa bei der Zweitwohnungsinitiative so, die eine prozentuale Obergrenze von leeren Zweitwohnungen in allen Gemeinden festschreibt – mit Ausnahmeregelungen im Gesetz indes sofort arg zerlöchert wurde. Noch krasser bei der Masseneinwanderungsinitiative: Auf Druck aus Brüssel wurden da die meisten an der Urne angenommenen Forderungen der knappen Volksmehrheit schlicht ignoriert.

Zwei Anläufe für Preisüberwachung

Diese üblen Spiele hatten schon beim Preisüberwacher einen frühen Vorläufer: Ende November 1982 stimmte das Volk klar für eine Initiative der Konsumentinnen «zur Verhinderung missbräuchlicher Preise». Doch die Verlierer dieses Urnenganges verwässerten (auf Druck der Banken und anderer einseitig Interessierter) im Parlament die Forderung dieser Verfassungsbestimmung derart, dass die Konsumentenorganisationen nochmals eine gleiche Initiative lancieren mussten.

Erst jetzt verbesserten die Räte das Preisüberwachungsgesetz (PüG) so, dass die zweite Initiative zurückgezogen wurde. 1991 konnte dann das griffigere Gesetz endlich in Kraft treten. Damals allerdings wurde zumindest vor den Abstimmungen noch konkret über die wörtlichen Forderungen der Volksbegehren diskutiert.

Wer hat das letzte Wort bei internationalen Verträgen? Kein Platz für Initiativtext neben der überdimensioniert abgebildeten Bundesrätin. Quelle: Tamedia

Wer entscheidet über Verträge, Bern oder das Volk?

Das ist inzwischen immer weniger der Fall. In den Debatten um die beiden Landwirtschaftsinitiativen, die am 23. September klar abgelehnt wurden, konnte man den wörtlichen Initiativtext kaum je lesen oder hören. Noch schlimmer bei der nun beginnenden Debatte um die «Selbstbestimmungsinitiative» der SVP: Aktuell publizieren da die Tamedia-Zeitungen ein seitengrosses Interview mit der Schweizer Justizministerin, SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga (Online-Ausgabe mit anderem Bild). Mehr als die Hälfte der Seite nimmt ein gestelltes Foto der Magistratin ein, mit Schweizerfahne und viel Druckerschwärze im Hintergrund. Zum Abdrucken des Initiativtextes hingegen blieb dann kein Raum mehr.

Der Text hätte wörtlich so gelautet:

«Eidgenössische Volksinitiative ‹Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)›
Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert:
Art. 5 Abs. 1 und 4
1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht. Die Bundesverfassung ist die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
4 Bund und Kantone beachten das Völkerrecht. Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor, unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.
Art. 56a Völkerrechtliche Verpflichtungen
1 Bund und Kantone gehen keine völkerrechtlichen Verpflichtungen ein, die der Bundesverfassung widersprechen.
2 Im Fall eines Widerspruchs sorgen sie für eine Anpassung der völkerrechtlichen Verpflichtungen an die Vorgaben der Bundesverfassung, nötigenfalls durch Kündigung der betreffenden völkerrechtlichen Verträge.
3 Vorbehalten bleiben die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.
Art. 190 Massgebendes Recht
Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat, sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.»

Bundesrätin redet ungebremst am Text vorbei

Und die Folge dieses krassen Ungleichgewichts zwischen überdimensioniertem Bild der Bundesrätin und fehlendem Initiativ-Wortlaut: Es wird in dem Interview nicht über den Text geredet, der am 25. November zur Abstimmung kommt, sondern über Sommarugas Interpretationen dazu. So kann sie etwa behaupten, die Initiative sei «ein gefährliches Experiment».

Auf den Einwand der Interviewer, das Volksbegehren wolle doch nur den Status quo ante, also den Zustand vor 2012 wieder herstellen, geht sie kaum ein. Sommaruga behauptet zudem, da werde ein «Kündigungsmechanismus» verlangt, der «uns zwingt, abgeschlossene Verträge zu brechen, neu zu verhandeln oder zu kündigen».

Referendum macht Verträge «massgebend»

Als Beispiel nennt die Justizministerin die Europäische Menschenrechtskonvention. Und verschweigt listig Art. 190 der Initiative, der verlangt:«„Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat, sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.» Konkret heisst dies: Für die nun immer wieder als bedroht dargestellte EMRK müsste die Mitgliedschaft der Schweiz nur durch die Räte in ein referendumsfähiges Gesetz gefasst werden. Ein Referendum dagegen würde kaum zustandekommen – und wenn schon vom Volk bestimmt wuchtig abgelehnt. Womit die EMRK für alle Schweizer Behörden weiterhin «massgebend» wäre.

Doch Sommargua behauptet keck: «Wir schliessen diese Verträge ja aus eigenem Interesse ab.» Und mehr noch: «Dass wir nur dann einen Vertrag abschliessen, wenn er in unserem Intreresse ist und von der Bevölkerung mitgetragen wird.» Gerade Letzteres strebt die Initiative ja mit ihrem Referendums-Vorbehalt an. Es geht also vorab um die Machtfrage, wer genau die von der Bundesrätin genannten «Interessen» unseres Landes aussenpolitisch bestimmt – Bundesrat und Parlament in Bern oder eben der in Sonntagereden viel zitierte «Souverän» im Lande draussen mit seinen direkt-demokratischen Rechten.

Unzählige Verträge am Volk vorbeigeschmuggelt

Nebenbei liefert Sommaruga auch noch handfeste Argumente für das Volksbegehren: «Die Initiative kann jeden internationalen Vertrag treffen, den wir abgeschlossen haben», sagt sie. «Freihandelsabkommen zum Beispiel, die Bilateralen, die EMRK oder das WTO-Recht.» Zum Glück sagt die Justizministerin das endlich mal so deutlich. Denn: Gegen heimlich unter Führung der USA ausgehandelte Handels-Abkommen wie TTIP oder TISA, die uns zur Privatisierung der Wasserversorgung, der Gebäudeversicherung oder der Kantonalbanken zwingen könnten, würden Linke und Grüne im Land liebend gern das Referendum ergreifen können.
Das merken die beiden Journalisten indes nicht. Und sie nennen auch keine der unzähligen Verträge, «Agreements» oder «Memorandums of Understanding» (wie sie zwecks Vermeidung des Wortes «Staatsvertrag» auch gerne genannt werden), die der Bundesrat in der Vergangenheit schon am Volk vorbeigeschmuggelt und dem Souverän mithin aufgezwungen hat. Den Vertrag zwischen dem Bundesrat (Ogi und Cotti) und der US-Regierung etwa über die «Partnerschaft» (PfP) der neutralen Schweiz mit der weltweit Kriege führenden Nato (North Atlantic Treaty Organization) etwa. Auch da müssten die Räte nach Annahme der Initiative diesen Vertrag einfach nur in ein referendumsfähiges Gesetz fassen. Dieses Referendum käme allerdings sofort zustande. Und der Schweizer Souverän – der nie dazu befragt wurde – könnte die unsägliche «Partnership for Peace», die inzwischen faktisch eine «Partnerschaft für Krieg» ist, an der Urne endlich versenken.
Schon fast ulkig ist der Hinweis der Justizministerin auf das Gentech-Moratorium, das in der Schweiz weiterhin gilt. Dieses widerspreche «möglicherweise dem Recht der Welthandelsorganisation (WTO)», warnt sie. Aber es gilt bei uns doch längst und wird respektiert – WTO hin oder her. Ja was jetzt? Soll das Bundesgericht das Moratorium mit Verweis auf die WTO aufheben? Und wenn ja: Sollen Schweizer Konsumentinnen sich durch internationale Handelsorganisationen Gentech-Lebensmittel aufzwingen lassen, die sie gar nicht wollen – während der Bundesrat soeben vor Landwirtschaftsinitiativen gewarnt hat, weil diese uns vorschreiben wollten, was wir essen dürfen?

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor ist Teil des oft zitietren und ebenso oft düpierten «Souveräns».

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5 Meinungen

  • am 5.10.2018 um 12:53 Uhr
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    Danke für den Text. Wo soll der Bürger diesen Text hernehmen, bevor das Abstimmungsbüchlein kommt? (Auf admin habe ich ihn jedenfalls nicht gefunden.) Kommt mir vor wie das Palaver über einen Rahmenvertrag mit der EU. Niemand hat je einen Vertragsentwurf lesen können. Aber die ARENA läuft und läuft!

  • am 5.10.2018 um 16:41 Uhr
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    Lieber Herr Ramseyer,
    als ebensolcher souveräner Mensch kann ich zwar Ihren Unmut darüber verstehen, wenn Bundesräte ihre Ansichten einseitig vertreten. Andererseits zeigt Ihre eigene Argumentation auch tückische Lücken, wenn Sie behaupten, die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK könnte einfach mal schnell mit einem referendumsfähigen Gesetz gerettet werden. Wenn viele Verträge in neue Gesetze gegossen werden müssten, würde das gerade in der Schweiz sehr lange dauern.

    Zweitens garantiert ja die EMRK, dass wir als Individuen Schutz vor staatlicher Willkür einfordern können –dies ist eben gerade nicht durch staatliche Strukturen zu gewährleisten und erfordert notwendigerweise einen Schlichtstelle ausserhalb der Schweiz. Diese Schlichtstelle ist aber keine Kavallerie, sondern ein freiwilliger Staatenbund, dem sich die Schweiz angeschlossen hat und in dem sie eine gleichstarke Position, wie alle anderen Staaten einnimmt.

    Dass es gewissen Kreisen sauer aufstösst, wenn sie nicht nur am Geldbeutel sondern auch an ihrer Mitmenschlichkeit gemessen werden, mag sein. Trotzdem ist das noch lange kein Grund, aus zahlreichen internationalen Verträgen auszusteigen, die uns ja auch sehr viel nützen.

    Ist es immer richtig und gut, was „das Volk“ beschliesst? Und wer sind die Influencer, die Einfluss auf die Mehrheitsmeinung nehmen können? Ich finde nicht, dass wir in der Schweiz einen 600fachen-Schwexit brauchen, um uns selbstbestimmt zu fühlen. Stark ist man gemeinsam, nicht einsam.

  • am 5.10.2018 um 17:43 Uhr
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    Interessant wäre zu wissen, wie viele Infosperber Leser obigen Artikel von x Ramseyerins zutreffend und unterstützenswert finden, ist er doch eine in wenigen Worten herausgearbeitete Abgrenzung vom heutzutage dominierenden politisch- korrekten Diskurs bzw. Formatierungsziel in Gesellschaft und Presse. Direkte Demokratie first, elitäre Ablehnung Nummer 2. Ich füge noch an den stark verlogenen Humanitärbellizismus und auch die hanebüchene Sozietalzwängerei ab. Ich joffe dass dies Denjumgsdart etwas mehr Rückhalt finden

  • am 6.10.2018 um 00:44 Uhr
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    Auch ich danke für die aufklärenden Worte. Eine weitere Verbreitung wäre wünschenswert. Ebenfalls interessant wäre, das Weltbild von unserer Bundesrätin kennenzulernen. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Dame eventuell in absehbarer Zeit in einen Hochverratsprozess verwickelt werden könnte, falls die Schweiz ein eigenständiger Staat bleiben sollte.

  • am 8.10.2018 um 18:31 Uhr
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    Tut mir leid, aber dem Lob kann ich mich nicht anschliessen. Gut ist der Abdruck des Initiativtexts. Er zeigt, wieviel Juristenkauderwelsch er den StimmbürgerInnen vorsetzt und wie intransparent damit die Initiative ist: Lanciert wurde sie von der SVP einzig und allein gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Das steht aber nicht offen und klar im Text, aber versteckt im Art. 190. Nötig wäre deshalb Klartext, aber Ramseier verharmlost die Initiative. Sie ist Teil einer leider zunehmenden Tendenz rechtsaussen positionierter Parteien in ganz Europa, die unsere Menschenrechte der Politik und Abstimmungsmehrheiten unterordnen wollen. Das ist alarmierend, denn die Menschenrechte schützen unsere bürgerlichen Freiheiten vor der Willkür des Staats. Davon zeugen unzähligen Entscheide des Europ. Gerichtshofs für Menschenrechte, z.B. für Asbestopfer oder unschuldig Verhaftete und administrativ Weggesperrte. Auch der Titel der Initiative ist entsprechend irreführend. Wem wie Niklaus Ramseier unsere Demokratie und der Rechtsstaat am Herzen liegt, sollte sie nicht verharmlosen, sondern einfach ablehnen.

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