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Wie geht es jetzt weiter in Ägypten? Elham Manea: «Ich bin pessimistisch» © Jos Schmid UZH

Arabellion: Mehr Hoffnung in Tunesien als Ägypten

Thomas Gull und Roger Nickl /  Elham Manea, Politikwissenschafterin, gebürtige Yemenitin und Dozentin an der Uni Zürich, beurteilt Chancen der Arabellion. (1)

Red. Länder wie Tunesien und Ägypten hätten ganz andere Voraussetzungen, mit der Zeit eine offenere Gesellschaft zu werden, als Länder wie Libyen, Syrien, Jemen oder Bahrain, sagt Elham Manea.
Ägypten und Tunesien seien alte Staaten mit relativ homogenen Gesellschaften und einer starken nationalen Identität.
Dagegen seien Libyen, Syrien, Jemen und Bahrain erst im 20. Jahrhundert entstanden und von den Kolonialmächten geschaffen worden. In diesen Staaten sei das Nationalbewusstsein nur schwach ausgeprägt. Diese Gesellschaften seien vielmehr entlang ethnischer und konfessioneller Linien gespalten.
In einem ersten Teil beurteilt die Dozentin an der Universität Zürich die Lage in Tunesien und Ägypten.

INTERVIEW
Wie beurteilen Sie die Lage in den «alten» Staaten Tunesien und Ägypten?
Elham Manea: Es bestehen grosse Unterschiede zwischen den beiden Ländern: Tunesien verfügt über eine relativ grosse, gut ausgebildete Mittelklasse und soziale Strukturen, die durch die sehr fortschrittlichen Familiengesetze, die 1956 eingeführt wurden, geprägt sind. Ägypten ist anders: Das Land kämpft mit Übervölkerung und Armut, und die Situation der Frauen ist, ausser in den urbanen Zentren, schlecht.
Das heisst: Für Tunesien sieht es besser aus als für Ägypten. Bildet die dortige Mittelklasse die Basis für die Demokratisierung?
Wichtig ist, dass 98 Prozent der tunesischen Bevölkerung Sunniten sind. Deshalb gibt es dort keine konfessionelle Spaltung, die Konflikte schafft wie etwa im Jemen. Problematisch werden könnten die wirtschaftlich schwierige Lage in den marginalisierten Regionen des Landes und die militanten Salafisten, eine ultrakonservative islamistische Bewegung. Es gibt also Faktoren, die den Prozess gefährden können. Aber im Vergleich mit anderen Staaten scheint Tunesien zu glänzen. Was fehlt, ist eine Kultur der Konsensfindung, wie wir sie in der Schweiz kennen.

Wie schätzen Sie die Lage in Ägypten ein?
Ägypten ist ein schwieriger Fall. Es gibt mit Staatspräsident Mursi zwar einen neuen Präsidenten. Aber die Art und Weise, wie das Land regiert wird, hat sich nicht verändert. Es gibt die gleiche Gewalt wie unter Mubarak, dieselben Versuche, die Gesetze zu umgehen. Das alte System wurde nicht demontiert, und es gibt keine Versuche, Gerechtigkeit herzustellen und die Übergriffe aus der Zeit von Mubarak zu bestrafen. Das Einzige, was die neuen Machthaber tun, ist, die Korruption zu bekämpfen. Aber das taten neue Machthaber immer schon.
Grosse Teile des Staates scheinen in Ägypten noch gleich zu funktionieren und von den gleichen Leuten kontrolliert zu werden wie zur Zeit Mubaraks. Gibt es eine «Schattenregierung»?
Ja, wir nennen das den «deep state», was man vielleicht mit «Schattenstaat» übersetzen könnte. Das Problem ist, dass es keine Entwicklung gibt, die den Menschen erlauben würde, wieder Vertrauen in diese Institutionen zu fassen.
Es hat sich nichts geändert?
Doch, es hat sich etwas Entscheidendes verändert: Die Menschen haben aufgehört, Angst zu haben. Sie demonstrieren immer noch, jeden Tag. Sie äussern ihre Meinung und kritisieren den Präsidenten. Das war früher nicht so.

In Ägypten wurde die Oberfläche etwas aufgekratzt, es gab Wahlen. Doch die siegreichen Islamisten haben sich mit den bestehenden Machtstrukturen arrangiert. Gibt es eine Chance, dass Ägypten zu einer offenen Demokratie wird?
Das werden die Diskussionen auf dem Weg zu einer neuen Verfassung zeigen. Da findet jetzt die Auseinandersetzung statt. Mursi und seine Regierung spielen das gleiche Spiel, das Mubarak spielte: Sie versuchen die Gerichte zu beeinflussen. Wenn die Verfassung so durchkommt, wie sie jetzt im Entwurf besteht, stehen schwierige Zeiten bevor (Red. Das Volk hat den Entwurf inzwischen mit 64 Prozent Ja angenommen). Diese Verfassung spaltet die Gesellschaft, indem sie islamistische Vorstellungen favorisiert.
Wie müsste die neue Verfassung denn aussehen?
Man muss zu einem Konsens kommen, der reflektiert, dass es religiöse Minderheiten gibt, dass den Frauen die gleichen Rechte zustehen wie den Männern und dass nicht alle Muslime einen islamistischen Staat wollen. Damit ein demokratisch verfasster Staat funktioniert, braucht es Einigkeit über einige Grundregeln. Das absolute Minimum ist die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger. Es darf keine Hierarchie geben, welche die sunnitischen Muslime bevorzugt behandelt.
Wie die Wahlen gezeigt haben, sind die liberalen Kräfte in der Minderheit. Sie sind auf das Entgegenkommen der Muslimbrüder angewiesen. Halten Sie das für realistisch?
Wenn die Muslimbrüder keine Konzessionen machen, werden sie die nächsten Wahlen verlieren. Der Rückhalt ist bereits in der Zeit von den Parlamentswahlen bis zur Wahl des Präsidenten deutlich geschrumpft. Ich befürchte jedoch, dass die Muslimbrüder bis zu den nächsten Wahlen versuchen werden, das System in Richtung einer Theokratie wie im Iran nach der Re­volution zu verändern. Ich glaube allerdings nicht, dass dies gelingen wird.
Sie gehen davon aus, dass die Muslimbrüder in ihrem eigenen Interesse und dem des Landes Konzessionen machen müssen?
Es gibt einen Machtkampf innerhalb der Muslimbrüder. Die jungen Mitglieder sind zwar auch konservativ, aber offener und progressiver als die alte Garde. Das gibt Anlass zu Hoffnung. Der Ausgang der Diskussionen um die neue Verfassung wird die Richtung vorgeben, wie es in Ägypten weitergeht.

Wagen Sie eine Prognose?
Ich bin eher pessimistisch.
Weshalb?
Was wir heute sehen, ist, dass das alte Regime sich mehr oder weniger reproduziert, einfach in anderen Gewändern. Ich bin nicht sicher, ob das zu wirklichen demokratischen Veränderungen führt.

In Ihrer Forschung untersuchen Sie die Frauenrechte in der islamischen Welt. Welche Rolle spielten die Frauen im «arabischen Frühling»?
Sie haben eine wichtige Rolle gespielt. Der erste Protest vom 6. April 2008 in Ägypten ging von einer Facebook­Kampagne aus, die von einer Frau organisiert wurde. Frauen partizipier ten in Ägypten an den Protesten, aber auch an der Mobilisierung der Demonstranten unter anderem in Online­-Medien. Und sie dokumentierten die Geschehnisse. Das heisst, sie waren an allen Fronten mit von der Partie. Auch in Libyen und im Jemen waren sie treibende Kräfte, wenn auch nicht in dem Ausmass wie in Ägypten und Tunesien. In dem Augenblick, in dem die alten Regimes gestürzt wurden, zogen allerdings die alten Normen wieder ein. Die Frauen wurden quasi wieder zurück an den Herd geschickt. Es gibt leider einen kulturellen Backlash nach der Revolution. Die Frage ist jetzt, wie die Frauen reagieren werden. In Tunesien gingen sie bereits wieder auf die Strasse, um für die Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung zu demonstrieren. Damit haben sie ein wichtiges und richtiges Zeichen gesetzt. Aber wenn Sie mich fragen, ob wir auch einen «arabischen Frühling» für die Frauen hatten, so würde ich mit einem klaren Nein antworten.
Ist das nicht eine Illusion vieler Reformbewegungen: Man demonstriert, stürzt das Regime und meint dann, die Welt sei jetzt eine andere?
Es ist eine Illusion. Deshalb spreche ich auch nicht vom «arabischen Frühling». Es geht um eine langsame Transformation, die viel Zeit in Anspruch nehmen wird.
Wie viel Zeit?
Hundert Jahre vielleicht.
So lange darf es nicht dauern.
(lacht)

Dieses hier leicht gekürzte Interview erschien im Magazin der Universität Zürich.
Es folgt ein zweiter Teil: «Arabellion: In Libyen wird die Öffnung lange dauern»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Elham Manea ist Privatdozentin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, Autorin und Menschenrechtsaktivistin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vergleichende Politikwissenschaft, Gender und Politik, Demokratisierung und Zivilgesellschaften in den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas. Manea stammt aus dem Jemen.

Zum Infosperber-Dossier:

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Arabellion: So geht es weiter

Von Tunesien, Ägypten bis nach Syrien sprach man vom «arabischen Frühling». Wer gewinnt den Poker um die Macht?

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Eine Meinung zu

  • am 3.05.2013 um 09:29 Uhr
    Permalink

    Es ist gut, wenn Infosperber zunehmend solche Quellen wie das Magazin der Uni Zürich erschliesst, die vom Medienmainstream ignoriert werden.

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