TranThiGai

Tran Thi Gai mit Nguyen Thi Tutet, einer ihrer behinderten Töchter, in Tan Hiep, Distrikt Cam Lo. © Roland Schmid

Spätfolgen des Vietnamkriegs: Noch kein Ende

Red. /  Die USA hatten Wälder und Dörfer mit TCDD-haltigen Herbiziden besprüht. Noch heute kommen Kinder mit Behinderungen zur Welt.

Red. Vor über vierzig Jahren ging der Krieg in Vietnam zu Ende. Die USA und ihre Verbündeten hatten Millionen Liter von gefährlichen Herbiziden versprüht, darunter Agent Orange. Es enthielt TCDD, das giftigste aller Dioxine. Der Autor Peter Jaeggi und der Fotograf Roland Schmid haben die noch heute spürbaren Spätfolgen in ihrem neuen Buch «Krieg ohne Ende» dokumentiert. Infosperber veröffentlicht im Folgenden einen kleinen Auszug.

«Nebel», der aus dem Flugzeug kam

«Als Kind sah ich, wie Flugzeuge eine Art Nebel versprühten.» Nguyen Bong, hager und kränklich, erzählt von seinen frühen Kriegserlebnissen, die später für die Tragödie seines Lebens sorgen werden. Betroffene, die den Herbizidregen am eigenen Leib erfuhren, beschrieben einen Geruch «wie eine reife Guave», andere sahen ihn in der Luft hängen «wie Nebel», reden von einem «Puderstreifen» oder davon, dass es wie «gemahlener Kalkstein» ausgesehen habe. Eigentlich zu poetische Beschreibungen für das Ungeheuerliche, das später folgte.

Wir sind im Dorf Tan Hiep, in der Provinz Quang Tri. Nguyen Bong, geboren 1962, Tagelöhner, erzählt, wie rund um das Dorf gekämpft wurde, wie er manchmal mithelfen musste, gefallene Amerikaner wegzutragen. Sein Dorf war ein sogenanntes Wehrdorf. «Wir lebten mehr oder weniger eingeschlossen. Nachts gingen wir heimlich raus und holten im Fluss die Fische, die als Folge des Sprühnebels zu Hunderten tot auf der Oberfläche trieben. Zu Hause assen wir sie.» So gelangte das Gift in Nguyen Bongs Organismus.

Agent-Orange-Folgen haben ihn gelähmt, verstummen lassen und völlig unbeweglich gemacht: Tran Duc Nghia in Da Nang zusammen mit einer Tante (Foto Roland Schmid).
Die Regierungen der USA und Südvietnams umzäunten damals Tausende von Dörfern mit Bambuspalisaden. Diese Wehrdörfer sollten die Südvietnamesen unter Kontrolle halten und vor nordvietnamesischen Angreifern beziehungsweise dem Einfluss der Befreiungsfront FNL schützen.

Nguyen Bong ist Vater zweier schwer cerebral gelähmter Töchter – die Folge der mit Agent Orange vergifteten Fische. Die zwei Kinder, beide über dreissig, liegen nebeneinander auf einer Pritsche. Ihre Sprache haben sie verloren. Die Mutter, Tran Gai, sitzt neben ihnen auf den Holzbrettern. Schwach und kaum fähig zu sprechen. Die jahrzehntelange Pflege der Kinder hat ihr die letzten Kräfte geraubt und sie herzkrank gemacht.

Drei Generationen Opfer

Heute leben in Vietnam bereits drei Generationen mit Agent-Orange-bedingten Schäden. Eine vierte, wie oft behauptet wird, gibt es nicht, zumindest nicht bis zum Erscheinungstermin dieses Buches. Über wie viele weitere Generationen sich die Erbschäden auswirken werden, weiss niemand. Pham Thanh Tien von der lokalen Opfervereinigung DAVA in Da Nang: «Fast zwei Drittel der Agent-Orange-Kinder hier gehören zur ersten Generation; je knapp ein Viertel zur zweiten und dritten. Die Opfer der dritten Generation sind unter fünfzehn Jahre alt. Die meisten Betroffenen werden kaum älter als dreissig.»

Die herzkranke Mutter Tran Thi Gai mit ihren beiden zerebral gelähmten Kindern Nguyen Thi Tuyet (vorn) und Nguyen Thi Tai. Sie leben im Dorf Tan Hiep im Distrikt Cam Lo (Foto Roland Schmid).
Wie viele Agent-Orange-Vergiftete genau es im ganzen Land gibt, weiss niemand. Erst jetzt beginnt Vietnam, die Betroffenen flächendeckend zu erfassen. Bis heute existieren lediglich Schätzungen. Wichtigste Quellen für Opferzahlen im südostasiatischen Staat sind die nationale Opfervereinigung VAVA und das Vietnamesische Rote Kreuz, das eng an den Staat gebunden ist. In fast 20’000 Sprüheinsätzen kamen laut neueren Forschungen der Columbia-Universität New York zwischen 2,5 und mehr als vier Millionen Menschen mit dem Gift in direkte Berührung. Über 3000 Dörfer und Weiler wurden direkt besprüht. Das nationale Rote Kreuz sagt, im Land gebe es etwa eine Million Menschen, die wegen dieses Herbizides krank oder behindert sei, darunter rund 150’000 Kinder, die seit Kriegsende 1975 behindert geboren worden seien. Überprüfbar sind diese Zahlen nicht. Die US-Regierung hält sie für «unrealistisch». Doch auch wenn es weit weniger Betroffene sein sollten: Die Geschichte ist und bleibt eine Tragödie, die mit unermesslichem Leid verbunden ist.

Agent Orange verursacht genetische Schäden

Tierversuche mit Hamstern und Mäusen beweisen, dass von TCDD verursachte Schäden von Eltern an die nächste Generation weitergeben werden. Nachkommen werden teilweise mit schweren Missbildungen geboren oder sterben zu einem hohen Prozentsatz vor der Geburt.

Dass durch das Dioxin TCDD und durch andere Umweltgifte verursachte Gesundheitsschäden sich auf nächste Generationen vererben, zeigt eine 2012 publizierte Studie. Sie wurde unter der Leitung des Biologen und Genforschers Michael Skinner an der Washington State University durchgeführt. TCDD, das mit einer Halbwertszeit von zehn Jahren extrem lange im menschlichen Körper bleibt, kann laut Skinner selbst nach Jahrzehnten die Nachfolgegenerationen schädigen. TCDD verursacht nämlich sogenannte epigenetische Veränderungen: Grundbausteine der Erbsubstanz in einer Zelle werden abgeändert. Das Forscherteam wies bei Ratten nach, dass TCDD die Anzahl der Spermien verändert. Es sind Veränderungen, die über Generationen vererbt werden. Nachkommen – bis hin zu Urenkeln von TCDD-exponierten Ratten – zeigten dioxinbedingte Schäden wie Nieren- und Eierstockerkrankungen. Nachkommen notabene, die im Experiment mit keinerlei Schadstoffen in Kontakt kamen.

Skinners Arbeit stützt die Annahme, dass selbst dann, wenn Dioxin und andere toxische Chemikalien aus der Umgebung entfernt worden sind, sich Krankheiten über Generationen vererben. Allerdings, so Michael Skinner, lassen sich die Ergebnisse seiner Studie nicht eins zu eins auf Menschen übertragen, zumal die Ratten in seinen Versuchen höheren TCDD-Dosen ausgesetzt waren, als dies Menschen normalerweise sind. Zudem ist die Studie noch umstritten, da sie bisher noch nicht von unabhängiger Stelle wiederholt worden ist. Trotzdem muss man die Studienergebnisse ernst nehmen. Spätestens jetzt kann nicht mehr mit Sicherheit behauptet werden, Dioxin verursache beim Menschen keine genetischen Schäden.

Laut gegenwärtigem Stand des Wissens entstehen die geschilderten Erbschäden, ohne die DNA zu verändern. Vereinfacht und bildlich gesprochen: Stellt man sich die DNA, also die Erbinformation, als eine zu einem Wort geformte Buchstabenreihe vor und nimmt man einen der Buchstaben weg, ist das Wort unlesbar oder mindestens beschädigt. Das wäre eine Schädigung der DNA. Bei epigenetischen Schäden ist, um beim Buchstabenbild zu bleiben, eine milchige Folie über das Wort gelegt. Dieses ist zwar noch lesbar, doch es entsteht eine Irritation, die sich auf das Wort, auf die DNA auswirkt – jedoch ohne sie zu beschädigen. Beide Schäden können auf Nachfolgegenerationen übertragen werden, doch geht man davon aus, dass die Auswirkungen bei epigenetischen Schäden geringer sind. Um mit einem anderen Bild zu sprechen: Der Schleier lichtet sich allmählich – im Gegensatz zu den zerstörten «Wörtern», dem beschädigten Erbgut, das über viele Generationen weitergegeben werden kann.

Eine weitere Erklärung für gentoxische Wirkungen liefert der deutsche Toxikologe Otmar Wassermann: «Bei Agent Orange ging es ja nicht nur um TCDD, sondern um die gesamte wilde Mischung der Dioxine und anderer Verunreinigungen; denn für die Herstellung und Anwendung dieser Massenchemikalie setzte die chemische Industrie keine teureren hochgereinigten Ausgangsmaterialien ein. Ihr war dafür – chemisch-analytisch gesprochen – der billigste, letzte Dreck gerade gut genug».

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Das Buch «Krieg ohne Ende», Lenos-Verlag 2016, 32 CHF (inkl. Versand), hier kaufen.
Weitere Informationen über das Buch und eine andere Bestellmöglichkeit hier.
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Text auf der Rückseite des Buches


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3 Meinungen

  • am 22.10.2016 um 12:44 Uhr
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    wenn menschen wachstum predigen/akzeptieren/tolerieren, führt dies zu krieg ohne ende. deshalb muss das wachstumsdogma aus unserer wirtschaft verschwinden. engagieren wir uns dafür.
    wie?
    indem u.a. vollgeld-initiative.ch unterstützt wird:
    wenn banken kredite vergeben, schöpfen sie neues geld. das geld muss MIT ZINSEN zurückbezahlt werden… aber die ZINSEN wurden nie geschöpft – also braucht es ewiges wachstum um dieses schneeballsystem zu retten.

    es ist an uns zu wählen zwischen lebensqualität und schneeballsystem. beides geht nicht.

  • am 22.10.2016 um 14:50 Uhr
    Permalink

    In den letzten Jahrzehnten seit dem Vietnam-Krieg haben der Pentagon und die US-Armee weltweit eine Spur des Unheils hinterlassen. Dass sich daran zukünftig nichts ändern wird, zeigt eine Passage der Rede Hillary Clintons am 31. August vor Krigsveteranen in Cincinnati: » … dass es da oberste Ziel sein muss, die militärische Vorherrschaft der USA weltweit zu erhalten und zu stärken». Und weiter, «Die USA werde die Militärbündnisse weiterführen, mit denen sie Europaund den fernen Osten Kontrolliert, und, falls notwendig, auch unabhängig von der Weltmeinung einseitig Kriege führen.»

    Da wird deutlich, was mit Frau Clinton auf die Welt zukommen kann. Für die Schäden sind die USA nie in die Verantwortung genommen, bzw. ließen sich nicht in die Verantwortung nehmen. Dazu kann man sich über die Politiker des Westens seinen Teil denken.

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