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Trotz Mauerfall sind die Unterschiede gross © cc Raphaël Thiémard

In den Köpfen steht die Mauer noch

Heinz Moser /  Die Mauer an der DDR-Grenze ist seit 25 Jahren gefallen. Doch in den Köpfen ist die innerdeutsche Grenze nach wie vor vorhanden.

«In Westberlin bin ich kaum einmal. Da kenne ich mich nicht aus; es ist mir fremd geblieben», meint der 42-jährige Christoph S., der in einem Plattenbau im östlichen Bezirk Marzahn-Hellersdorf lebt. Er erzählt, dass er 1989 im Westen das Begrüssungsgeld abholte, aber sonst kaum einmal in den Westen gefahren sei.

Wie es um das Zusammenwachsen der DDR und der ehemaligen Bundesrepublik bestellt ist, das hat das politisch unabhängige «Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung» eben in einer breit angelegten Studie untersucht. Darin ist nachzulesen, wie schwer nach einem Ausspruch Willy Brandts «zusammenwächst, was zusammengehört». Noch heute ist fast die Hälfte der Deutschen der Meinung, dass es Unterschiede gibt zwischen Ost- und Westdeutschen. Die «Besser-Wessis» werden den «Jammer-Ossis» gegenübergestellt.

Der Zusammenbruch von 1989

Wenn 1989 die Mauer für viele der damaligen Zeitgenossen überraschend fiel, so war vielen verborgen geblieben, dass die Wirtschaft und das politische System der DDR marode und kaum mehr überlebensfähig waren. Folgen der Wende waren im Osten erst einmal Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung und Deindustrialisierung. Der Neuaufbau kam nur langsam voran und beschränkte sich vor allem auf mittlere und kleine Unternehmen. Der Osten erzielt bis heute eine nur knapp drei Viertel so hohe Wirtschaftsleistung je Arbeitsstunde wie der Westen. Nach den Autoren der Studie hat zwar die Angleichung zwischen Ost und West Fortschritte gemacht, aber im Osten fehle es an Wachstum und Dynamik.

Nach wie vor ist im Osten auch die Arbeitslosigkeit gravierender: 11,6 Prozent gegenüber 6,7 Prozent im Westen. Denn nach der Wende waren nur wenige der ostdeutschen Betriebe überlebensfähig. Von rund 14’000 Betrieben sank die Anzahl auf 4000 Unternehmen. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 20 Prozent hoch. Dies im Unterschied zur DDR-Zeit, wo der «Arbeiter- und Bauernstaat» Wert auf Vollbeschäftigung gelegt hatte – auch wenn das oft mit wenig produktiver Arbeit verbunden war.

Die bis heute andauernde wirtschaftliche Schwäche der neuen Bundesländer schlägt aufs Portemonnaie der Ostdeutschen durch: So liegt auch heute noch das verfügbare Einkommen in den neuen Bundesländern erst bei 86 Prozent des gesamtdeutschen Durchschnitts. Und besonders krass: Die ostdeutschen Haushalte kommen nicht einmal auf die Hälfte des durchschnittlich für Westdeutsche verfügbaren Vermögens von rund 150’000 Euro.

Profitieren von dem wirtschaftlichen Desaster konnte dagegen die Umwelt. Total veraltete Fabrikanlagen hatten jahrelang Böden und Gewässer mit Schwermetallen und toxischen Chemikalien verseucht. Staub und Kohlendioxid verseuchten die Luft. Das hat sich – ähnlich wie im Ruhrgebiet im Westen – total verändert. So sind heute 7 von 14 Nationalparks und 8 von 13 Biosphärenreservaten in den neuen Ländern zu finden.

Die Abwanderung seit der Wende

Wenn sich die Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren dennoch etwas anglichen, so hängt dies nicht zuletzt mit der Abwanderung zusammen. Denn als Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs kam es zwischen 1991 und 2013 zu einem markanten Exodus in den Westen. So verloren die fünf ostdeutschen Flächenländer in dieser Zeit über 2 ihrer vorher 14,5 Millionen Einwohner. Wie die untenstehende Grafik zeigt, ging vor allem im ländlichen Raum die Einwohnerzahl stark zurück:

Entwicklung der Einwohnerzahlen (Studie des Berlin-Instituts, S. 9)

Allerdings konstatiert das Berlin-Institut für die Gegenwart ein Comeback der grossen Städte wie Potsdam, Dresden, Jena und Leipzig. Trendmässig hält es fest, dass in ganz Deutschland die ländlichen Regionen gegenüber den Ballungsräumen an Einwohnern verlieren. Alte und neue Bundesländer blicken dabei in eine ähnliche demografische Zukunft.

Besitz und Konsum im Vergleich

Das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West wird auch im Alltag der Deutschen deutlich. Ein Schlaglicht darauf wirft die folgende Grafik des Berlin-Instituts, welche Edelkarossen wie BMW (hell) mit Autos von Skoda (dunkel) vergleicht:

Besitz von BMW und Skoda (Studie des Berlin-Instituts, S. 34)

Während im Westen Autos wie BMW im Verhältnis zum Gesamtbestand der PKW’s prozentual weit vorne liegen, ist es im Osten der Skoda, der fast doppelt so häufig wie ein BMW gefahren wird.

Halb so viel Wert im Osten sind Immobilien. Im Gegensatz dazu sind dafür dort die Mieten noch günstig und bezahlbar. Allerdings sind Mietpreise zum Beispiel in Berlin stark von der Lage abhängig. Im östlichen Trendbezirk Prenzlauer Berg, den nach den Befürchtungen der Ossis reiche «Schwaben» zu übernehmen drohen, liegt der durchschnittliche Nettopreis für Neuvermietungen bei 9,80 Euro pro Quadratmeter, in den Wohnsilos und Plattenbauten des Stadtteils Marzahn dagegen bei 5,50 Euro.

Stark angeglichen haben sich vor allem die Konsummuster. Schon 1989 kauften Ostdeutsche nach dem Mauerfall erst einmal begehrte Westprodukte: Levi’s Jeans, Milka-Schokolade und Videorekorder. Die Supermarktketten mit ihren Sortimenten sind heute die gleichen, ob in Ost oder West. Wenige Ostprodukte haben überlebt, zum Beispiel Vita Cola, Radeberger Pils, Spee-Waschmittel oder Joghurt der Firma Leckermäulchen. Vor allem bei den Jüngeren hat sich das Konsumverhalten zwischen Ost- und Westdeutschen sehr stark angenähert.

Vorreiter Osten bei Religions- und Geschlechterfragen

Einige Verhaltensmuster aus der DDR-Zeit haben im Osten überlebt und werden zunehmend vom Westen übernommen. Das gilt etwa für die Religion, wo das Christentum während der DDR stark zurückgegangen war. Im Unterschied zu anderen postsozialistischen Ländern setzte sich der Abwärtstrend der Kirchenzugehörigkeit seit der Wende nochmals um 14 Prozent – auf rund 23 Prozent – fort. Aber auch im Westen geht die Mitgliedschaft bei den Kirchen zurück. Gegenüber 1989 mit 87 Prozent schrumpfte dieser Anteil auf 66 Prozent.

Traditionell hoch war in der DDR auch der Anteil der Frauen, die in den Arbeitsmarkt voll integriert waren. Dank der staatlichen Kinderbetreuung war das Leitbild der «werktätigen Mutter» der Normalfall, während es die Kategorie der «Hausfrau» kaum gab. Bis heute sind im Osten gut 75 Prozent erwerbstätig oder auf Arbeitssuche, im Westen lediglich rund 70 Prozent. Das Berlin-Institut kommentiert, dass Frauen im Osten ihre starke Erwerbsorientierung über die Wende beibehalten haben. Allerdings habe auch im Westen die durch staatliche Anreize geförderte Berufstätigkeit der Mütter zugenommen.
Bis heute unterschiedlich ist nach der untenstehenden Grafik die Einstellung zur Berufstätigkeit der Frau geblieben:

Einstellung zur Berufstätigkeit der Frau (Studie des Berlin-Instituts, S. 30)

Zudem ist das Leben ohne Trauschein im Osten weit selbstverständlicher. Schon zu DDR-Zeiten konnten ledige Mütter mit einem Babyjahr ein Jahr pausieren. Frauen waren aber auch besser abgesichert, da sie voll erwerbstätig waren. Obwohl die sozial- und familienpolitischen Rahmenbedingungen seit der Wende für alle gleich sind, haben Familien mit unverheirateten Eltern im Osten einen Anteil von 17 Prozent; im Westen dagegen sind es kümmerliche 6 Prozent.

Das Verhältnis zur Migration und zum Rechtsextremismus

Obwohl in den neuen Bundesländern die Migration schon zu DDR-Zeiten viel geringer als im Westen war, sind die Vorurteile gegen Zuwanderer im Osten weit grösser. Nur jeder zweite Ostdeutsche fand 2015, dass Zuwanderer willkommen seien. Im Westen waren es dagegen zwei von drei.

Auch der Rechtsextremismus ist im Osten stärker verbreitet. Laut der «taz» ist hier das Risiko am Grössten, Opfer von rechtsextremer Gewalt zu werden. So gab es 2014 auf 100’000 Einwohner und Einwohnerinnen in Brandenburg 2,98 rechtsextreme Übergriffe. Dann folgten Berlin mit 2,81 Fällen, gefolgt von Thüringen (2,27) und Mecklenburg-Vorpommern (2,19). Allerdings legt in diesem Bereich auch der Westen zum Teil kräftig zu. In Nordrhein-Westfalen stieg die Zahl der rechtsextremen Übergriffe je 100’000 Einwohner im Vergleich zu 2013 von 1,09 auf 2,11 an.

Und das Fazit…

Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Institut, zieht aus der Studie den Schluss, dass der Schritt zur Einheit ein langfristiger Prozess und kein politischer Willensakt war und ist. Er meint im Vorwort: «Dass viele Wessis Zeit ihres Lebens noch nie im Osten waren, ist nur ein Zeichen dafür, dass die Einheit länger braucht als eine Generation.» Die Verstimmung scheint tief zu greifen. Denn noch heute nehmen nach der Studie ein Drittel der Ostdeutschen die Wessis als arrogant wahr.

So zwiespältig wie der steinige Weg zur Einheit wirkt die Aussage von Alt-Kanzler Helmut Schmidt in einem Interview zur Studie: «Die Wirtschaftskraft des Westens hat unter anderem dafür gesorgt, dass wir heute in Mecklenburg-Vorpommern bessere Strassen haben als zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen. Die Perspektive muss aber sein, dass die Marktwirtschaft auch die Uckermark erreicht.»

Doch so einfach ist es nicht: Die «besseren Strassen» ärgern die finanziell gebeutelten Kommunen in Nordrhein-Westfalen, ohne dass sie die Aussicht haben, einmal selbst vom Osten unterstützt zu werden. Aber auch die Perspektive einer marktwirtschaftlich zersiedelten Uckermark kann wohl nicht der letzte Schluss in der Einheitsdebatte sein.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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