Bruessel_Pinkelboy

Eines der bekanntesten Wahrzeichen Brüssels: der Brunnen mit dem pinkelnden Knaben, der Manneken Pis © gk

«Brüssel» und die Wut der Bürger

Christian Müller /  Was herauskommt, wenn ein Wiener nach Brüssel fährt, um den dortigen Mief zu beschreiben. Eine Überraschung.

Wer das Wort «Landbote» hört, denkt hierzulande, in der Schweiz, zuerst einmal an Winterthur. Jeder weiss, dass es einen Winterthurer Landboten gibt, eine regionale Tageszeitung, schon weil diese just vor ein paar Wochen vom Medienkonzern Tamedia geschluckt worden ist. Südlich von Bern mögen einige auch noch den «Berner Landboten» kennen, einen wöchentlich erscheinenden Anzeiger, mit viel Inseraten und wenig Text. Und wer sogar im Internet nach einem Landboten sucht, findet auch noch den «Woldegker Landboten», eine «Heimatzeitung mit amtlichen Bekanntmachungen» im deutschen Amt Woldegk-Strelitz, etwa 150 km nördlich von Berlin, auf halbem Weg zur Ostsee.

Wahrhaftig, Robert Menasse, der österreichische Romancier und Sachbuchautor, macht es einem nicht leicht. Da schreibt er doch, zum xten Mal, ein Buch und gibt ihm den Titel «DER EUROPÄISCHE LANDBOTE». Warum, um Gottes Willen, soll ich sowas lesen?

Ich habe es trotzdem getan, auf Empfehlung eines Kollegen, und ich bin ihm dankbar für den Tipp. Denn was der österreichische Intellektuelle hier zusammenträgt, brillant formuliert, sachlich überzeugend, überraschend zukunftsgläubig: Es macht einfach Spass, die gerademal hundert Seiten zum Thema «Die Wut der Bürger und der Friede Europas» – so der Untertitel des Buches – zu lesen.

Brüssel oder «Brüssel»?

Brüssel. Ein Reizwort. So war es auch für Robert Menasse. Er mietete sich dort für ein paar Monate eine Wohnung, um den Brüsseler Mief aus nächster Nähe kennenzulernen – als Background für einen neuen Roman, den zu schreiben er vorhatte. Aber er fand, zur eigenen Überraschung, dort keine langweiligen Bürolisten, keine Hausschuhe tragenden Beamten, sondern interessante, hellwache Menschen, die sich mit der Zukunft beschäftigen, brisante Themen diskutieren, Konzepte entwerfen. Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, über die nationalen Nabelschau-Diskussionen hinauszublicken, die Probleme unserer globalisierten Welt vorurteilslos, kritisch und kreativ anzugehen, für Europa, in der Wirtschaftsmühle zwischen den Grossmächten USA und China, neue Spielregeln zu entwickeln.

… im Büro, an der Bar, in der Beiz

Menasse ging mit diesen Architekten eines neuen Europas – eines Europas der sprachlichen und kulturellen Vielfalt notabene! – ins Gespräch: in deren Büros, vor allem aber auch an der Bar und in der Beiz, privat sozusagen, ausserhalb der (überwachten) Förmlichkeit offizieller Besprechungsräume. Dabei fand der scharf beobachtende Autor auch die Ursache des schlechten Rufes von «Brüssel». Es sind keineswegs die «langweiligen» Beamten. Im Gegenteil. Es sind die Regierungs-Chefs, die regelmässig in Brüssel zusammenkommen, und die nach gehabter Konferenz nach Hause jetten, um ihren Wählerinnen und Wählern zuhause mit wehenden Fahnen zu verkünden, wie erfolgreich sie den neusten Brüsseler Angriff auf ihre nationale Souveränität abgewehrt haben. Klar, sie müssen zuhause wiedergewählt werden, diese Regierungs-Chefs, nicht in Brüssel. Und etwas verhindert zu haben, ist mittlerweile ja immerhin schon so etwas wie ein Leistungsausweis…

Es müssen nicht immer 300 Seiten sein

Hundert Seiten leicht leserlicher Text, eine gute Stunde oder zwei genügen, sie zu lesen – eine kurze, aber gut investierte Zeit. Für jedermann. Für politisch Interessierte sowieso. Vor allem aber für all jene, die «Brüssel» nur als Symbol für Standardisierung und Zentralisierung, für Beamtentum und Leerlauf kennen. Für all jene, die das Wort «Brüssel» nur noch als Synonym für ein administratives Monster kennen – gelernt aus den sich selber und auch gegenseitig wieder und wieder kopierenden Mainstream-Medien.

Und warum dann «DER EUROPÄISCHE LANDBOTE»?

So leichtfüssig der Romancier Robert Menasse schreiben kann, so schwerwiegend überschätzt der Intellektuelle Robert Menasse das historische Wissen seiner Leserinnen und Leser. Denn wer kommt denn schon auf die Idee, dass der «Europäische Landbote» eine Anspielung auf den «Hessischen Landboten» ist, jene achtseitige politische Kampfschrift, die der deutsche Dichter, Naturwissenschaftler und Revolutionär Georg Büchner im Jahr 1834 geschrieben und mit ein paar Gesinnungsgenossen heimlich gedruckt und verteilt hat: «Friede den Hütten! Krieg den Palästen!» Auflage nicht über 2000, davon viele Exemplare von der Polizei noch vor der Auslieferung konfisziert, aber – vielleicht gerade deshalb – hoch beachtet. (Büchner suchte danach in der Schweiz Schutz vor politischer Verfolgung, avancierte an der Universität Zürich zum Dr.phil. in Naturwissenschaften, starb aber, noch nicht einmal 24jährig, am 19. Februar 1837 an einer Typhus-Infektion. Sein Grab kann auf dem sogenannten Germania-Hügel in Zürich-Oberstrass noch immer besichtigt werden.)

Das Thema Europa ist in der Schweiz tabu. Der «Georg Büchner», der es wagt, eine revolutionäre Streitschrift nächtens zu drucken und zu verteilen, ist im Lande Tells und Blochers nicht in Sicht. Aber im Buchladen ist sie erhältlich, diese Streitschrift: Robert Menasse; Der Europäische Landbote. Für weniger als 20 Franken.

Menasse kommt in die Schweiz

Die Schweiz kommt im Buch von Menasse nicht vor, sein Thema ist aber für uns ebenso aktuell wie für die EU-Mitglieder, und ebenso brisant. Auch hier sollte endlich über Europa eine Debatte möglich sein. Das Thema Europa und EU einfach zu tabuisieren, nur weil es partei- und wahlpolitisch im Moment inopportun ist, zeugt nicht von einem besonders hohen Niveau demokratischer Auseinandersetzung.

Auf Einladung einiger übernational interessierter und engagierter Organisationen (NEBS, YES, foraus, Weltföderalisten, u.a.) kommt deshalb Robert Menasse persönlich angereist, um vor einem hellhörigen Publikum – so es dieses denn hierzulande gibt – zum Thema seines Buches zu referieren und in der anschliessenden Diskussion Stellung zu beziehen. Das dürfte interessant werden. In Basel etwa wird die Veranstaltung von Georg Kreis moderiert, dem weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannten Basler Professor für Neuere Allgemeine Geschichte.

Nachtrag vom 25. November: Hier geht es zur Besprechung dieser Veranstaltungen auf Infosperber.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor ist Präsident der Weltföderalisten Schweiz.

Zum Infosperber-Dossier:

EU_Schweiz

Die EU und die Schweiz

Europa ist für die Schweiz lebenswichtig. Welchen Grad an Unabhängigkeit kann die Schweiz bewahren?

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6 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 2.11.2013 um 11:02 Uhr
    Permalink

    Die Artikel von Christian Müller sind immer sehr informativ. Das Buch von Menasse könnte sich zur Lektüre lohnen. Was Christian Müller, Menasse zusammenfassend, über Brüssel schreibt, erinnert etwas an die Helvetische Republik, deren wichtigste Promotoren wie die Aargauer Stapfer, Rengger, Zschokke und Pestalozzi um Welten besser waren als das untaugliche System, das sie vertreten mussten und das dann vom Schweiz-Kenner Napoleon auf der Grundlage der erzföderalistischen Verfassung Korsikas, seinerzeit von Rousseau entworfen, durch ein besseres Konzept ersetzt wurde. Der Unterschied der Brüsseler im Vergleich zu den Helvetikern, von denen Zschokke als wichtigster Minister nie Lohn sah, liegt wohl vor allem im Bereich der Bezahlung und der Rentensicherheit und wohl auch darin, dass den Brüsselern scheinbar noch unbegrenzt viel Zeit zur Verfügung zu stehen scheint, wohingegen die Helvetische Republik fast immer am Abgrund stand. Aber man muss zugeben, dass wir in der Schweiz nie Politiker auf so hohem Niveau hatten wie in der Helvetik, und dass die Leistung dieser Politiker nicht kurzfristig zu ihren Lebzeiten, sondern eher langfristig honoriert wurde.

    Das Buch von Menasse dürfte ein sehr guter Tipp sein, vielleicht vergleichbar lesenswert wie Werner Orts «Zschokke – Biographie» aus Verlag hier+jetzt, ein Standardwerk der Schweizer Geschichtsschreibung, an dem zehn Jahre gearbeitet wurde und das in Sachen Schweizer Biographien der letzten Jahre aus meiner Sicht konkurrenzlos ist, wohl auch aus progressiven europäischen Perspektiven.

    Schade ist, dass die Organisationen, welche Menasse einladen, einschliesslich Prof. Kreis, den man zwar politisch manchmal falsch einschätzt, nur Leute zu mobilisieren vermögen, die ohnehin über die europäischen Politstrukturen (nicht zu verwechseln mit Europa) gleicher Meinung sind. Es sieht leider unter diesem Gesichtspunkt etwas ähnlich aus, wie wenn die AUNS den deutschen Ex-Banker Thilo Sarrazin, seinerseits einen interessanten Autor, der nicht nur von «Gleichgesinnten» zur Kenntnis genommen werden sollte, einladen würde.

  • am 3.11.2013 um 01:39 Uhr
    Permalink

    Guten Tag Miteinander
    Wieder ein vortrefflicher Beitrag. Die Sozialstudien welche vielen bekannt sind, deuten darauf hin, dass es zu spät ist. Soziale Gerechtigkeit ist ein Grundbedürfnis der Menschen. Wenn es über Jahrzehnte immer wieder verletzt wird, macht dies die Menschen krank, arbeitsunfähig, lebensmüde und Depressiv. Einige flüchten in ein Stockholm-Syndrom und verehren noch die, welche sie ausbeuten. Diese Symptomatik aber ist immer zeitlich begrenzt. Sie wird urplötzlich in Wut und Aggression umschlagen. Bereits jetzt nehmen die unbewilligten Demonstrationen weltweit zu, die Gewalt steigt an. Ob ein einlenken noch möglich ist von Seiten der Politiker, welche weitgehend Marionetten der Oligarchenwirtschaft sind, ist zu bezweifeln. Traurig und Schade, die Welt wird in einen Krieg getrieben. Vor 40 Jahren sagte mir ein 70 Jähriger Freund und Soziologe, der nächste Krieg wird zwischen den Milliardären und den Armen ausgetragen. Ich hoffe dennoch auf politische Lösungen, doch manche begreifen das Elend welche sie anrichten erst, wenn es ihnen selber auch weh tut. Wir sahen dies ja schon 1291, als wir begannen uns gegen die damalige Feudalherren zu wehren.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 3.11.2013 um 09:09 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Gubler,

    nächste Woche bin ich in den Kantonen Nidwalden, Uri und Luzern an dortigen Schulen auf Lesereise mit meiner Neufassung des «Schmieds von Göschenen", ein SJW-Jugendbuch. Meine Aufgabe wird sein, zu zeigen, dass es 1291 gerade doch nicht so war, wie Sie schreiben. Die Erschliessung der St. Gotthard-Route erfolgte durch die Feudalherren von Rapperswil, technisch aber u.a. durch die Stegbaukunst der Walser des Urserentals, die mit den Feudalherren, etwa dem Abt von Disentis, durchaus in einem relativ harmonischen Verhältnis lebten. Die schlechten Lagen wurden von freien Walsern bewirtschaftet, die guten von Leibeigenen. Wie die Leibeigenschaft im 13. und 14. Jahrhundert funktionierte, z.B. im heutigen Kanton Uri, wird bei mir ebenfalls geduldig erklärt und in die Geschichte eingebracht. Auch die damalige Stellung der Frau wird dargestellt, von der heiligen Elisabeth bis hinunter zu einer Durchschnitts-Leibeigenen, die zusammen mit zwei Kühen und einem Stier sowie einem kleinen Gehöft dem «Ingenieur» der Teufelsbrücke, ebenfalls einem Leibeigenen, verschenkt wird. Zu meinen Studienkollegen bei Prof. Marcel Beck gehörten die Historiker Roger Sablonier und Otto Marchi, dessen Buch «Schweizer Geschichte für Ketzer» (1971) noch heute empfehlenswert ist. Wenn man sich näher mit der Geschichte befasst, sieht immer alles ganz anders aus als man es in einem herkömmlichen Unterricht oder in journalistischen Darstellungen präsentiert bekommt. Vor allem falsch ist bei der herkömmlichen Darstellung der Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft, wie sie vor der Zeit des 2. Weltkrieges von Prof. Karl Meyer vermittelt wurde, dass die St. Gotthard-Route von sog. bäurischen Markgenossenschaften erschlossen wurde. Die Zeitersparnis von weniger als drei Stunden beim Viehtrieb (dieses wurde über den Bätzberg von Göschenen nach Hospenthal getrieben und von dort über den St. Gotthard) war für die freien Bauern nicht interessant, eher schon für die Rapperswiler, die Habsburger, den Abt von Disentis und den Vogt der Zürcher Fraumünsteräbtissin, die um 1291 im heutigen Kanton Uri über eine stattliche Zahl von Leibeigenen verfügte. Noch Paracelsus (1493 – 1541) war übrigens ein Leibeigener des Abtes von Einsiedeln. Mit der Erschliessung des St. Gotthard-Passes hängt übrigens auch noch die Gründung des Klosters Wettingen zusammen, welches ebenfalls noch im 14. und 15. Jahrhundert viele Leibeigene im heutigen Kanton Uri besass, auch in Bauen, woher der Komponist unserer Landeshymne, der Wettinger Mönch Alberich Zwyssig, stammte. Ich bin gespannt, ob das Schweizer Fernsehen bei seinem Stauffacher-Film diese Zusammenhänge auch aufzeigt.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 3.11.2013 um 09:32 Uhr
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    PS. Der Exkurs betr. Schweizer Geschichte um 1291, aufgrund einer Bemerkung von Beatus Gubler, ist insofern keine Abschweifung, als der Verfasser dieses Artikels, Dr. Christian Müller, ebenfalls ein Schüler von Prof. Marcel Beck war, also mit einem sehr guten Schulsack ausgestattet. Im Blocher-Film des kritischseinwollenden Filmemachers Bron, welcher Schuss total hinten hinaus geht, wird auch Blochers Gotthard-Ansprache von 2011 gefilmt, aber ohne die geringste historische Kritik an einer tatsächlich schwachen Ansprache. Für unsere Situierung in Europa und besonders auch für eine qualifizierte Kritik an der Europäischen Union würde es sich sehr lohnen, die Schweizer Geschichte genauer zu kennen.

  • am 7.11.2013 um 13:03 Uhr
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    Ich möchte mich an dieser stelle bedanken für eine interessante Information.
    Werde mit Spannung der Lesung in Basel beiwohnen und hoffentlich um einiges weisser in Bezug zu Brüssel von dannen ziehen.
    Hochachtungsvoll Hp.Eckart

  • am 8.11.2013 um 06:01 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank dass Sie meinen Horizont erweitert haben. Spannend finde ich, dass die von den meist höheren sozialen Schichten geschriebene Geschichte von derjenigen der unteren Schichten in einigen Bereichen nicht dieselbe ist. Die Geschichte wird manchmal von den Siegern, den Gewinnern, geschrieben, nicht von denen die die Geschichte erleiden mussten. Darum begrüsse ich jede objektive historische Forschungsarbeit sehr.

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