Tiananmen

Tiananmen heute: Blick vom Tor des himmlischen Friedens auf das Mao-Mausoleum © Neo-Jay/Wikimedia Commons/cc

Tiananmen 1989: Unbewältigte Vergangenheit

Peter G. Achten /  Am 4. Juni 1989 schlugen Armee-Einheiten die Massenproteste in Peking blutig nieder. In China ist das Thema bis heute ein Tabu.

Der Platz vor dem Tor des himmlischen Friedens Tiananmen gilt als das «Herz Chinas». Schon am 4. Mai 1919 protestierten dort Studenten gegen die Demütigung des Versailler Friedensvertrages, gegen Imperialismus und Feudalismus und für Demokratie. Keine zwei Jahre später wurde in Shanghai die Kommunistische Partei gegründet mit ähnlichen Forderungen. Noch vor wenigen Wochen beschwor Staats- und Parteichef Xi Jinping den fortschrittlichen Geist jener Epoche. Auch später wurde der Tiananmen-Platz verschiedentlich zum Brennpunkt nationaler und demokratischer Bewegungen.
Eine unvermeidliche Tragödie
Was sich vor 25 Jahren auf dem symbolbehafteten Platz zugetragen hat, ist im Westen als «Massaker», auf Partei-Chinesisch als «konterrevolutionärer Aufruhr» in die Geschichtsbücher eingegangen. Es war weder das eine noch das andere. Es war eine unvermeidliche Tragödie. Sowohl die Demonstranten als auch die Führung der allmächtigen Kommunistischen Partei verpassten Chancen für eine friedliche Beilegung des Konflikts.
Viele Journalisten verfolgten das Ende des Dramas vom etwa 800 Meter entfernten Peking-Hotel aus. Doch selbst von den oberen Stockwerken aus war nur knapp ein Drittel des Platzes einsehbar. Ich schlug mich die letzten zwei Tage vor dem 4. Juni in die Büsche, rund 300 Meter von der Nordost-Ecke des Platzes entfernt. Mit dem Feldstecher hatte ich einen guten Überblick bis zum Heldendenkmal und Mao-Mausoleum. Ein damals noch seltenes backsteingrosses Handy ermöglichte eine direkte Verbindung ins Ausland. Ein loyaler Chinese versorgte mich mit Batterien, heissem Tee und Dampfbrötchen. Er ist heute ein erfolgreicher Kleinunternehmer und hält Tiananmen 1989 für eine Tragödie. «Leider unvermeidlich», wie er sagt.
Fast schon alte Geschichte
Liu Tong studiert an der Pekinger Elite-Universität Qinghua Ökonomie, sein Kommilitone Fang Weixian an der Elite-Uni Beida Chinesische Literatur. «25 Jahre ist eine lange Zeit, und ich kenne Tiananmen 89 nur aus den Erzählungen meiner Eltern», sagt Liu. Wie für viele seiner Generation ist auch für Fang der «konterrevolutionäre Zwischenfall» schon fast alte Geschichte. Darüber, ob die Partei das Verdikt ändern sollte, wollen sich beide Studenten gegenüber einem Journalisten aus dem Ausland lieber nicht äussern. Wie schon beim 20. Jahrestag, geben sich auch jetzt Studenten und Studentinnen in einer Kneipe im Universitätsviertel Zhongguancun zugeknöpft bei dieser Frage. «Vieles hat sich in China geändert – und zwar zum Guten», sagt Jusstudent Zhen Luping.
Wie immer rund um den Jahrestag ist das Pekinger Uni-Viertel gut überwacht. Niemand glaubt, dass es aus dieser Studenten-Ecke in absehbarer Zeit zu ernsthaften Unruhen kommen wird. Auch in der Mittelklasse ist Dissens kaum mehr ein Thema. Und die mittlerweile 270 Millionen Wanderarbeiter sind nicht nur besser gebildet als ihre Eltern, sondern fordern oft mit Erfolg an der staatlichen Einheitsgewerkschaft vorbei selbstbewusst ihre Rechte.
Der Traum von einer idealen Demokratie
Ein kurzer Rückblick auf die Ereignisse mag einiges verständlich machen. Studenten der Elite-Universitäten Beida und Qinghua eilten Mitte April 1989 nach dem Tod des beliebten Parteichefs Hu Yaobang auf den Tiananmen-Platz und legten am Heldendenkmal Kränze nieder. Es war der Beginn eines siebenwöchigen Studentenprotestes. Nicht Demokratie war der Grund für den Protest der Jung-Akademiker, sondern die schlechten Studienbedingungen und der miserable Kantinen-Frass. Vor dem Hintergrund einer überhitzten Wirtschaft, einer hohen Inflation und der grassierenden Korruption bekamen die Studenten schnell Zulauf von Arbeitern, Angestellten, Journalisten, Intellektuellen, Beamten und Parteikadern. Sie verlangten ultimativ den Kampf gegen Korruption und Inflation sowie Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit. Auf dem Höhepunkt des Protests, als rund eine Million Menschen auf dem Tiananmen versammelt waren, träumten die Studenten von einer idealen Demokratie.
Ultimative Forderungen der Studenten
Neben den Bildern von gelynchten Soldaten und einem von Panzer zerquetschten Zivilisten bleibt mir ein anderes Bild in Erinnerung: Parteichef Zhao Ziyang ein Tag vor Ausrufung des Kriegsrechts (20. Mai) und zwei Tage vor seinem Sturz (21. Mai) auf dem Tiananmen-Platz. Mit Tränen in den Augen teilt Zhao den Studenten mit, dass es «zu spät» sei. Neben ihm Zhao Ziyangs trauriger Sekretär. Sein Name: Wen Jiabao, Premierminister von 2002 bis 2012.
Nur einen Tag zuvor hatten die Studenten bei einer live im ganzen Lande ausgestrahlten Diskussionsendung zwischen Premier Li Peng und der Studentenführung eine kapitale Kompromiss-Chance verpasst. Der egozentrische Studentenführer Wu’er Kaixi führte sich wie ein Flegel auf und verletzte damit alle konfuzianischen Regeln von Respekt eines Sohnes gegenüber dem Vater. Ebenso respektlos benahmen sich Studentenführer Wang Dan und Studentenführerin Chai Ling. Ihre Forderungen gipfelten in der Anerkennung des Autonomen Studentenverbandes, Verhandlungen mit der Regierung sowie einer Rücknahme des Volkszeitungs-Kommentars vom 26. April, der die Proteste als «Aufruhr gegen Partei und Sozialismus» und als «Geplante Verschwörung zum Umsturz der Regierung» verurteilt hatte. Diese ultimativen Forderungen waren unrealistisch, zumal die Studenten ja am 18. Mai schon einiges erreicht hatten.
Die Pekinger Studenten, Arbeiter, Angestellten, Intellektuellen und Beamten glaubten jedoch mit Verweis auf die Entwicklung in der Sowjetunion und Osteuropa, dass die Zeitenwende nahe sei. Chinas Medien berichteten in diesen euphorischen Wochen ausführlich und um Faktentreue bemüht über die Demonstrationen in Peking und im ganzen Land – ausgenommen «Renmin Ribao» (Volkszeitung), das Sprachrohr der Partei. Redaktoren taten das, was sie zuvor nicht wagten: Sie ignorierten die Anweisungen der Partei, nicht über die Proteste zu berichten.
Am 20. Mai wurde über Peking das Kriegsrecht verhängt. Die Volksbefreiungsarmee kreiste die Hauptstadt des Reiches ein. Mit dem Fahrrad erkundete ich die Lage. Die Pekinger bauten Barrikaden. Die rotweissen Busse der öffentlichen Verkehrsbetriebe blockierten die Hauptzufahrtsstrassen. Pekinger Bürger diskutierten mit dem Militär. Im Südosten der Stadt desertierten Soldaten. Eine 700 Meter lange Wagenkolonne mit Schützenpanzern, Lastwagen, Feldküchen blieb mitten auf der Strasse verlassen stehen.
Riesige Medienpräsenz wegen Gorbatschow
Andere asiatische Studenten- und Volksproteste wie 1983 in Südkorea oder 1988 in Burma hinterliessen trotz Tausenden von Toten wenig westliches Medien-Echo. In China kam 1989 hingegen ein entscheidendes Element hinzu: Am 15. Mai stand der Staatsbesuch des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow an, der nach dreissig Jahren Bruch die Beziehungen zu China wieder normalisieren wollte. Ein historisches Ereignis. Doch Gorbatschow musste beim Staatsempfang die Hintertüre der Grossen Halle des Volkes benützen, weil die Studenten den Tiananmen-Platz besetzt hielten. Was für ein Gesichtsverlust für die Pekinger Führung! Derweil liessen die Demonstranten Gorbatschow hochleben, schliesslich setzte er sich in der Sowjetunion für Glasnost und Perestroika ein.
Weil Gorbatschow in der Stadt war – damals die weltpolitische Sensation – waren auch die internationalen Medien präsent. Insbesondere die Amerikaner berichteten live – und einseitig. Dan Rather, der bekannte US-Anchor, stapfte bei über dreissig Grad im feinen Strassenanzug über den Tiananmen, stellte den Studenten dumme Fragen und gab anschliessend ohne jede Sachkenntnis sein Urteil ab. Andere Stationen, auch CNN, waren nicht besser. Nur die britische BBC konnte ihren Ruf als Qualitätsmedium einlösen. Das amerikanische Propaganda-Radio Voice of America heizte die Stimmung zusätzlich mit Sendungen in englischer und chinesischer Sprache an, und sprach am 4. Juni 1989 sofort von «Tausenden von Toten».
Opfer auf beiden Seiten
Mich selbst hat Tiananmen 1989 tief aufgewühlt. Bekannte kamen ins Gefängnis oder sind emigriert. Ich habe die Schiesserei erlebt in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni. Wie viele Menschen dabei getötet wurden, bleibt ungewiss. Ein IKRK-Delegierter, der damals zufällig in Peking war, schätzte aufgrund seiner Kontakte zu Ärzten und Spitälern die Zahl auf bis zu 1500. Zehntausend – wie vorlaute amerikanische Journalisten damals als «breaking news» die Welt wissen liessen – waren es nicht. Ebensowenig wie die offiziell ausgewiesene Zahl von 241 Todesopfern. Auf dem Platz selbst wurde niemand getötet. Der Taiwanesische Rockstar Hou Dejian konnte einen friedlichen Abzug aushandeln.
Doch die Zahl der Todesopfer ist nicht das Entscheidende. Worin besteht der moralische Unterschied, ob 100 oder 1000 ums Leben kamen? Am 4. Juni gegen Mittag wurde ich Zeuge, wie ein Panzer auf der Jianguomen-Brücke, zweieinhalb Kilometer vom Tiananmen-Platz entfernt, einen Zivilisten zerquetschte. Kurz vor dem 3. Juni sah ich aber auch, wie eine aufgebrachte Menge zwei Soldaten in der Nähe des Pekinger Bahnhofs aus dem Auto zerrten, mit Benzin übergossen, anzündeten und an einem Seil aufhängten.
Schiessbefehl hat Chaos verhindert
Deng Xiaopings Schiessbefehl basiert auf einem alten chinesischen Topos: Chaos (Luan) ist um jeden Preis zu verhindern. Schon die Kaiser handelten nach dieser Devise, denn Luan bedeutete oft nicht nur Verlust des Mandats des Himmels für die Mächtigen sondern auch Hunger für die Massen. Reformer Deng hatte darüber hinaus noch die «Grosse Proletarische Kulturrevolution» (1966–1976) in Erinnerung, die zu Chaos, einer Million Toten und zu grossem Leid führte. Er selbst wurde in jener Zeit als «Kapitalist» von höchsten Staats- und Parteiämtern zum Fabrikarbeiter degradiert, und der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping begann damals, «aufs Land geschickt», seine Karriere sozusagen im Schweinekoben.
Die Studenten selbst, angeführt vom egozentrischen Wu’er Kaixi, vergaben im idealistischen Rausch alle möglichen Kompromiss-Chancen. Aus heutiger Sicht bestehen kaum Zweifel, dass Deng Xiaopings Schiessbefehl Chaos verhindert hat. Das hat die Reform gerettet und das Wohlergehen von zigmillionen Menschen gesichert. Deng hat dann auch gegen starken innerparteilichen Widerstand der konservativen Reformer rund um Premierminister Li Peng 1992 die Reform beschleunigt und der «sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung» erst so richtig zum Durchbruch verholfen.
Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes folgte eine gnadenlose Repression. Nur wenig später sah sich die Parteiführung bestätigt. Noch heute blicken Politbüro und Zentralkomitee mit Schrecken auf die Wendejahre 1989–1991, als die innerdeutsche Mauer fiel, Ceausescu in Rumänien arretiert und exekutiert wurde und Michail Gorbatschow all seiner Ämter verlustig ging. Einen «chinesischen Gorbatschow», wie ihn viele Politexperten und Kommentatoren im Westen erträumen, wird es nicht so schnell geben. Wohl aber fortschrittliche Reformer, wie Staats- und Parteichef Xi Jinping und Premier Li Kejiang.
China muss Geschichte aufarbeiten
Chinas Führung ist sehr geschichtsbewusst. China erteilt deshalb gerne und oft Geschichtslektionen, insbesondere – und zu Recht – an Japan wegen der Greuel während der Okkupation Chinas und im Zweiten Weltkrieg. Früher oder später aber wird die Partei nicht darum herumkommen, die eigene Geschichte aufzuarbeiten. Die Hungersnot mit über 40 Millionen Toten (1958–1961) gehört ebenso dazu wie die Grosse Proletarische Kulturrevolution (1966–1976) und Tiananmen 1989. Ein definitiver Strich unter Tiananmen, «unter diese Geschichte» – wie Bundesrat Ueli Maurer bei einem China-Besuch im Juli 2013 forderte – kann aber erst dann gezogen werden, wenn die Ereignisse von der Partei als vermeidbare Tragödie und nicht mehr als «konterrevolutionärer Aufstand» und als «geplante Verschwörung zum Umsturz der Regierung» eingestuft werden.

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TV-Tipp: 3sat, 3. Juni, 22.25 Uhr
Tiananmen – 25 Jahre nach dem Massaker – die Opfer erzählen: Die Dokumentation von Thomas Weidenbach und Shi Ming schildert die dramatischen Ereignisse aus der Perspektive der Opfer: Vier Menschen – ein Student, ein Arbeiter, die Mutter eines erschossenen Demonstranten und eine Lehrerin, die ihre Schüler unterstützte – erzählen, was sie selbst miterlebt haben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.

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