Kommentar

Sprache: Von trächtiger Frau zu schwangerem Tier

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Zurück zur Natur: Diesen Ratschlag scheinen wir nötig zu haben – und zu befolgen –, wenn wir deutsch über Tiere und Menschen reden.

Tiere fressen nicht mehr, sie essen, und wenn es sich um Tierdamen – ehemalige Weibchen – handelt, so werden sie manchmal schwanger, nicht mehr trächtig. Dieser Beobachtung aus der Presse habe ich vor gut zwei Jahren eine «Sprachlust»-Glosse gewidmet. Nun beschäftigt die Frage, ob sich das Reden über Tiere tatsächlich «vermenschliche», auch die Wissenschaft: An der Universität Mainz nimmt sich eine Doktorandin des Themas an. Sie hat mich auf einen früheren Aufsatz zu «Essen oder fressen?» hingewiesen. Darin untersucht Klaas Willems zwar nicht, ob eine Verschiebung stattfindet, sondern es geht ihm um Methoden, den Sprachgebrauch zu erfassen (erschienen in «Deutsche Sprache», Heft 39, IDS Mannheim 2011).
Extrawurst für Menschen
Einige Hinweise auf Verschiebungen gibt es bei Willems dennoch. So zitiert er aus dem «Deutschen Wörterbuch» (Neuausgabe des Grimm’schen, 1999–2006): «essen: nahrung zu sich nehmen. vom menschen, bis zum beginn des 17. jhs. auch vom tier». Dagegen bedeutet «fressen» nach den Brüdern Grimm beim Tier die gewöhnliche Nahrungsaufnahme, beim Menschen indessen die «übermässige, unzivilisierte», und das Verb wird auch vielfach in übertragenem Sinn verwendet. Die seit dem 17. Jahrhundert erfolgte Verengung von «essen» auf den Menschen weicht sich nun, wie mir scheint, wieder auf.
Dafür findet sich bei Willems ein indirekter Beleg. Er untersucht die Verwendung der beiden Verben anhand zweier elektronischer Textsammlungen: des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo, www.ids-mannheim.de, auch mit Publikationen aus der Schweiz) und der Suchmaschine WebCorp.org.uk (angesetzt auf Websites mit der Adressendung «.de»). Ich vermute, die erfassten Texte seien bei WebCorp durchschnittlich jünger, da aktuell öffentlich abrufbar. Bei jenen Belegen aus dem DeReKo, die Willems näher untersucht hat, findet er 515-mal Hunde, die fressen, dagegen nur 21 essende. Bei der WebCorp-Recherche ergibt sich aber das Verhältnis 362 zu 268. Bei den Katzen liegen die Verhältnisse ähnlich, bei den Kühen auch, jedoch weniger deutlich. Generell sind es vor allem Haustiere, bei denen neben «fressen» auch «essen» in nennenswerter Häufigkeit verwendet wird.
Deutsche Spezialität
Falls diese verbale Vermenschlichung nun tatsächlich zunimmt und sich auch auf freilebende Tiere ausdehnt, nähert sich das Deutsche vielen anderen Sprachen an, in deren Vokabular nicht oder nur wenig zwischen tierischen und menschlichen Tätigkeiten unterschieden wird. So schreibt die Doktorandin Julia Griebel in einem E-Mail: «Das Deutsche nimmt mit seiner stringenten lexikalischen Trennung zwischen Mensch und Tier eine Sonderstellung unter den Sprachen ein. In germanischen Sprachen etwa scheint es keine Sprache ausser dem Deutschen zu geben, die menschliche und tierische Nahrungsaufnahme im Wortschatz trennt. Bei Bezeichnungen von Körperteilen sieht das aber wohl anders aus (was eben auch daran liegt, dass eine Pfote anders aussieht als eine Hand etc.).»
Griebel weist ebenfalls darauf hin, dass die Unterscheidung sprachgeschichtlich neueren Datums ist: «Interessant ist die Tatsache, dass diese Grenze, wie sie im Neuhochdeutschen besteht, in früheren Sprachstufen überhaupt nicht bestanden hat: fressen bedeutete ursprünglich ‹aufessen› (was man dem Verb ja noch ansehen kann: ver-essen), saufen ‹schlürfen, trinken› (vor allem bei Menschen), Haut und Fell hatten ein und dieselbe Bedeutung ‹Haut (Tier und Mensch)›, bis Luther eine Unterscheidung einführte; trächtig konnte eine Frau ebenso wie ein Tier sein, Frauen und Tiere säugten ihre Neugeborenen gleichermassen und, und, und …»
Statt dahin zurückzukehren, behandeln wir nun oftmals Tiere wie Menschen – jedenfalls sprachlich, und jedenfalls die «gleicheren» unter den Tieren.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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