Kommentar

Das globale Finanzsystem: Titanic auf Eisberg-Kurs

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsErnst Wolff ist freier Journalist und Autor des Buches «Weltmacht IWF – Chronik eines Raubzugs», erschienen ©

Ernst Wolff /  Noch spielt die Musik auf der Titanic und die Passagiere tanzen, doch der Crash des Finanzsystems ist nur eine Frage der Zeit.

Sich im Gestrüpp der unendlich vielen verwirrenden Wirtschafts- und Finanzmeldungen in den Mainstream-Medien zurechtzufinden, ist zurzeit so gut wie unmöglich. An einem Tag wird die Apokalypse beschworen, am nächsten heisst es, die Welt sei in bester Ordnung und es gebe keinen Grund zur Beunruhigung.

Auch die Ökonomen verschiedenster Richtung sind schon seit längerem ratlos, weil keine der herkömmlichen Theorien die Widersprüche an den Märkten mehr erklären kann. Aktienkurse steigen, während die Realwirtschaft stagniert. Der Goldpreis fällt, obwohl das Geld in nie dagewesener Weise entwertet wird. Trotz einem immer schneller wachsenden globalen Schuldenberg werden Investoren vor allem in Schwellenländern zu immer grösserer Schuldenaufnahme animiert.

Fatale Konsequenzen fürs Gesamtsystem

Was steckt dahinter? Ganz einfach: Die Einstufung von grossen Finanzinstitutionen als «too big to fail» ist von ihnen als Freibrief genommen worden, um noch hemmungsloser als vor 2007 zu spekulieren. Unter Ausnutzung der Riesensummen, die von den Zentralbanken ins System gepumpt wurden, haben die weltweit grössten Investoren die Märkte mittlerweile so exzessiv manipuliert, dass sie gar keinem rationalen Verhaltensmuster mehr folgen können.

So schiessen Aktienkurse nicht deswegen in die Höhe, weil Unternehmen wirtschaftliche Erfolge vorweisen, sondern weil das Management billiges Geld einsetzt, um eigene Aktien zurückzukaufen und ihren Kurs in die Höhe zu treiben. Weder der Preis von Staatsanleihen, noch ihr Zinsniveau spiegeln auch nur annähernd den wirtschaftlichen Zustand des Ausgeberlandes wider, da sie zur Stabilisierung des Systems von den Zentralbanken blind aufgekauft werden. Auch der Preis von Edelmetallen entspricht nicht einmal entfernt ihrem wahren Wert, da sie überwiegend nicht in physischer Form, sondern in Papierform und damit in einem Volumen, das um ein Zigfaches über ihren tatsächlichen Bestand hinausgeht, gehandelt werden.

Mit den Geldern, die die Zentralbanken seit 2008 ins System pumpen, sind riesige Blasen an den Aktien-, Anleihen- und Immobilienmärkten erzeugt worden, die jederzeit zu platzen drohen. Statt sich diesem Trend durch eine Erhöhung der Zinsen entgegenzustellen, schieben die Zentralbanken – allen voran die US-Zentralbank Federal Reserve – seit Jahren eine Anhebung der Zinsen vor sich her. Warum? Weil selbst die geringste Anhebung fatale Konsequenzen fürs Gesamtsystem haben würde, da das Volumen zinsgebundener Derivate nach Informationen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich den unvorstellbaren Betrag von über 500 Billionen US-Dollar erreicht hat. Auf dem Höhepunkt der Subprime-Hypothekenkrise genügten ganze 1,2 Billionen solcher Derivate, um das globale System ins Wanken zu bringen.
Europa rutscht derzeit in eine Deflation

Während die finanzielle Zeitbombe im Derivate-Sektor vor sich hin tickt, häufen sich in der Realwirtschaft im siebten Jahr nach 2008 die Hiobsbotschaften: Der Abschwung in China, die Stagnation in den USA, der Rückgang der Rohstoffpreise, die nachlassende Nachfrage nach Investitionsgütern und ein immer schwächerer Konsum werden schon bald weitere Massnahmen zur Stützung des Systems erforderlich machen. Das aber wird schwierig werden, denn die wichtigste der bisherigen Massnahmen – das Gelddrucken – zeigt immer weniger Wirkung, während die zweitwichtigste – die Senkung der Leitzinsen – fast ausgereizt ist. Hierzu ein Blick auf Europa:

Obwohl die EZB seit März 2015 pro Tag 2 Milliarden Euro aus dem Nichts schöpft und ins System pumpt, um ein Inflationsziel von 2 Prozent zu erreichen, lag die jährliche Inflationsrate im September bei minus 0,1 Prozent. Das heisst: Trotz der bis zum Herbst 2016 vorgesehenen Geldspritze in der Höhe von insgesamt 1,2 Billionen Euro rutscht Europa derzeit in eine Deflation – bei einer Schuldenlast von insgesamt 9,4 Billionen Euro eine verheerende Entwicklung, denn Deflation bedeutet: Die Einnahmen von Staat und Unternehmen sinken, während Schulden und Zinsen auf ihrem hohen Niveau verharren.

Nicht viel besser sieht es im Bereich der Zinsen aus: Bei einem derzeitigen Eurozonen-Leitzins von 0,05 Prozent bleibt den Verantwortlichen nur noch der Griff zu Null- oder Negativzinsen. Negativzinsen aber führen, wie das Beispiel Schweiz zeigt, zur Verteuerung von Krediten und Hypothekenzinsen und schwächen die Wirtschaft. Ausserdem müssen sie, wenn sie den Euro betreffen, durch Massnahmen begleitet werden, die eine Massenflucht aus der Währung verhindern. Hierzu wird derzeit auf breiter Front die Abschaffung des Bargeldes vorangetrieben (in Frankreich liegt die die Obergrenze für Barzahlungen seit dem 1. September 2015 bei 1000 Euro), doch die flächendeckende Umsetzung der Massnahme kostet Zeit, und die läuft den Verantwortlichen momentan davon.

Krisen-Szenario mit dem Internationalen Währungsfonds

Sind Finanzindustrie und Politik also am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen? Steht der Crash unmittelbar bevor? Die Vorbereitungen sind jedenfalls getroffen: So ist inzwischen fast überall das Prinzip des Bail-In gesetzlich verankert. Mit ihm sollen Finanzinstitutionen nicht mehr durch Steuergelder, sondern durch das Heranziehen der Vermögen von Anlegern, Sparern und Aktionären gerettet werden.

Was aber, wenn die vorhandenen Summen nicht ausreichen, um die betroffenen Institute zu stützen? Was, wenn den betroffenen Staaten keine Staatsanleihen mehr abgekauft werden, weil die finanziellen Möglichkeiten der Zentralbanken erschöpft sind? Auch für diesen Fall gibt es bereits ein Krisen-Szenario. In ihm spielt der Internationale Währungsfonds die entscheidende Rolle.

Seit dem Ende der Sechziger Jahre verfügt der IWF mit den Sonderziehungsrechten (SZR) über eine Reservewährung, die – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – bereits 2009 im Umfang von rund 250 Milliarden Dollar zur Rettung des Systems eingesetzt wurde. Bei den SZR handelt es sich um eine nicht frei handelbare Währung, die der IWF einzelnen in Schwierigkeiten geratenen Ländern zuteilen und mit der er Liquiditätsengpässe in diesen Ländern beheben und die Inflation anheizen kann. Angesichts der gigantisch anschwellenden Schuldenlawine, die auf die Welt zukommt, müsste dieses Mittel aber in einem erheblich grösseren Ausmass als 2009 eingesetzt werden und würde mit Sicherheit die Gefahr einer Hyperinflation heraufbeschwören.

Zusammenbruch wird nur aufgeschoben

Ausser dem Einsatz der SZR käme nach jetzigem Stand der Dinge nur noch die (vom IWF bereits vorgeschlagene) direkte Enteignung von Bürgern mittels einer einmaligen «Vermögensabgabe» oder einer Vermögenssteuer als Massnahme in Frage. Sie wäre allerdings schwer durchzusetzen, da sie mit Sicherheit auf grossen sozialen Widerstand stossen würde.

Selbst wenn dieser Widerstand tatsächlich überwunden werden sollte, so bliebe dennoch die Tatsache, dass beide Massnahmen – der Einsatz der SZR oder die kalte Enteignung der Bürger – den Zusammenbruch schlussendlich nur aufschieben, nicht aber aufhalten oder gar abwenden können. Vergliche man die Phase, in der sich die Weltwirtschaft und das globale Finanzsystem derzeit befinden, mit der letzten Fahrt der Titanic, so müsste man feststellen: Die Kapelle spielt und die Passagiere tanzen, aber das Schiff ist dem Eisberg bereits so nah, dass auch das kühnste Manöver des Kapitäns den Zusammenprall nicht mehr verhindern kann.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Ernst Wolff ist freier Journalist und Autor des Buches «Weltmacht IWF – Chronik eines Raubzugs», erschienen im Tectum-Verlag, Marburg.

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