Kommentar

Bundesgericht stemmt sich gegen Volkes Stimme

Dominique Strebel © zvg

Dominique Strebel /  Das Bundesgericht verlangt die Freilassung eines Verwahrten. Das ist ein Weckruf – auch für IV-Stellen und Migrationsämter.

Vor sieben Jahren wurde ein Mann verwahrt – wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand. Ihm drohte lebenslange Haft, obwohl ein psychiatrisches Gutachten zum Schluss kam, dass der alkoholsüchtige Mann kaum schwere Delikte begehen würde. Die Verwahrung war nur möglich, weil die Zürcher Justizbehörden das Gutachten in «unzulässiger Weise uminterpretiert» haben. So das Urteil des Bundesgerichts von Mitte November, das die Behörden anwies, den Mann freizulassen.

Damit stemmen sich die höchsten Schweizer Richter gegen Volkes Stimme, die nach dem Mord an Pasquale Brumann 1993 aus Angst vor Gewalttaten immer lauter verlangt, Menschen im Zweifel wegzusperren. Justizbehörden, kantonale Gerichte und Fachkommissionen geben diesem Druck immer stärker nach. Heute wird im Zweifel verwahrt. Und wer verwahrt ist, soll nie mehr rauskommen. Zu diesem Zweck schrecken Behörden offenbar nicht einmal davor zurück, Gutachten in «unzulässiger Weise umzuinterpretieren».

Der Entscheid des Bundesgerichts war ein dringend nötiger Weckruf für die Justizbehörden, nicht aus Angst vor medialem oder politischem Druck in Willkür zu verfallen. Damit nimmt das Gericht seine zentrale Rolle wahr: jene des Gegengewichts gegen Vor-Urteile, das umso nötiger ist, je emotionaler ein Thema diskutiert wird.

In jeder Zeit gibt es Fragen, an denen sich die öffentliche Meinung heftig entzündet. Bis Anfang der 1980er Jahre waren das zum Beispiel Sexual- und Arbeits­moral. Menschen wurden auf unbestimmte Zeit weggesperrt, bloss weil sie als «liederlich» oder «arbeitsscheu» galten. Laien fällten diese Entscheide über Mütter mit unehelichen Kindern oder Jugendliche, die nicht Bäcker, sondern ­Matrosen werden wollten. Kein Gericht konnte diese Laienbeschlüsse überprüfen. Seit 1981 ist das anders. Es kommt niemand mehr in den Knast, bloss weil er gegen Sexual- oder Arbeitsmoral verstossen hat. Und alle Freiheitsentzüge werden von Gerichten überprüft. Die Schweiz hat etwas gelernt.

Es war nicht der erste Lernschritt. So hat man im Laufe der Jahrhunderte herausgefunden, dass es beim Richten am wenigsten Fehler gibt, wenn gewisse grundsätzliche Regeln eingehalten werden. Erste Regel: Nur der Staat darf strafen. Die Lynchjustiz macht Fehler, weil Menschen mit einem Stein in der Hand zu oft den Falschen treffen. Zweite Regel: Jeder starke Eingriff in persönliche Rechte muss von unabhängigen Gerichten überprüft werden können. Denn Ämter, die direkt mit Betroffenen zu tun haben, sind zu befangen. Dritte Regel: Es gibt Grundrechte, die man keinem Menschen nehmen darf, weil sie ihm als Mensch zustehen. Vierte Regel: Die absolute Wahrheit kennt keiner. Nur faire Verfahren bringen uns der Wahrheit näher. So hat zum Beispiel jeder Angeklagte ein Recht auf einen Anwalt und kann Gutachten bean­tragen, die Behörden und Richter nicht «in unzulässiger Weise uminterpretieren» dürfen.

Beim jüngsten Bundesgerichtsentscheid geht es also nicht bloss um die Freiheit eines Alkohol­kranken, auch nicht nur um den Umgang mit Verwahrten. Nein, die höchsten Richter erinnern grundsätzlich daran, die rechtsstaatlichen Grund­regeln anzuwenden, auch oder gerade wenn der öffentliche Druck gross ist.

Dieser Weckruf sollte auch von IV-Stellen, Sozial- und Migrations­ämtern gehört werden. IV- und Sozialhilfeempfänger stehen unter dem Generalverdacht des Sozial­missbrauchs, Asylbewerber und Ausländer gelten vielen als schma­rotzende Wirtschaftsflüchtlinge oder Profiteure. Allzu schnell geraten auch hier die vier goldenen Regeln von nachhaltigen und gerechten Entscheiden unter die Räder. So mussten die Bundesrichter Ende Juni bei der IV einschreiten. Die Gutachter seien von den IV-Stellen zu stark abhängig, rügten sie. So sei ein faires Verfahren nicht garantiert.

Wenig Schutz gegen den Druck der öffent­lichen Meinung gibt es in der Schweiz hingegen für Ausländer ohne Identitätspapiere, sogenannte Sans-Papiers. Ihnen hat das Parlament ein grundsätzliches Recht genommen, das jedem Menschen zusteht: die Ehefreiheit. Seit Anfang Jahr dürfen Sans-Papiers – und allenfalls in sie verliebte Schweizer – nicht mehr heiraten. Diesen Entscheid kann in der Schweiz niemand korrigieren, weil das Bundesgericht an Gesetze des Bundesparlaments gebunden ist. Nötig ­wäre ein Verfassungsgericht – wie es die meisten europäischen Länder seit langem kennen.

Dominique Strebel hat diesen Beitrag zuerst in seinem Blog veröffentlicht.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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Eine Meinung zu

  • am 29.11.2011 um 01:06 Uhr
    Permalink

    Ein Thema, das jeden interessieren sollte. Wäre die Öffentlichkeit im Detail darüber aufgeklärt, auf welche Weise die sogenannten Gutachten gemacht werden, wie man oftmals über Menschen urteilt, ohne je mit Ihnen gesprochen zu haben (sic!), so wäre die öffentliche Meinung zu diesem Thema wohl eine etwas relativierte. Mein Mann und ich sind Opfer sogenannter Forensiker geworden, kämpfen seit zwei Jahren um unser Leben. Unsere Geschichte lesen Sie unte: http://www.der-fall-mansour.webnode.com Das ist das Resultat dessen, was geschieht, wenn wir meinen, Menschen sicher nach simplen Normen/Kreuzchentests erfassen und beurteilen zu können. Das ist mehr als bedenklich, ein Verbrechen!

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