Kommentar

Die Verfassung gilt – wie’s beliebt

Hanspeter Guggenbühl © bm

Hanspeter Guggenbühl /  «Ab und zu macht sich ein Ziel selbständig». Auch so kann man den Verfassungsbruch mit einer zweiten Gotthard-Röhre rechtfertigen.

Märchen sind nicht wahr und lassen sich darum auslegen, wie’s beliebt. Ebenso beliebig interpretieren Regierung und Verwaltung die Bundesverfassung. Das gilt beim durchlöcherten Zweitwohnungs-Verbot ebenso wie beim Schutz der Alpen vor dem Transitverkehr. In diesem Grundgesetz steht im Artikel 84: «Der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene.» Und: «Die Transitstrassen-Kapazität im Alpengebiet darf nicht erhöht werden.»
Wollte die Regierung die Verfassung konsequent umsetzen, hätte sie den zweispurigen Gotthardtunnel für den Gütertransit längst sperren sollen. Stattdessen beantragt sie in der Abstimmung vom 28. Februar, die Kapazität dieser Transitstrasse mit einer zweiten Röhre auf vier Spuren zu erhöhen. Zur Beruhigung erzählt sie dem Volk das Märchen, zwei der vier Fahrspuren blieben ewig gesperrt. Darum sei der verbotene Kapazitätsausbau kein Verfassungsbruch. Wer’s glaubt, zahlt drei Milliarden Franken.
Bleibt die Frage, wie man das Verbot des Gütertransits umsetzt. Dazu beschlossen Bundesrat und Parlament ein Gesetz, das die Zahl aller Lastwagenfahrten auf 650’000 begrenzt. Doch auch dieses gesetzliche Ziel wird nicht erfüllt, weil der Bundesrat trotz 24-Milliarden teurer Neat eine Kontingentierung mittels Alpentransitbörse ablehnt.
Peter Füglistaler, Chef des Bundesamtes für Verkehr, der sich im Abstimmungskampf für die zweite Röhre engagiert, rechtfertigt diesen Verstoss kreativ: «Ab und zu macht sich ein Ziel auch selbständig», erklärte er der «Handelszeitung» (HZ) und interpretierte: «Nach Annahme der Alpeninitiative war weniger die Verkehrsmenge das Thema, sondern die Umweltbelastung.» Dank besserer Motortechnologie «nimmt die Schadstoffbelastung in einem Masse ab, wie es sich die Initianten vor 20 Jahren erträumt haben.»
Von der Stickoxid-Belastung, die Füglistaler im HZ-Interview anspricht, steht im BV-Artikel 84 und im Verkehrsverlagerungsgesetz allerdings nichts. Doch bei seiner Lesart bleibt irrelevant, was Volk und Parlament in der Verfassung und seinen Ausführungs-Gesetzen festschreiben. Was Recht oder Unrecht ist, überlassen wir der Interpretation von Regierungsleuten oder Chefbeamten. Denn diese wissen offenbar besser als die Abstimmenden, was diese wollten, als sie – zum Beispiel – der glasklar formulierten Alpeninitiative zustimmten. Wenn diese Politik ins Kraut schiesst, wäre es auch egal, was die Stimmbevölkerung am 28. Februar beschliesst. Denn so oder so: So ist es nicht gemeint.


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2 Meinungen

  • am 7.02.2016 um 10:53 Uhr
    Permalink

    Der neue Basistunnel überschreitet nicht eine Höhe von 550 m, und ist in einer Viertelstunde durchfahren. Die historische Linie gipfelt auf 1’150 m, und Züge durchfahren sie in eineinviertel Stunde. Der Scheiteltunnel entspricht in keiner Weise den heutigen Sicherheitsnormen. Die SBB haben mitgeteilt, dass kein Güterzug mehr diese Strecke befahren werde, und dass die Linie nicht mehr vorsorglich unterhalten wäre, sondern nur von Fall zu Fall repariert würde. Man kann sich eine Verlängerung bis Flüelen der Meterspurbahn, die Andermatt mit Göschenen verbindet, vorstellen. Die Nord- und SüdRampen bleiben für Dampfzüge erhalten.

    Mein Vorschlag ist: Den alten Bahntunnel außer Betrieb setzen, sein Profil erweitern, ihn mit einem Sicherheitsstollen versehen und einer modernen Lüftung ausstatten, ihn in einen Straßentunnel umbauen: das Ganze für 800 Mio, 3 Jahren. Anschliessend den heutigen Straßentunnel sanieren: 600 Mio. Gesamtkosten 1,4 Mia.

    Die Bürger sind aufgerufen, sich zu einem Gesetz zu äußern, das den Bau der zweiten Autobahnröhre, die durch den Bundesrat vorgesehen ist, gutheisst. Die Bürger werden weder eine Trasse, noch eine Bauweise, noch einen Baukredit beschliessen. Mit der Unterstützung der vernünftigen Bürger ist die Lösung des Umbaus des alten historischen Bahntunnels realistisch, ganz gleich was sie am 28 Februar entschlossen haben.

    https://sites.google.com/site/gothardscheiteltunnel/memoire

  • am 8.02.2016 um 18:28 Uhr
    Permalink

    Ich dachte bisher, es sei «nur» der Bundesrat, insbesondere BR Leuthard, welche die Interessen der Bau- und Autolobbies über die Verfassung stellen, sehe aber nun, dass auch die Chefbeamten bei diesem üblen Spiel mitmachen.

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