Kommentar

Die «Bevölkerungsbombe» ist ein zweifelhaftes Baby

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Marcel Hänggi /  Die Bevölkerungsgröße als wichtigstes Umweltproblem zu portieren, lenkt in erster Linie von Fragen sozialer Gerechtigkeit ab.

Die etwas obskure «Umweltorganisation» (Eigenbezeichnung) Ecopop möchte die Zuwanderung begrenzen. Nicht aus Ausländerfeindlichkeit, nein: zum Wohle der Umwelt. Es klingt ja plausibel: Immer mehr Menschen konsumieren immer mehr und brauchen immer mehr Platz. So kann es nicht weiter gehen. Und Urs Gasche schreibt auf Infosperber, Linke und Grüne dürften sich vor diesen Themen nicht drücken, nur weil die SVP die erste gewesen sei, die die «Wahrheit» ausgesprochen habe, dass die Schweiz mit einer Million mehr Einwohnern ohne Atomstrom nicht auskomme.

Martialisches Vokabular

Der Streit um die Bevölkerungsgröße hat eine lange Geschichte in der Umweltbewegung. Doyen der ökologisch motivierten Bevölkerungs-Warner ist der amerikanische Biologe Paul Ehrlich. Seine Bücher heißen «Die Bevölkerungsbombe» (1968, geschrieben im Auftrag der Umweltorganisation Sierra Club), «Die Bevölkerungsexplosion» (1990) oder, nicht ins Deutsche übersetzt, «The Race Bomb» («Die Rassenbombe», 1977). Hoppla! Da verwendet einer martialisches Vokabular.
Ehrlich kann’s auch nüchterner. Er ist einer der Väter der Formel «I=PAT», die zur Grundausstattung der Umwelt-Lehrbücher gehört. Sie postuliert, dass die Umweltbelastung (impact, I) gleich dem Produkt von Bevölkerung (population, P), Wohlstand (affluence, A; verstanden als BIP pro Kopf) und einem Technik-Faktor (technology, T; verstanden als Umweltbelastung pro BIP) ist. Die Formel ist trivialerweise korrekt – aber sie ist eine willkürliche Zerlegung der Umweltbelastung in Faktoren. Sie suggeriert, dass Umweltpolitik nur an drei Punkten ansetzen könne: Bevölkerung, Wohlstand und technischer Fortschritt. Bleibt also die Wahl zwischen Technikglaube und Bevölkerungssenkung – denn wer will schon weniger «Wohlstand»? Man hätte allerdings auch eine Faktorenzerlegung wählen können, in der beispielsweise die Verteilung des Wohlstands eine Rolle gespielt hätte.

Verteilungsblind

Dass es einfacher ist, begrenzte Ressourcen unter eine kleinere Zahl von Menschen zu verteilen, ist trivial. Aber das wichtige Wort in dieser Feststellung heißt «verteilen». So verbraucht heute beispielsweise ein Fünftel der Menschheit für vier Fünftel der Energie, die der ganzen Menschheit zur Verfügung steht. Das ist, als wären an einen Kindergeburtstag zehn Kinder geladen. Das erste Kind äße den halben Kuchen, das zweite ein weiteres Drittel und so weiter; den beiden letzten Kindern blieben Brosamen. Technikoptimisten werden rufen: Backen wir einen größeren Kuchen; Bevölkerungswarner: Laden wir weniger Kinder ein! Beides ist gleichermaßen zynisch, zumal es vor allem die Vielfraß-Kinder sind, die rufen.
Den Warnern vor einer «Bevölkerungsexplosion» ist gemein, dass sie von der Ungleichverteilung ablenken. Ihr Übervater war Thomas Malthus mit seinem «Essay on the Principles of Population» (1798). Malthus warnte, die Bevölkerung wachse exponentiell, während die Produktion von Nahrungsmitteln nur linear wachsen könne; es komme also zwangsläufig zur Hungerkatastrophe.
Malthus’ Prophezeiungen haben sich nicht bewahrheitet – zum Spott der Technikoptimisten: Der Kuchen ist tatsächlich größer geworden. Man sollte es sich mit dem Spott indes nicht allzu einfach machen: Der Kuchen konnte immer größer werden, weil gerade zu Malthus’ Zeit die Nutzung billiger fossiler Energie eine Dynamik des Wirtschaftswachstums auslöste, wie es das noch nie gegeben hatte. Werden die billigen Energieressourcen knapp, dürfte Malthus wieder viel an Aktualität gewinnen.
Malthus verfolgte eine politische Agenda. Er war ein Gegner der Idee gesellschaftlichen Fortschritts. In der «ungehemmten» Fortpflanzung der Armen erkannte er deren moralische Minderwertigkeit; statt ihre Lage zu bessern bedurfte es rigider Sozialkontrolle.

Malthusianismus und Grüne Revolution

Nach Malthus dominierte zweitweise eher die (nationalistisch aufgeladene) Angst vor einem Bevölkerungsrückgang, doch nach dem zweiten Weltkrieg erlebten seine Ideen eine Renaissance. John Rockefeller III, der Enkel des Erdöl-Magnaten, gründete 1952 den Population Council und veranlasste die US-Entwicklungsagentur USAID zur Gründung ihres Bevölkerungsbüros. Rockefeller war auch Eugeniker. Statt dass man den Armen (und dadurch minderwertigen) Menschen half, wodurch sie nur noch zahlreicher würden, sollte man lieber ihre Zahl begrenzen. USAID gab um 1970 mehr Geld für Programme der Bevölkerungskontrolle als für für Gesundheitsprogramme aus.
Die Rockefeller-Stiftung und USAID waren ab den 1960er Jahren auch Initiantinnen und Trägerinnen der «Grünen Revolution», zusammen mit der Ford-Stiftung und der Weltbank, die sich beide ebenfalls für Bevölkerungskontrolle engagierten. Die Grüne Revolution steigerte vor allem in Lateinamerika und Asien die landwirtschaftlichen Erträge. Für ihre AnhängerInnen war sie eine Erfolgsgeschichte, die eine Milliarde Menschen vor dem Hungertod rettete. Doch die Landwirtschaft der Grünen Revolution steigerte mehr noch als die Erträge pro Fläche die Produktivität pro Arbeitskraft, indem sie menschliche Arbeit durch Maschinen und Agrochemikalien ersetzte. Hunderte Millionen verloren ihr Auskommen und fielen in bitterste Armut. Auch hier sollte von ungleicher Verteilung abgelenkt werden: Die Grüne Revolution hatte zum erklärten Ziel, («kommunistische») Landreformen zu verhindern, die den Landbesitz gerechter verteilt (und dadurch ebenfalls zur Steigerung der Erträge beigetragen) hätten.

Wachstumskritik am falschen Ort

Mit Paul Ehrlich etablierten sich malthus’sche Ideen in der Umweltbewegung (wobei es schon vor ihm prominente UmweltschützerInnen gab, die die Umwelt schützen wollten, indem sie die Menschen daraus entfernten – etwa der Tierfilmer Bernhard Grzimek). Das wurde bestärkt durch die wachstumskritische Debatte, die sich in Folge des Club-of-Rome-Berichts «Die Grenzen des Wachstums» (1972) und der Ölkrise von 1973 entspann und die immer mehr Menschen bewusst machte, dass das Füllhorn, das Malthus vor zwei Jahrhunderten Lügen gestraft hatte, langsam zur Neige geht. Zwar hatten schon vorher Stimmen vor den Grenzen des Wachstums gewarnt, und um zu merken, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht geht, hätte es nicht der Computersimulationen des Club of Rome bedurft. Gehör fanden diese Stimmen aber erst zu dem Zeitpunkt, da immer mehr Menschen in den ehemaligen Kolonien Anspruch auf ihren Teil der globalen Ressourcen erhoben. Auch das Wort «Überfremdung» wurde damals erfunden. Die Angst vor der Überbevölkerung war immer auch die Angst vor den anderen: Die «Bevölkerungsbombe» wurde in Lateinamerika, Afrika und Asien lokalisiert. «Wir sitzen alle im selben Boot», war eine oft gehörte Redensart – damit solle, schrieb der Club-of-Rome-Kritiker Hans Magnus Enzensberger, «der kleine Unterschied zwischen Erster Klasse und Zwischendeck, Kommandobrücke und Maschinenraum verleugnet werden.» Und vom «selben Boot» zum fremdenfeindlichen «Das Boot ist voll» ist es ein kleiner Schritt.

Nicht das Hauptproblem

Dass eine Idee unsympathische Väter hat, macht sie noch nicht zwingend falsch, zumal auch die extremen Gegenspieler – die Technikoptimisten und Wachstumseuphoriker – nicht über alle Zweifel erhaben sind. Aber man schaue sich ein paar Zahlen an. In der Schweiz etwa hat sich der Energieverbrauch der letzten sechzig Jahre (ohne graue Energie) mehr als versiebenfacht, während die Bevölkerung nur um sechzig Prozent gewachsen ist. Viel gewichtiger als das Bevölkerungswachstum war das Wachstum des Verbrauchs pro Kopf, nämlich um den Faktor viereinhalb. Und allein dieser Pro-Kopf-Zuwachs beträgt mehr als das Dreifache dessen, was Menschen in Entwicklungsländern heute durchschnittlich pro Person zur Verfügung haben. Das Bevölkerungswachstum ist nicht das ökologische Hauptproblem unserer Zeit.
Solange man die Ungleichverteilung nicht angeht und den Überkonsum der Reichen dieser Welt nicht senkt, besteht noch lange kein Grund, sich mit Malthusianern ins Bett zu legen.


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Zum Infosperber-Dossier:

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