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Billett-Bezug am Automaten: Besonders mühsam, wenn's pressiert © Mike Knell/Flickr/cc

Elektronisches Tarifsystem – wozu eigentlich?

Hanspeter Guggenbühl /  E-Tickets könnten Bahn- und Bus-Billette ersetzen. Doch wichtiger ist die Frage, wie die ÖV-Tarife künftig bemessen sein sollen.

Momentaufnahme am Bahnhof: Vor dem Billett-Automaten steht ein Paar. Sie drückt Knöpfe, tippt Buchstaben. Er nestelt im Portemonnaie, wirft Münzen ein. Der Zug naht. Dahinter tänzelt ein Herr mit gezückter Kreditkarte. Der Zug hält. Der Apparat bietet eine Quittung an. Das Paar wartet. «Sie müssen Ja oder Nein drücken», erklärt der Wartende nervös. Der Zug fährt ein. Sie tippt nochmals. Jetzt surrt der Drucker, Der Automat spuckt Billett, Beleg und Rückgeld aus. Das Paar stürmt mit den Koffern zum Bahnwagen. Der Mann mit Kreditkarte steigt im letzten Moment ebenfalls ein, mit schlechtem Gewissen, denn für ihn hat die Zeit zum Billett-Bezug nicht mehr gereicht.

Der Traum vom E-Ticket

Wie schön wäre es, wenn wir in jeden Zug, jedes Tram einsteigen könnten, ohne uns ums Billett zu kümmern. Das denken täglich wohl Tausende von Fahrgästen, die an Billettschaltern Schlange stehen oder sich vor Automaten abmühen. Das Gleiche dachten auch Planer von SBB, Privatbahnen, Post und Elektronik-Anbietern, als sie in den 1990er-Jahren ein System namens «Easyride» ausheckten. Dieses hätte alle ein- und aussteigenden Fahrgäste elektronisch registrieren und ihnen die Tarifkosten jeweils Ende Monat verrechnen sollen.
Doch nach der Jahrtausendwende stockte die Entwicklung. «Easyride» scheiterte, weil niemand die hohen Kosten dafür übernehmen wollte. Seither propagieren Elektronik-Anbieter wie etwa Siemens immer mal wieder ein neues System. Und technikbegeisterte Medienschaffende berichten von öffentlichen Verkehrs-Unternehmen (ÖVU) im Ausland, die ein elektronisches Tarifsystem, auch «E-Ticketing» genannt, planen oder bereits einführten. Daraus entsteht der Eindruck, die Schweizer ÖVU würden die Entwicklung verschlafen und den Anschluss verlieren. Ist das so?

«Erst Tarife vereinfachen»

Die Frage geht an den «Verband öffentlicher Verkehr» (VöV), dessen Gremien über die Tarife der 240 Schweizer ÖV-Unternehmen – von den SBB über die Privat- und Seilbahnen bis zu den regionalen Verkehrsverbünden – befinden und sie koordinieren. VöV-Direktor Ueli Stückelberger antwortet: Die Einführung eines voll elektronischen Tarifsystems, das alle Einzelfahrten erfasst und abrechnet, brauche Zeit und habe für den VöV «zurzeit keine Priorität». Zuerst gelte es, die unterschiedlichen Tarife von Bahnen, Bussen und regionalen Verkehrsverbünden zu vereinfachen: «Handlungsdruck besteht bei der Vereinfachung der Tarife, nicht bei der elektronischen Erfassung der Einzelfahrten». betont Stückelberger. Ein einfacheres Tarifsystem erleichtere später auch die Einführung des E-Ticketing.
Der VöV-Direktor relativiert auch die Vorteile: Bei den Passagieren, die sich vor Billett-Automaten abmühen oder vor Schaltern Schlange stehen, handle es sich um die Minderheit. Ihre Wünsche nach Vereinfachungen seien zwar ernst zu nehmen. Doch zwei Drittel aller Fahrten im öffentlichen Verkehr entfallen laut VöV-Erhebung schon heute auf Besitzer von General- oder Verbund-Abonnements und Tageskarten, bei denen der Billett-Bezug entfällt. Auf der andern Seite haben auch Chipkarten für Einzelfahrten, wie sie Holland bereits eingeführt hat, ihre Tücken. Die Passagiere zahlen dafür einen Grundpreis (was für Touristen unattraktiv ist), laden sie auf (Prepaid), und sie müssen bei jeder Fahrt ans Ein- und Auschecken denken.
Für die ÖVU dürften die Kosten für die Einführung eines elektronischen Systems lange Zeit stärker ins Gewicht fallen als die Einsparungen beim traditionellen Billettverkauf. Mindestens 20 Jahre müsse die alte Infrastruktur mit Schaltern und Automaten weiter geführt werden, rechnet Stückelberger, denn: «Die Machbarkeit für 80 Prozent genügt nicht. Wir brauchen Lösungen für alle Passagiere.»

Elektronik braucht’s wenn «Mobility Pricing» kommt

Die Zurückhaltung gegenüber dem E-Ticketing leuchtet ein, solange ein Grossteil der Fahrten im ÖV auf Besitzer von GA und andern Abonnements entfällt. Vor allem Leute, die über weite Strecken zur Arbeit pendeln, besitzen solche Abos. Sie profitieren damit von Mengenrabatten. Diese Rabatte stehen jedoch in Konflikt mit dem Verursacherprinzip. Denn wer ein Abonnement besitzt, fährt meist in Spitzenzeiten und wird damit zum Treiber für den unrentablen Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Das Gleiche gilt im Privatverkehr: Wer viel fährt und damit am stärksten zur Überlastung und zum Ausbau der Strassen beiträgt, bezahlt pro Kilometer Fahrt weniger, weil die Kosten fürs Auto und andere Fixkosten weniger ins Gewicht fallen.
Ökonomen fordern darum seit Jahren ein verursachergerechtes «Mobility-Pricing» (Fahrtenorientierte Preise); dies sowohl auf der Strasse als auch auf der Schiene. Damit würden Vielfahrende differenziert, nämlich vor allem auf überlasteten Strecken und in Spitzenzeiten, stärker zur Kasse gebeten. Ohne elektronische Erfassung jeder einzelnen Fahrt lässt sich ein verursachergerechtes – und damit noch komplexeres – Tarifsystem im öffentlichen und privaten Personenverkehr aber kaum verwirklichen.

«Pendlerstrafe» oder: Was ist verursachergerecht?

Allerdings stösst Mobility-Pricing auf erbitterten Widerstand. Nicht nur Strassenverbände und Autoclubs wehren sich dagegen, sondern auch Vertreter des öffentlichen Verkehrs: Der Ersatz von General- und Verbund-Abos durch höhere, zeitabhängige Streckentarife wäre eine «Pendlerstrafe», sagt VöV-Chef Stückelberger. Zudem könne man darüber streiten, ob ein Pendler mit GA den Bahnen wirklich höhere ungedeckte Kosten beschere als ein Automobilist, der den öffentlichen Verkehr mit Einzelbillett, aber nur bei Schneetreiben nutzt.
Ueli Stückelberger findet es richtig, dass der Staat einen Teil der öffentlichen Verkehrskosten trägt, denn: «Wir sind kein Golfclub, sondern betreiben ein Verkehrssystem, das auch soziale, raumplanerische und regionalpolitische Anforderungen erfüllen und bezahlbar bleiben muss.»

«SWISSPASS» – EINE KARTE, MEHRERE ABOS
Die blauen General- und Halbtax-Abos werden rot. Das ist nur ein kleiner Schritt auf dem langen Weg zum elektronischen Tarifsystem. 

hpg. «Der SwissPass kommt – erster Schritt Richtung E-Ticketing». Unter diesem Titel präsentierten SBB, Verband öffentlicher Verkehr und die Berner Jungfraubahnen den Medien gestern Dienstag ein rotes Plastikkärtchen im Kreditkartenformat. Darauf stehen der Name der Besitzerin samt Foto, das Geburtsdatum, einige weitere Ziffern und der Name «SwissPass» (was Schweizer Pass heisst, aber nicht bedeutet).
Auf dem langen Weg Richtung elektronisches Tarifsystem (siehe Hauptartikel) handelt es sich dabei um einen kleinen Schritt: In der ersten Etappe ab August 2015 wird die rote Karte schrittweise die blauen General- und Halbtax-Abonnements ersetzen. Zudem lassen sich dann auch die Abos einiger weniger Bergbahnen auf den Chip der neuen Karte laden; für automobile Skitouristen aber braucht’s weiterhin eine spezielle Tages- oder Wochenkarte.

Ob der «SwissPass» ein GA- oder Halbtax-Abo markiert, kann das Auge nicht mehr erkennen. Dazu braucht die Kontrolleurin künftig ein elektronisches Gerät. Das verlängert die Kontrollzeit um das Zwei- bis Dreifache, macht sie aber etwas zuverlässiger als der flüchtige Blick des Kondukteurs.
Die kleine Rote hat allerdings Entwicklungspotenzial: Ab 2016 lassen sich sukzessive Abonnements der regionalen Verkehrsverbünde sowie zusätzliche Dienstleistungen draufladen, etwa für Carsharing oder elektronischen Veloverleih, wie es ihn etwa in Paris gibt. Jeannine Pilloud, Leiterin Personenverkehr bei den SBB, bezeichnete den «SwissPass» als «enorm wichtigen» und «grossen Schritt» für den öffentlichen Verkehr. In einigen Jahren könnten sich auch Tageskarten und Einzelbillette auf die Karte laden lassen. Allerdings, so zeigen die Erfahrungen mit dem abgebrochenen Versuch «Easyride», sind Prognosen zur Entwicklung von weitgehend elektronischen Tarifsystemen mit Vorsicht zu geniessen.

Siehe auch

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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Auto oder Bahn: Wer zahlt Defizite?

Wer subventioniert wen und wieviel? Kann oder soll man Pendler zur Kasse bitten?

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Wann E-Tickets im Touristenland CH?

Ein einziges elektronisches Billet für den ganzen öffentlichen Verkehr der Schweiz. Vorteile und Einwände.

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5 Meinungen

  • am 11.03.2015 um 22:34 Uhr
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    Ich mag die Statements von ÖV-Zuständigen sehr. Auch wenn ich die Geschichte schon mehrfach zum Besten gegeben habe: Die SBB (und andere) schliessen Schalter mit der Begründung, die Automaten wären akzeptiert, die steigenden Zahlen der Automatenverkäufe würden das belegen. Aber: Wie sollten die Zahlen nicht steigen, wenn immer mehr Schalter geschlossen wurden…?
    Nun heisst es «Doch zwei Drittel aller Fahrten im öffentlichen Verkehr entfallen laut VöV-Erhebung schon heute auf Besitzer von General- oder Verbund-Abonnements und Tageskarten, bei denen der Billett-Bezug entfällt.» Tatsache ist, dass z.B. viele ältere Leute ein GA haben, ohne dies je herauszufahren – einfach, weil sie mit den Automaten, Tarifen und Streckenwahlen nicht mehr klar kommen. Ich löse meine Tickets auch lieber daheim am Trockenen über den PC, als mich am Automaten abzumühen, allenfalls noch mit der Schlange im Rücken. Nur: Sage jetzt ja niemand, ich würde die online-Tickets (bzw. das System für deren Bezug) lieben.

    Also, liebe ÖV-Macher: Ursache und Wirkung bitte nicht verwechseln! Danke!

    PS: Am allerliebsten würde ich das Ticket beim Konduktör im Zug kaufen. Einfach, damit das auch wieder mal gesagt ist.

  • am 11.03.2015 um 23:25 Uhr
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    Bravo. Marketing heisst bei der SBB nicht bestimmte Angebote zu bewerben, sondern die Angebote so hinzubiegen, dass die internen Vorlieben auch bei den Konsumenten mehr nachgefragt werden. Das kann sich in der Privatwirtschaft niemand leisten.

    Wenn die Herren Konduktören (womöglich bald mit Securitas) sowieso durch den Zug laufen, kann es nichts Effizienteres geben, als die Billette im Zug zu verkaufen.

  • am 12.03.2015 um 03:08 Uhr
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    Die Lösung ist eigentlich enfach, nur will sie niemand bei Bund und SBB hören.

    SBB und Privatbahnen beziehen jährlich laut TA über 5 Mia. an Subventionen.

    Das Abrechnungssystem, die Automaten, die Kontrolle, der Online-Shop, die Konduktöre, die Schalter an den Bahnhöfen, Schalterpersonal, Steuerabzüge der Pendler, Abfall, Betriebskosten der Automaten usw. alles in der Summe immense Kosten, die eingespart werden können.

    Bahn gratis, Problem gelöst – villeicht. Das wäre sicher mal eine sinnvolle Studie.

    Und wenn der Steuerzahler dann noch eine Mia. zusätzlich einschiessen muss, mach das den Braten auch nicht heiss.

  • am 12.03.2015 um 15:19 Uhr
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    Kann ja nicht sein, dass über die Häfte des Fahrtpreises für die Herstellung, Bereitstellung und Kontrolle der Tickets draufgeht.

    Personenverkehr und Infrasturktur haben zusammen über 22’ooo Vollbeschäftigte.

    http://www.sbb.ch/sbb-konzern/ueber-die-sbb/zahlen-und-fakten/personal.html

    Das sind also mehr als zwei Drittel aller Angestellten. Der Personalaufwand ist insgesamt an die 3 Mia.

    http://geschaeftsbericht.sbb.ch/fileadmin/user_upload/Downloads/SBB_Erfolgsrechnung_AG_GBNB_2013.pdf

    Da könnte man wohl alleine bei den Personalkosten 1 Mia sparen.

    Die Alternative sind Preiserhöhungen, wie der TA vorrrechnet. Nur: Wie elastisch reagiert die Nachfrage nach öffentlichen Verkehrsmitteln auf Preisaufschläge? Wieviel % fahren weniger Bahn wenn der Preis um 25% steigt?

    Wieviel mehr fahren Bahn, wenn sie gratis ist? Wäre doch auch Umweltpolitisch eine interessante Sache.

    Es ist einfach ein Witz, wenn eine Unternehmung, die sowieso nicht ohne Subventionen auskommt, einen so grossen Apparat aufrecht erhält, nur um Billette zu verkaufen und deren Kauf zu kontrollieren. Es sind wohl mehr als 10’000 Mitarbeiter nur mit dieser Farce beschäftigt.

    Dabei entsprechen die Verkehrseinnahmen mehr oder weniger dem Personalaufwand. Ein Witz.

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