Raffael

Raffael wurde nur 37 Jahre alt. Heute fördert Italien die Senioren. © flickr.com/stampolina

Italien leidet unter seiner Gerontokratie

Marco Morosini /  Sich um die Senioren zu kümmern ist löblich. Es darf aber nicht zu Ungunsten der Jungen gehen, wie es in Italien der Fall ist.

Italien! In seiner tiefsten Depression seit 1861 riskiert «die gefährlichste Volkswirtschaft der Welt», so das Time Magazine, einmal mehr den Zusammenbruch seiner Regierung. Es ist die 62. in 68 Jahren!

Unregierbar und abgewirtschaftet, wird Italien – die drittgrösste Volkswirtschaft der Eurozone – zu einer Bedrohung für Europa. Die beiden wichtigsten Männer im italienischen Drama sind Silvio Berlusconi und der Präsident der Republik, Giorgio Napolitano. Der eine ist 77, der andere 88 Jahre alt.

Gerontokratie, die Diktatur der Greise

Gerontokratie ist eine steigende Tendenz in den meisten Industrieländern. Von 1990 bis 2005 stieg das durchschnittliche Alter des OECD Medianwählers dreimal schneller als in den vorangegangenen 30 Jahren. In vielen Ländern ist (oder wird es bald sein) der Medianwähler im Alter von 50 und mehr. In der Schweiz etwa ist jeder zweite Teilnehmende an den Volksabstimmungen 56 oder älter. Dieser Trend wird durch den Generationengerechtigkeits-Index (Intergenerational Justice Index IJI) bestätigt. Dieser berechnet sich aus öffentlicher Verschuldung pro Kind, Jugendarmut, Sozialausgaben pro Kopf für ältere Menschen, ökologischem Fussabdruck pro Kopf und anderen Faktoren. Eine Studie von Pieter Vanhuysse und der Bertelsmann Stiftung besagt, dass Länder wie die USA, Japan, Italien, Griechenland, Kanada, Frankreich oder Portugal ihren Wohlstand auf Kosten ihrer Kinder und künftiger Generationen geniessen.

Italien, ein worst-case von Gerontokratie

Als Mahnung für alle Länder mit alternder Bevölkerung dient ein Blick auf Italien. Seine Bevölkerung ist die drittälteste in der Welt. Seine Demographie, begünstigt durch ein archaisches Wahlgesetz, sorgte dafür, dass 70 Jahre lang Parlament und Regierung von den Ältesten dominiert wurden – mit Konsequenzen! Unter 29 OECD-Ländern rangiert Italien auf Platz 27 des IJI. Pro Kopf zahlt Italien sieben Mal mehr für die Senioren als für die übrige Bevölkerung, viele Staaten zahlen etwa dreimal mehr. Ferner verzeichnet Italien die fünfthöchste Jugendarmutsquote, wobei die öffentlichen Schulden pro Kind 220’000 Euro betragen – der zweithöchste Wert in der OECD!

Das «Centro Europa Ricerche» CER in Rom stellt fest, dass seit 2007 der Rückgang des italienischen Pro-Kopf-Einkommens grösser ist als in den beiden schlimmsten Depressionen von 1866 und 1929. Ein wachsender Anteil des Steueraufkommens dient der steigenden Staatsverschuldung (133 Prozent des BIP), seit einem Jahrzehnt stagniert die Produktivität, in sechs Jahren schrumpfte das BIP um 9 Prozent. Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung machen einen Fünftel des BIP aus. Ungleichheit, Armut und Arbeitslosigkeit (12 Prozent) wachsen, während Zehntausende von jungen Hochschulabsolventen jedes Jahr auswandern.

Reichere Senioren, ärmere Junge

Rentnerparteien und -gewerkschaften vertreten wirksam die Interessen der älteren Menschen, die ihr Vermögen in den Jahrzehnten des raschen Wirtschaftswachstums nach dem Krieg ansammeln konnten. Die junge Generation darf kaum auf ein solches Vermögen hoffen, ihre Zeit ist geprägt von stark unterbezahlten und unsicheren Jobs, Arbeitslosigkeit und Rezession.

»Mit einem durchschnittlichen Alter von 59 Jahren sind die italienischen Machtmenschen die ältesten in Europa», moniert ein Bericht der Universität von Kalabrien. Gemäss ihrer Studie ist das Durchschnittsalter der Universitätsprofessoren 63, das der Bankiers und Bischöfe 67. Während drei Wahlperioden vor 2013 waren nur zwei von 2500 Abgeordneten unter 30 Jahre alt!

Im «Programme for the International Assessment of Adult Competencies» PIAAC, einer Studie der OECD über die Alltagskompetenzen der Erwachsenen im Ländervergleich, rangiert Italien auf dem letzten Platz unter 24 OECD-Ländern. In der Tat ist Italien eines der Industrieländer mit der niedrigsten Rate von Sekundarschul- und Hochschul-Absolventen. Diese Lücke ist noch grösser bei älteren Italienern, die jung waren, als der Zugang zur höheren Bildung noch eingeschränkter war.

Volle politische Rechte erst ab 25

Italien ist das einzige Land, in dem die Bürger erst mit 25 Jahren ihre vollen politischen Rechte haben. Dadurch werden Parlament und Regierung erst vom älteren Teil der Bevölkerung bestimmt. Während weltweit das Wahlalter meistens bei 18 Jahren liegt, liegt dieses in Italien für den italienischen Senat bei 25. Von 50 Millionen Bürgern im Alter von 18 Jahren und mehr, die Abgeordnete wählen dürfen, dürfen 4,3 Millionen oder also 8 Prozent keine Senatoren wählen, deren Vertrauensvotum aber für jede Regierung zwingend ist. Das Wahlresultat 2013 erforderte denn auch die Bildung einer unnatürlichen Regierung von verfeindeten linken, rechten und mittleren Parteien. Hätten auch die 18- bis 24-Jährigen den Senat wählen dürfen, hätte Italien wahrscheinlich in beiden Kammern die selbe Mehrheit und damit eine deutlich stabilere Regierung.

In Zeiten hoher Jugendarbeitslosigkeit ist es geradezu zynisch, wenn die Betroffenen nicht die Gesamtheit der Parlamentarier wählen dürfen. In einer Zeit, in der die Entscheidungsträger dazu neigen, die negativen Folgen ihrer kurzfristig nutzenmaximierenden Entscheidungen – zum Beispiel im Umwelt-, Finanz- und Technologiebereich – in die Zukunft zu verschieben, ist es dringend nötig, den Jungen mehr politisches Gewicht zu geben. Die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen setzt sich für ein Wahlrecht ohne Altersgrenze ein, andere Organisationen sprechen sich für ein Wahlalter ab 16 aus, etwa in Brasilien oder Österreich.

Sieben Jahrzehnte Gerontokratie haben in Italien die Generationserneuerung, die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit gelähmt. Im letzten Wettbewerbsfähigkeits-Index des World Economic Forum WEF ist Italien auf Platz 49 abgestürzt.
Das Wahlalter sollte auch für die Wahl des Senats baldmöglichst von 25 auf 18 Jahre gesenkt werden. Davon würde die Generationengerechtigkeit profitieren und die politische Stabilität würde gestärkt. Auch eine allfällige Destabilisierung Europas durch eine schwere Krise in Italien wäre weniger wahrscheinlich.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dr. Marco Morosini arbeitet als Senior Scientist in Sustainability Research am Institut für Integrative Biologie an der ETH Zürich und ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Studien. Zusammen mit Wolfgang Sachs hat er das Buch "Futuro Sostenibile" (2011, Edizioni Ambiente) herausgegeben, eine italienische Adaption der Studie des Wuppertal Instituts „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ (2008).

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Eine Meinung zu

  • billo
    am 8.02.2014 um 12:09 Uhr
    Permalink

    Sehr interessanter Artikel, vielen Dank!
    Jetzt weiss ich erst richtig, warum ich als Rentner nach Italien gezogen bin ;–) und obendrein in die Nähe von Trieste, das scherzhaft als «Altersheim Italiens» apostrophiert wird…
    Im Ernst war mir trotz engagierter Zeitungslektüre und dem Wissen um die alten verhockten Parlamentskammern und Parteiapparate das wahre Ausmass der italienischen Gerontokratie nicht bewusst gewesen.
    Ein Faktor, der dazu beitragen dürfte, sind die exorbitant hohen Diäten der rund 1000 Mitglieder von Abgeordnetenkammer und Senat in Rom. Kein Wunder, kleben diese «onorevoli» derart zäh an ihren «poltroni», um möglichst noch lange Jahre jeden Monat 16’000 Euro einzustreichen (von den Nebeneinkünften dank der Ausstrahlung des Amtes ganz zu schweigen…)

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