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Rechtsschutz für Opfer von Polizeigewalt ist mangelhaft © -

Polizeiliche Übergriffe: Schweiz in der Kritik

Kurt Marti /  Seit zehn Jahren kritisieren nationale und internationale Gremien erfolglos den ungenügenden Rechtsschutz gegen Polizeigewalt.

In der Nacht des 11. Februar 2005 kurz nach 23.00 Uhr wurde X. in St. Gallen von der Polizei festgenommen. Dabei verletzte er sich und musste mit der Ambulanz ins Spital eingeliefert werden. Laut Arztbericht erlitt er mittelschwere bis schwere Verletzungen im Gesicht, insbesondere einen Nasenbeinbruch. Er reichte eine Strafanzeige gegen die zwei beteiligten Polizeibeamten ein. Weil sich die Aussagen der Polizeibeamten und des Festgenommenen diametral widersprachen, eröffneten die Untersuchungsbehörden «mangels Anhaltspunkten» kein Strafverfahren.

X. reichte beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde ein, welche gutgeheissen wurde. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die kantonalen Behörden den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine wirksame und vertiefte Untersuchung nach Art. 3 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt hatten. Laut Bundesgericht hätten die kantonalen Behörden Zeugen einvernehmen und die Unterlagen des Kantonsspitals beiziehen müssen.

Internationaler Menschenrechtsausschuss ist «tief besorgt»

Der geschilderte Fall ist kein Einzelfall und zeigt exemplarisch den mangelnden Rechtsschutz gegen polizeiliche Übergriffe. Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) hat dazu eine Studie publiziert (siehe Link unten),welche unter der Leitung von Jörg Künzli, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern, verfasst wurde.

Im Kapitel «Rechtsschutz gegen polizeiliche Übergriffe» muss die Schweiz harte Kritik einstecken. Laut SKMR-Studie bestehen in der Schweiz «im Bereich des Rechtsschutzes im Zusammenhang mit Polizeigewalt teilweise strukturelle Defizite», welche sich «trotz wiederholter Empfehlungen verschiedenster nationaler und internationaler Gremien» in den letzten Jahren kaum verändert haben.

Bereits im Jahr 2001 zeigte sich der internationale Menschenrechtsausschuss «tief besorgt» darüber, dass zahlreiche Kantone keine unabhängigen Instanzen haben, die für Strafklagen und Beschwerden gegen Polizeigewalt zuständig sind. 2009 wiederholte der Menschenrechtsausschuss seine Besorgnis und forderte die Schaffung unabhängiger Mechanismen in allen Kantonen. Geändert hat sich nichts.

Kommission gegen Rassismus sieht «grosse Mängel»

Auch der damalige Menschenrechtskommissar des Europarates Alvaro Gil-Robles forderte 2004 die Schweiz zur Einrichtung nicht-gerichtlicher und unabhängiger Instanzen zur Untersuchung von Polizeigewalt auf. 2009 bekräftigte der gegenwärtige Menschenrechtskommissar Thomas Hammarberg die Forderungen seines Vorgängers. Und schliesslich wies auch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und erniedrigender Behandlung (CPT) auf die offensichtlichen Missstände bei der Untersuchung polizeilicher Gewalt in der Schweiz hin.

Auf nationaler Ebene stellte die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) im Jahr 2008 «grosse Mängel» fest. Bei Strafklagen gegen polizeiliche Übergriffe würden «Aussagen der Polizei oft höher gewertet» als die Anschuldigungen einer Person, welche von polizeilichen Übergriffen betroffen ist. Zudem würden sich die Mitglieder einer Polizeipatrouille oft gegenseitig bestätigen. Es komme häufig zur Einstellung von Untersuchungen, weil den Untersuchungsbehörden die nötige Unabhängigkeit fehle.

Oftmals nehmen Arbeitskollegen Einfluss auf den Entscheid

Laut der SKMR-Studie ist die Unabhängigkeit einer Strafuntersuchung in den meisten Kantonen nicht gewährleistet, weil die Strafuntersuchung «durch die Polizei oder die Staatsanwaltschaft durchgeführt» wird. Es seien «also oftmals die Arbeitskollegen und -kolleginnen einer beschuldigten Person, welche Einfluss auf den Entscheid nehmen können, ob der Vorwurf eines polizeilichen Übergriffes genügt um einen Tatverdacht zu begründen». Dies sei aufgrund der persönlichen und institutionellen Verflechtung «problematisch».

Auch im Falle einer Aufsichtsbeschwerde stelle sich das Problem, dass «eine hierarchisch übergeordnete Instanz des möglichen Täters» die Beschwerde behandle. Einige Kantone verfügen zudem über Ombudsstellen, welche vom Parlament gewählt werden. Diese sind zwar personell unabhängig von den Polizeibehörden, können aber keine Sanktionen oder Wiedergutmachungen aussprechen.

Laut Studie erfüllen das Strafverfahren und die Aufsichtsbeschwerde sowie die Ombudsstellen die Anforderungen an eine wirksame Beschwerdeinstanz gemäss EMRK nicht. Deshalb fordert die Studie eine «vertiefte Überprüfung der Wirksamkeit und Eignung der bestehenden verfahrensrechtlichen Mechanismen zur Umsetzung der menschenrechtlichen Untersuchungspflicht».

Ohne öffentlichen Druck wird ein weiteres Jahrzehnt verstreichen

Die Studie schlägt die Schaffung von Ombudsstellen in der ganzen Schweiz vor, welche auch über die Kompetenz zur Führung von Untersuchungen gemäss Art. 2 und 3 EMRK verfügen sollten. Zudem müsse in einem Strafverfahren die Unabhängigkeit der Staatsanwälte gewährleistet sein. Die Studie schlägt deshalb einen Pool von ausserkantonalen Staatsanwälten vor.

Erstaunlicherweise gibt es in der Schweiz kaum Statistiken zu polizeilichen Übergriffen. Um Licht in diese Dunkelkammer zu bringen, fordert die Studie ein national einheitliches Überwachungssystem mit entsprechender Datenbank.

Die Forderungen der Studie sind an das Eidgenössische Justizdepartement (EJPD) und an das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gerichtet, welche bereits seit zehn Jahren immun gegen die Kritik in- und ausländischer Kommissionen waren. Ohne öffentlichen Druck der Medien und von Parlamentarierinnen und Parlamentariern wird ein weiteres Jahrzehnt ungenutzt verstreichen. Die Betroffenen haben leider keine Lobby.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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