Kommentar

«… im Zweifel für die (potenziellen) Opfer»

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsKeine ©

Jürgmeier /  Am 18. Mai 2014 wird die Pädophilen-Initiative angenommen. «Ein bahnbrechender Erfolg», freut sich die «Emma».

Fast unvermittelt steht er da, der Satz, mitten in dem Text mit dem Titel «Der überwältigende Sieg von Christine.» Christine Bussat wird an diesem Maiensonntag – an dem knapp zwei Drittel der Stimmenden ein Ja zu ihrer Initiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten» in die eidgenössischen Urnen legen – zur Winnerin. Das ist der Sommer-«Emma» zwei Seiten wert. Die SchweizerInnen hätten eine klare Regelung gewollt, schreibt das deutsche Frauen-Magazin: «Im Zweifel für die (potenziellen) Opfer.» Natürlich haben die StimmbürgerInnen nicht für diesen Wortlaut, sondern dafür gestimmt, dass «Personen, die verurteilt werden, weil sie die sexuelle Unversehrtheit eines Kindes oder einer abhängigen Person beeinträchtigt haben, [endgültig das Recht verlieren], eine berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit mit Minderjährigen oder Abhängigen auszuüben» (Initiativtext). Aber vermutlich war es, wie in ähnlich gelagerten Fällen, so gemeint.

Wenn Zweifelnde zu TäterversteherInnen werden

Eigentlich bin ich ein Sympathisant der «Emma» sowie ihrer Anliegen, und der Satz hat – schnell gelesen und, vermutlich, schnell geschrieben – etwas Bestechendes. Wer wollte ihm widersprechen? «Im Zweifel für die (potenziellen) Opfer.» Aber er erzeugt mit ein Klima, in dem der oder die an Schwarz und Weiss Zweifelnden zu «Täterverstehern» und «Täterversteher» zu Mit-TäterInnen werden, welche «die Opfer vergessen» (Andrea Bleicher in der «SonntagsZeitung» vom 20. Juli).

In einer Kultur, in der Erwachsene in den Gärten der Kinder herumtrampeln, als wären es ihre eigenen, in der psychische und physische Übergriffe sowie (sexuelle) Gewalt von (vertrauten) Erwachsenen gegenüber Kindern nicht nur eine lange Tradition hat, sondern immer noch gelebte Gegenwart ist, werden reale oder vermeintliche Pädophile beziehungsweise Pädosexuelle zu ultimativen Sündenböcken. Mit der Hatz auf ihn (oder sie) wird versucht, die kulturimmanenten Übergriffstendenzen auszutreiben beziehungsweise zu cachieren.

Der in derselben «Emma»-Nummer, zu Recht, kritisierte «dreckige Traum von Hollywood», die (bekannten) Missbrauchs- und Vergewaltigungsaffären weltberühmter Regisseure von Charlie Chaplin über Roman Polanski bis zu Woody Allen haben diese, im Gegensatz zu gewöhnlichen Pädosexuellen, nicht auf ihre Taten reduziert und nachhaltiger Ächtung ausgesetzt. Roman Polanski «beehrt», schreibt das «Tagblatt on line» am 26. Juli 2014, heuer das Filmfestival von Locarno als «Überraschungsgast» und wird da, vermutlich zu Recht, mit einem Spezialpreis ausgezeichnet.

Aber die Frage muss gestellt werden: Wie weit können Stars gehen, bis ihr Leben ihr Werk in Frage stellt? Wie viel (mehr) Blut hätte geflossen sein müssen, bis TouristInnen nicht mehr vor Pyramiden und Kathedralen Schlange stehen würden?

In dubio pro reo oder Die Gegenvision

«Im Zweifel für die (potenziellen) Opfer.» Angenommen, der Satz hängt nicht an der Pädophilenfrage und begünstigt nicht nur Opfer der eigenen Blickrichtung; vorausgesetzt, der Satz lässt sich verallgemeinern – dann wird er zum Gegenspieler von «in dubio pro reo // Im Zweifel für den Angeklagten». Dieser rechtsstaatliche Grundsatz soll (potenzielle) TäterInnen davor schützen, infolge von Fehlurteilen zu (potenziellen) Opfern zu werden. Hinter der Gegenvision steht der verständliche Wunsch, (potenzielle) Opfer vor Fehleinschätzungen, das heisst davor zu schützen, dass sie es überhaupt erst werden.

Im Zweifel für die (potenziellen) Opfer heisst, im Zweifel gegen (potenzielle) TäterInnen. Unabhängig davon, ob es um Opfer von Vergewaltigung, Heiratsschwindel, Raub, Betrug oder Anlageberatung geht. Bedeutet – wo gesellschaftliche Probleme strafrechtlich gelöst werden sollen – (vorsorglich) wegsperren oder zumindest (präventives) Berufsverbot, wenn nur geringste Zweifel daran bestehen, dass (potenzielle) TäterInnen nie (mehr) zuschlagen könnten. Hiesse, bei (unbestätigtem, aber nicht zweifelsfrei widerlegtem) Verdacht auf innerfamiliäre (sexuelle) Gewalt – sofortiges und flächendeckendes Wohnungs-, Kontakt- und Rayonverbot.

Radikaler Opferschutz und sein utopisches Potenzial

Das (verständliche) Bedürfnis nach Sicherheit führt im Gerichtssaal zum Wunsch, Angeklagte müssten, Umkehrung der Unschuldsvermutung, erst beweisen, dass sie die Vergewaltigung, die Veruntreuung oder den Mord nicht begangen (beziehungsweise angedroht) hätten; bis dann sollten sie als Schuldige behandelt werden. «Im Zweifel für die (potenziellen) Opfer.»

Der Satz wirkt, beim Wort genommen, weit über das Strafrechtliche hinaus und hat utopisches Potenzial. Er bringt, je nach individueller Betroffenheit oder Weltsicht, in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen die Forderung hervor, zuerst solle nachgewiesen werden, dass unser, das Leben unserer sowie derer Liebsten zweifelsfrei und nachhaltig sicher ist, bevor, beispielsweise, Waffen produziert und SoldatInnen ausgebildet, Autos und Atomkraftwerke gebaut, bevor irgendwelche Leute, wir beispielsweise, LehrerInnen oder Eltern werden.

Wer hätte dem Satz zugestimmt, wenn er so in der schweizerischen Bundesverfassung festgeschrieben worden wäre? «Im Zweifel für die (potenziellen) Opfer.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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2 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 30.07.2014 um 10:15 Uhr
    Permalink

    Die sprachschänderische Schreibweise SchweizerInnen, SoldatInnen, LehrerInnen wird von jüngeren Lehrerinnen glücklicherweise nicht mehr verwendet, gilt als sektiererisch. Man beachte den von 800 mehrheitlich österreichischen Akademikerinnen unterschriebenen «Offenen Brief» an das österreichische Bildungsministerium. In St. Gallen wurde die erste zu diesem fasnächtlichen Titel erwählte Frau als 39. FüdlibürgerIn ausgezeichnet, während Autorin Ruth Blum ihre Schaffhauser Dorfgenossen, die gegen ein Rehabilitationszentrum für Drogensüchtige gestimmt hatten, als «Füdlibürger", nicht etwa «Füdlibürger und Füdlibürgerinnen» oder «FüdlibürgerInnen» titulierte. Binnen-I-Texte werden nur von Gleichgesinnten ernstgenommen.

    Ruth Blum war wie Annette Droste-Hülshoff, Erika Burkart, Christa Wolf, Ingeborg Bachmann oder heutige Publizistinnen der 1. Kategorie wie Gisela Widmer jederzeit in der Lage, sich beim Schreiben als Frau zu erkennen zu geben, ohne gleichzeitig die deutsche Sprache zu misshandeln. Unter den Unterzeichnern der Eingabe an das österreichische Bildungsministerium finden wir neben Philologinnen wie Frau Prof. Lorenz aus Wiesbaden nebst anderen nicht wenige hervorragende Übersetzer, darunter zumal Übersetzerinnen, die mit genderideologischen Sprachregelungen ihre liebe Mühe haben.

    Unter den Verfasserinnen, zum Teil auch Verfassern sprachlicher Gleichstellungsreglemente gibt es niemanden, der den Anspruch erheben kann, zu den 1000 besten deutschen Stilisten zu gehören.

  • am 31.07.2014 um 08:59 Uhr
    Permalink

    Ich gehe mit der Meinung einig, dass die Schwarz und Weiss Zweifelnden als Täterverteher und damit zu «Mittätern» werden welche die Opfer vergessen.
    Bei der Diskussion über die Pädophileninitiative wurde kaum darüber diskutiert, dass die meisten Fälle im Familien- und Bekanntenkreis vorkommen. Quintessenz: Vater, Onkel, Familienfreunde etc. dürfen diese Funktion lebenslang nicht mehr ausfüben.
    Hans Arnold

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