Habermas

Jürgen Habermas: Vordenker und Querdenker © YouTube

Philosophisches Ringen um Europa

Jürg Müller-Muralt /  Die historischen Errungenschaften der EU sind in Gefahr. Der Philosoph Jürgen Habermas fordert eine Neugründung Europas.

Manchmal, ganz selten, blitzt sie noch auf, die positive Sicht auf die Europäische Union und ihre kaum zu überschätzende historische Rolle. Etwa kürzlich in einem Beitrag von Roger Schawinski in der «Weltwoche» (Sonderheft vom 25.07.2013). Der Journalist und Medienpionier schreibt dort in einem sehr persönlichen Beitrag, dass er «im reichsten und besten Land der Welt die längste Friedenszeit der Menschheitsgeschichte» erleben durfte. Ermöglicht worden sei dies «in erster Linie durch das erfolgreichste Friedensprojekt der Geschichte: die EU». Eine «Errungenschaft, die alles überstrahlt und die in unserem Land oft leichthin übersehen wird».

EU-Skepsis als gemeinsamer Nenner

Derartige Einschätzungen entsprechen nicht mehr dem publizierten Mainstream, weder in der Schweiz noch im übrigen Europa. Wenn von Europa und der EU die Rede ist, dann in negativem Kontext. Die EU wird als intellektuelle Fehlkonstruktion und als bedrohliches Bürokratiemonster gesehen, von vielen Linken auch als neoliberales Konstrukt und von vielen Rechten als gefährlicher Superstaat. Wenigstens in diesem Punkt steht die Schweiz nicht alleine da: Die Skepsis gegenüber der EU ist in den meisten EU-Staaten genauso verbreitet. Die euroskeptische Stimmung sei gar das Einzige, was die europäischen Bürger eint, meint der deutsche Philosoph Jürgen Habermas. Solange Brüssel Wohltaten produzierte, störte sich kaum jemand am zusammenwachsenden Europa, Demokratiedefizit oder Bürokratieverdacht hin oder her. Doch angesichts der hartnäckigen Wirtschafts-, Finanz- und Währungskrisen wagen sich weder politische Exponenten noch Parteien aus der Deckung und keiner macht sich stark für eine Weiterentwicklung Europas.

Tranquillistisches Durchwursteln

Niemand hat dies in letzter Zeit deutlicher herausgearbeitet als Habermas. Im «Spiegel» (32/2013) veranschaulicht er das ungute Schweigen über Europas Zukunft am Beispiel des derzeit laufenden deutschen Wahlkampfs und versucht aufzurütteln: «Europa befindet sich in einem Notstand, und die politische Macht hat, wer über die Zulassung von Themen zur Öffentlichkeit entscheidet. Deutschland tanzt nicht, es döst auf dem Vulkan.» Der «cleveren Kanzlerin» Angela Merkel wirft er «tranquillistisches Herumwursteln» vor, sie mogle sich mit klarem Verstand, «aber ohne erkennbare Grundsätze durch und entzieht der Bundestagswahl zum zweiten Mal jedes kontroverse Thema, ganz zu schweigen von der sorgfältig abgeschotteten Europapolitik».

Seit Jahrzehnten äussert sich Habermas zu politischen, besonders europapolitischen, Themen. Als einer der weltweit bekanntesten und meistbeachteten Philosophen und Soziologen der Gegenwart hat er sich nie mit dem akademischen Elfenbeinturm zufrieden gegeben. Seine Buchtitel sind teilweise gar zu festen Redewendungen geworden, etwa «Die neue Unübersichtlichkeit», «Erkenntnis und Interesse» oder «Strukturwandel der Öffentlichkeit». Er hat die intellektuelle Debatte in Deutschland weit über akademische Kreise hinaus geprägt – und tut es immer noch. Auch wenn er im Vorwort des kürzlich erschienenen zwölften Bandes seiner «Kleinen Politischen Schriften» (siehe Hinweis unten) von der «voraussichtlich» letzten Folge spricht. Vielleicht kokettiert der 84-Jährige hier etwas, denn wer mit derartiger Sprachgewalt und Tiefenschärfe schreibt wie Habermas, ist wohl kaum am Ende seines Lateins.

Die heikle Flucht ins Nationale

Fundamental neue Erkenntnisse über den Zustand der EU liefert Habermas nicht. Aber die argumentative Klarheit macht das Buch mit dem Titel «Im Sog der Technokratie» (das auch noch Reden und Texte zu anderen Themen enthält) zu einem gewichtigen Beitrag in der Europa-Diskussion. Er habe sich «etwas ins Europarecht eingearbeitet», sagt er in schöner Untertreibung. Dabei spielt der Autor in einer Klasse für sich, wenn er faktenkundig bis in ökonomische und institutionelle Verästelungen hinein die EU-Problematik erörtert.

Habermas sieht die EU-Staaten in einem grundlegenden Dilemma: Einerseits flüchte man sich angesichts von Abstiegs- und Armutsängsten «in den Halt der vermeintlich naturwüchsigen nationalen Zusammengehörigkeit». Gleichzeitig wachse aber auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit, «den erpresserischen Drohungen der Finanzmärkte und den Risiken der Banken mit einer gestärkten, über den Nationalstaat hinausreichenden politischen Handlungsfähigkeit zu begegnen». Die suboptimalen Bedingungen, mit denen sich die Europäische Union herumschlagen muss, führt Habermas auf einen grundlegenden Konstruktionsfehler zurück: die nicht vollendete politische Union. Und so fürchtet er, dass bei einem Zusammenbruch der gemeinsamen Währung die ganze EU in den Abwärtsstrudel geraten könnte und mit ihr «ein halbes Jahrhundert historisch ganz unwahrscheinlicher Errungenschaften». Unter anderem steht auch das soziale und kulturelle Modell Europas auf dem Spiel, das keine europäische Nation angesichts der globalen Kräfteverhältnisse in Zukunft alleine garantieren könne. «Der Verzicht auf die europäische Einigung wäre auch ein Abschied von der Weltgeschichte.»

Hochexplosives Gemisch

Nun ist es nicht so, dass die Europapolitiker diese Probleme nicht sehen. Aber es besteht die Gefahr, dass die Kluft zwischen dem Erforderlichen und dem in den einzelnen Staaten Durchsetzbaren auf technokratischem Weg überbrückt wird. Das heisst, die EU könnte sich «in diesem technokratischen Sog vollends dem zweifelhaften Ideal einer marktkonformen Demokratie angleichen, die ohne Verankerung in einer politisch mobilisierbaren Gesellschaft den Imperativen der Märke umso widerstandsloser ausgesetzt wäre». Nationale Egoismen, welche die EU ja gerade zähmen möchte, könnten dann zusammen mit einer technokratischen Herrschaft ein hochexplosives Gemisch bilden.

Gefährliche Souveränitätsfiktion

Habermas› Vorschläge zu Wegen aus dem Dilemma basieren – massiv verkürzt – auf den Stichworten Demokratisierung, politische Union, Kerneuropa und Solidarität. Dabei komme Deutschland als stärkstem Partner eine besondere Verantwortung zu. Im längerfristigen Eigeninteresse müsse die Bundesrepublik kurzfristig negative Umverteilungseffekte in Kauf nehmen, «das wäre ein exemplarischer Fall von politischer Solidarität». Stattdessen werde dem EU-Süden eine massive Sparpolitik verordnet, gleichzeitig aber die nationale Autonomie über die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Euro-Staaten hochgehalten. Das sei eine «Souveränitätsfiktion», bequem für das starke Deutschland, denn sie erspare den stärkeren Staaten die Rücksichtnahme auf die schwächeren.

Handlungsfähiges Kerneuropa

Habermas plädiert sodann für eine Neugründung eines «handlungsfähigen Kerneuropas», das nicht mehr entkoppelt ist von demokratischer Legitimation. Europa müsse zu einem von den nationalen Bevölkerungen nicht nur tolerierten, sondern getragenen Projekt werden. Nur: Das ist wohl leichter gesagt als getan. Zwar empfiehlt Habermas, den Stier bei den Hörnern zu packen. Nicht nur die Regierungen und Parteien trügen eine grosse Verantwortung, sondern auch die Medien müssten vermehrt den Leuten reinen Wein einschenken und ungeliebte Themen offensiv angehen. Es sei ein «Skandal», dass es noch nie in einem EU-Land eine Europawahl oder ein europäisches Referendum gegeben habe, bei denen es tatsächlich um europäische Themen gegangen sei; immer seien nur nationale Fragen und die Vertretungen der nationalen Politik zur Debatte gestanden.

Aber so klug die Analyse, so schwammig und realitätsfern wirken Habermas‘ Empfehlungen und Vorschläge zur vertieften Integration über weite Strecken. Das mag mit seinem eigenen philosophischen Lehrgebäude zu tun haben, unter anderem mit dem von ihm postulierten «herrschaftsfreien Dialog», der auch als Massstab für den Emanzipationsgrad einer Gesellschaft gilt: gleichberechtigte Kommunikationspartner, gleiche Möglichkeit aller, sich zu äussern, und eine Entscheidfindung durch den Zwang des besseren Arguments. Im vorliegenden Buch breitet er diese Theorie nicht explizit aus; aber sie schimmert immer wieder durch, etwa wenn er von der «List der ökonomischen Vernunft» spricht, welche die Chance eröffne, die Bevölkerungen für eine politische Neugründung Europas zu gewinnen.

Der zwiespältige Kampf um Mehrheiten

Nun ist Jürgen Habermas nicht Politiker. Er darf ihnen deshalb auch getrost vorwerfen, sie stellten gewisse Themen nicht zur Diskussion, weil es sie Stimmen kosten könnte. Nur muss jeder Realpolitiker und jede Realpolitikerin auch darauf bedacht sein, Mehrheiten zu finden; auch das gehört zum demokratischen Geschäft. Wenn allerdings der Kampf um Mehrheiten zum reinen Instrument der Machterhaltung degeneriert, indem man das Volk möglichst ruhigstellt und unangenehme Tatbestände unter dem Tisch hält, dann stimmt mit der Demokratie ebenfalls etwas nicht. Insofern ist Habermas wieder zuzustimmen, wenn er sagt, dass «die Unterschätzung und Unterforderung von Wählern immer ein Fehler ist».

Habermas‘ Appelle mögen nicht immer ganz in der harten Wirklichkeit geerdet sein, seine Hoffnung auf die Kraft der Vernunft ebenfalls nicht. Doch wer diese hohen Ansprüche an die demokratische Auseinandersetzung völlig aufgibt, der gibt die Demokratie an sich auf. Aber die Demokratie ist auch die Staatsform der Geduld, und selbst in aufgeklärt-liberalen Gesellschaften setzen sich rationale Argumente selten in Reinkultur durch; ganz einfach deshalb, weil Politik auch in der perfektesten Demokratie nicht im keimfreien Raum der Vernunft stattfindet, sondern immer auch im Dunstkreis knallharter Interessen. Doch wer sich nicht stetig darum bemüht, die Demokratie und die Weiterentwicklung der Europäischen Union in Einklang zu bringen, der gefährdet die Zukunft Europas. Deshalb sind scharfsinnige Analytiker und Mahner vom Schlag eines Jürgen Habermas so unverzichtbar.

Jürgen Habermas: Im Sog der Technokratie, Kleine Politische Schriften XII. Edition Suhrkamp, Berlin 2013. 194 Seiten. CHF 19.90


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3 Meinungen

  • am 18.08.2013 um 12:07 Uhr
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    Vielen Dank für den wichtigen Hinweis auf diesen grundlegenden Beitrag zu einer dringenden Debatte. Das Verrückte ist doch, dass wir schon einige Zeit auch von kritischen Ökonomen, die dem Mainstream entgegentreten, lesen und hören können, dass die tiefe Wohlstandskluft in Europa gerade nicht mit harter nationalstaatlich motivierte Sparschraube überwunden werden kann. Das erfolgreiche Friedensprojekt Europa ist auf der Demokratisierung der europäischen Nationstaaten nach dem 2. Weltkrieg gewachsen. Es müsste sich jetzt bewähren, tut es aber vorläufig nicht. Armut und Elend waren schon immer die entscheidende Gefahr für den Frieden und die Demokratie. Eine entsprechend neue Europapolitik gibt es aber nur, wenn die Mehrheiten in den bestimmenden Nationalstaaten ändern und sich dann auch in «Brüssel» durchsetzen. Eine sträflich verpasste Chance der «anderen Mehrheiten» um die Jahrtausendwende. Und von der Schweiz aus gibt es keinerlei Legitimation zum erhobenen Zeigefinger.

  • am 18.08.2013 um 20:55 Uhr
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    Ohne einer Änderung des Geldschöpfungsmonopols ist eine Neugründung von Europa schlicht unmöglich.

    Die Hoffnung stirbt zuletzt…………..aber sie stirbt
    Betreffend der aktuellen Krise des Schuldzinsgeldsystems auch in Europa sollte man sich wahrlich keiner falschen Hoffnung hingeben.

    "Geld ist das Barometer der Moral einer Gesellschaft. Wenn Sie sehen, dass Geschäfte nicht mehr freiwillig abgeschlossen werden, sondern unter Zwang, dass man, um produzieren zu können, die Genehmigung von Leuten braucht, die nichts produzieren, dass das Geld denen zufließt, die nicht mit Gütern, sondern mit Vergünstigungen handeln, dass Menschen durch Bestechung und Beziehungen reich werden, nicht durch Arbeit, dass die Gesetze Sie nicht vor diesen Leuten schützen, sondern diese Leute vor Ihnen, dass Korruption belohnt und Ehrlichkeit bestraft wird, dann wissen Sie, dass Ihre Gesellschaft vor dem Untergang steht.»
    Ayn Rand

    Die Hauptursache für die Notwendigkeit von Steuern ist die Tatsache, dass der Staat nicht selbst Geld schöpft und dieses in das Staatswesen investiert. Würde er das machen, hätte er keine Schulden und niemand müsste Steuern zahlen. Soweit die Theorie.
    Da der Staat aber das Monopol der Geldschöpfung an die Privatbanken abgegeben hat, muss er sich Geld vorerst von den Banken leihen. Diese schöpfen das Geld aus Luft und leihen es mit Zinseszins weiter. Der Zinseszins, welcher vom Steuerzahler bezahlt werden muss, bewirkt eine Exponentialfunktion der Schulden, sodass eine Tilgung unmöglich wird. Daher spricht man auch von Zinsknechtschaft.
    Dieses System ist NICHT alternativlos, wird aber von den Bankern auf das Heftigste verteidigt. Kennedy musste deswegen sterben. Die Wissensmanufaktur hat dazu einen Plan B. Unsere Politiker haben den EFSF, den ESM und andere Rettungsschirme, die aber schnurstracks in den Untergang führen.
    Unglaublich, nicht wahr? Deswegen zahlen wir Steuern und es ist nie genug. Vielleicht ist der Untergang gar nicht mal so schlecht. Anschließend können wir dann alles ändern.

    Thomas Jefferson 1809
    »Ich bin davon überzeugt, dass die Bankinstitute eine größere Bedrohung für unsere freiheitliche Ordnung darstellen als stehende Armeen … Sollte das amerikanische Volk je zulassen, dass private Banken erst durch Inflation, dann durch Deflation die Kontrolle über die amerikanische Währung erobern, dann werden die Banken und die in ihrem Umfeld entstehenden Unternehmen … die Menschen all ihres Reichtums berauben, bis ihre Kinder eines Tages … ohne ein Dach über dem Kopf aufwachen. Die Macht, Geld in Umlauf zu bringen … , muss den Banken entrissen und an das Volk zurückgegeben werden, dem sie von Rechts wegen zusteht.« – Thomas Jefferson 1809 (dritter Präsident der USA)

  • am 19.08.2013 um 16:30 Uhr
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    Die EU hat einmal als Friedensprojekt begonnen. Oder zumindest als Projekt der wirtschaftlichen Erschwerung von nationaler Rüstung mit der Montanunion. Daneben aber auch als innenpolitisches Friedensprojekt mit dem Einbezug der Sozialpartner, insbesondere sozial- und christdemokratischen Kreisen und einem Link zu Städten und Gemeinden.
    Sie hat auch eine Geschichte des EU-internen inter-nationalen wirtschaftlichen Ausgleichs gehabt «regionale Kohäsion» wo zwar zu wenig nachhaltiger regionaler Anschub aber immerhin bezifferbarer ausgleichender Transfer geleistet wurde.
    Spätestens mit Maastricht gab es dann einen Knax in der friedlichen Landschaft: sämtliche nationalistischen / nativistischen (Blocher/lePen/Haider/Lega-Typ) Parteien verbreiten seither ausschliesslich anti-EU-agitation (wenn auch selten so extrem wie Nichbeitritt/Austritt bei der SVP). Das waren aber noch demokratisch (meist) ausgrenzbare/einbindbare Ränder.
    Mit drei Schritten wurde aber auch der Frieden zwischen den Mehrheiten aufgekündigt:
    – Der EFFEKTIVEN NEUGRÜNDUNG der EU als exklusives neoliberales Eliteprojekt mit Haupakteuren MULTI-CEO’s + Staatsexekutiven (D/F+zweitklassige) statt Sozialpartnern im (von allen, die durften, abgelehnten) Verfassungsprojekt bzw. dem dann halt aufoktroyierten Lissabon-patch.
    – Dem Aussenministerium als Zusammenlegung von erfolgreicher ziviler Konfliktbearbeitungs-Komponente (Kommission) mit Rats-Komponente unter französischer Militärinterventions-Tradition (Unter Liquidierung der ersteren).
    – Der zunehmend tolerierten bis geförderten Verluderung der Kohäsion zwischen Nationengruppen, zunächst bei der Osterweiterung (unter IMF-Transitionsregimen) , jetzt im Süden+Irland, wo die EU zur Troika-Diktatur geworden ist.

    Da kann man Jürgen Habermas nur zur Idee einer ZWEITEN NEUGRÜNDUNG Glück wünschen. Möge er sein ideales diskursives Forum dafür finden; ein Sperber allein ist erst ein Anfang.

    Werner T. Meyer

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