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«Ein Stachel im Fleisch des Kapitalismus» © Wikipedia

Pensionskassenfrühling&andere Zukunftsinseln (4/4)

Jürgmeier /  Demokratisierung in Zeiten von Globalisierung und Getrumpe. Ein Mail-Wechsel zwischen Jürgmeier und Stefan Howald. Letzter Teil.

Red. Wenn Sie die vorangegangen Teile dieses Mailwechsels verpasst haben – hier können sie den ersten, hier den zweiten und hier den dritten Teil nachlesen.

21. November 2016

Lieber Stefan

Lassen wir (vorläufig) die US-Wahlen und ihre, da gebe ich dir natürlich recht, mehrdimensionalen Hintergründe, die uns vermutlich noch länger und nachhaltiger beschäftigen werden als uns lieb ist. Die europäischen «Trumps» stehen längst bereit, standen es schon, als Donald Trump noch nicht einmal Kandidat war. Und noch wissen wir nicht, wer von ihnen am Ende die grössere Bedrohung für die Werte ist, die so gerne gegen «den Islam» verteidigt werden.
Demokratisierung der Wirtschaft, Genossenschaften, lokale, ausserparlamentarische Demokratieformen – unbedingt, all das entspricht meiner unausgegorenen Utopie dezentralisierter und demokratischer Verhandlungsprozesse. Aber wirtschaftliche Besitzverhältnisse und «Führungskulturen» haben sich (bisher) sämtlichen Demokratisierungsprozessen «erfolgreich» entzogen. Wie sollen da vereinzelte Ansätze im ökonomischen Sektor in die sich immer stärker globalisierende Wirtschaft hineinwirken, sie verändern? Wie können utopische Nischen Breitenwirkung entfalten und, in letzter Konsequenz, den Kapitalismus überwinden?
Eine Formulierung im aktuellen SP-Programm, das ihr ja, sogar von eigenen Mitgliedern, bei jeder Gelegenheit als «Rezept aus der kommunistischen Mottenkiste» um die Ohren geschlagen wird, weil es – ausgerechnet in Zeiten, in denen der Satz «Man wird ja wohl noch sagen dürfen …» Unerträglichstes legitimiert – eine Art Tabu zu sein scheint, über den Kapitalismus hinaus beziehungsweise Alternativen zu aktuellen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen zu denken.
Uns muss das nicht schrecken, wir haben keine Wähler*innen zu verlieren, aber was bleibt, ist die Frage – was konkret bedeutet diese Utopie der «Wirtschaftsdemokratie», im Kleinen und im Grossen? Ohne Überwindung der Anhäufung riesiger Vermögen, der Konzentration ökonomischer und politischer Macht wird das, denke ich, nicht gehen. Und wie könnte das in demokratischen Prozessen entwickelt, ausgehandelt werden? Wäre das dann «Revolution»? Ein Begriff, den ich nur zögernd verwende, weil er oft mit Gewalt verbunden beziehungsweise in diesen Tagen vor allem von Rechtskonservativen beansprucht wird.

Ehrlich gesagt, bin ich ganz froh, dass ich dir jetzt den Part der (ansatzweisen) Antwort zuschieben kann.

Herzlich

Jürg

25. November 2016

Lieber Jürg

Wirtschaftsdemokratie umfasst für mich ganz konkrete Veränderungen im lokalen Rahmen und in Arbeitsbeziehungen wie auch gesellschaftspolitische Umgestaltungen auf nationaler und globaler Ebene. Man kann das eine ohne das andere kaum haben. Auch beim Schreiben und Reden darüber komme ich nicht darum herum, eine breit ausgreifende Reihe von Massnahmen zu präsentieren, auf die Gefahr hin, mich in dieser Allgemeinheit zu wiederholen oder offene Türen einzurennen. Fünf Themen stehen für mich im Vordergrund:
– Genossenschaften
– Mitbestimmung
– Service public
– wirtschaftspolitische Steuerung
– gesamtgesellschaftliche Reproduktion
Das sind grosse Worte. Es sind auch grosse Ansprüche und Hoffnungen. Ich versuche, sie mit ein paar Beispielen zu konkretisieren. Beginnen wir mit dem, was auf der Hand liegt: Genossenschaften. Die haben ja in der Schweiz eine hehre Tradition, insbesondere im Konsum- und Wohnungsbereich. Manches davon ist seines sozialen Inhalts entleert, etwa bei den Grossverteilern, aber das Prinzip bleibt ein Stachel im Fleisch des Kapitalismus. Die NZZ führt gegenwärtig einen Kampagnenjournalismus gegen die Zürcher Wohnbaugenossenschaften und spricht vom Filz einer grün-roten Klientel. Das ist eine ideologische Verzerrung, aber es gibt in diesem Bereich durchaus Verbesserungsmöglichkeiten. Die soziale Durchmischung, auch wenn sie nicht erzwungen werden kann, sollte verstärkt werden, ebenso die demokratische Mitbestimmung in grossen Wohnbaugenossenschaften. Genossenschaften prägen Wertungen sowie Haltungen, und sie aktivieren Solidarität, das alte Schlagwort. Die Inseln der Zukunft sind insbesondere im Produktionsbereich seltener als auch schon. Immerhin gibt es neue Initiativen, etwa im Landwirtschaftsbereich.
Nun lässt sich dagegen einwenden, in Genossenschaften wirkten nur bereits Bekehrte mit. Aber das stimmt nicht, etwa bei Wohnbaugenossenschaften. Und gerade Landwirtschaftsgenossenschaften können neue Schichten erschliessen. Allerdings kann man niemandem vorschreiben, sich einer Genossenschaft anzuschliessen oder, als Mitglied einer Genossenschaft, in dieser auch aktiv sein. Man kann aber in dieser Hinsicht die Rahmenbedingungen verbessern. Der Ökonom Hans Kissling hat dazu konkrete Vorschläge entwickelt, etwa eine Revision des Genossenschaftsrechts, welche die Finanzierung neuer Genossenschaften erleichtern und die demokratische Transparenz der Grossgenossenschaften gewährleisten soll, sowie die Idee eines Fonds, mit dem man KMU aufkaufen kann, die keine Nachfolger finden, um sie in Genossenschaften umzuwandeln.
Eine verstärkte Mitbestimmung am Arbeitsplatz scheint zurzeit eine politisch illusionäre Forderung. Mitbestimmungsformen in Deutschland und Österreich haben nach skandalösen Verstrickungen von Betriebs- und AufsichtsrätInnen der Sache nicht geholfen. Also weiche ich taktisch aufs Konkrete aus, zum Beispiel auf Mitbestimmung in den Stiftungsräten von Pensionskassen. Mitbestimmung der Versicherten ist da institutionell vorgeschrieben, wird aber praktisch kaum wahrgenommen. Dabei könnten Investitionsentscheide der Pensionskassen für eine nachhaltige Wirtschaft eine wichtige Rolle spielen. Es gab mal einen Migros-Frühling; vielleicht sollte man einen Pensionskassenfrühling starten. Was nicht mit «Aktionärsdemokratie» verwechselt werden darf.
Der Service public ist, wie die Genossenschaften, theoretisch eine Insel innerhalb der kapitalistischen Profitlogik. Dagegen branden die Wellen der Privatisierung unterschiedlich stark, und auch die Inseln selbst werden im Zeichen des New Managements mehr oder weniger stark umgebaut. Umso wichtiger ist ihre Verteidigung, etwa im Gesundheitswesen oder beim Service public der SRG. Zugleich müssen diese Betriebe innerbetrieblich demokratisiert werden. Das ist eines meiner Steckenpferde, und ich reite es hartnäckig: Die Verwaltung der rot-grün dominierten Städte müsste die Beschäftigten und die betroffenen BürgerInnen viel stärker in die alltäglichen Entscheide einbeziehen. Damit würden nicht nur generell die Motivation verstärkt, sondern auch bisher nicht genutzte Fähigkeiten und Ressourcen aktiviert.
Womit wir langsam in höhere, aber deswegen nicht unbedingt wolkigere Ebenen aufsteigen. Es braucht in verschiedenen Bereichen – vom Umweltschutz bis zum Kommunikations- und Verkehrsnetz – nationale und globale wirtschaftspolitische Regelungen sowie Steuerungen, das ist ausser bei den verbohrtesten IdeologInnen unbestritten. Jedes Handelsabkommen ist eine Regelung (wenn auch zuweilen in die falsche Richtung einer Nicht-Regelung … und selbstverständlich braucht auch der künftige US-Präsident Trump Abkommen, wenn auch womöglich in eine andere, falsche Richtung …). Umstritten sind die Formen solcher Steuerungen. Ich beschränke mich hier auf den Fiskal- und Steuerbereich. Die Aushöhlung des Steuersubstrats ist mittlerweile ein globales Problem. Die Forderung nach einer globalen Steuer auf Finanztransaktionen hat periodisch Konjunktur, und sie könnte nach dem Wegfall des britischen Vetos dagegen in der EU tatsächlich mehrheitsfähig werden. In der Schweiz wird die Unternehmenssteuerreform III, die nächsten Februar zur Abstimmung kommt, eine zentrale Richtung vorgeben. Sie muss scharf bekämpft werden, nicht nur aus finanz- und sozialpolitischen Überlegungen, sondern weil sie symbolisch den «Sonderfall Schweiz» aufrechtzuerhalten versucht und neue Steuerschlupflöcher einführen will.
Was die gesamtgesellschaftliche Reproduktion betrifft, so weise ich nur ganz kurz darauf hin, dass neue Technologieschübe und die weiter wachsende Bedeutung der Care-Ökonomie klar machen, dass der bisherige, einseitig an die Lohnarbeit geknüpfte Arbeitsbegriff nicht mehr taugt sowie die gesamtgesellschaftliche Verteilung der Arbeit dringlicher und grundsätzlicher überdacht werden muss – nicht nur aus systemsprengender sondern auch aus systemerhaltender Logik.
Das ist eine schöne Auswahlsendung, ohne Priorisierung. Ich glaube, eine solche ist auch kaum möglich. Man muss die einzelnen Strategien beziehungsweise Massnahmen in jedem Bereich und in jeder Form genau ansehen. Sie haben unterschiedliche Reichweiten, vermitteln Lokales und Globales unterschiedlich. Sie tragen auch unterschiedlich zu der von dir geforderten, nötigen «Überwindung der Anhäufung riesiger Vermögen, der Konzentration ökonomischer und politischer Macht» bei. Wenn ich mich für eine Transaktionssteuer einsetze, dann ziele ich auf eine globale Massnahme, die etwas bewirken kann, aber zweifellos ein Heer geschulter Wirtschaftsanwälte in Arbeit setzt und in der Folge teilweise unterlaufen werden wird. Wenn ich mich in einer Wohnbaugenossenschaft engagiere, dann ist das lokal begrenzt, verändert aber das Bewusstsein der Beteiligten und stärkt womöglich eine solidarische Haltung gegen Ausgrenzungen aller Art. Wenn ich mich für den Service public stark mache, von innen oder von aussen, dann könnte dessen Attraktivität gesteigert und er zugleich zum Vorbild für die Privatwirtschaft werden.
So können Schlagwörter wie die «Überwindung des Kapitalismus» oder die «Revolution», auch sprachpolitisch, konkretisiert werden: In den Genossenschaften wird «das Profitdenken überwunden» und die «Solidarität» eingeübt; bei der Transaktionssteuer wird die «Dominanz der Finanzmacht» eingedämmt; bei nachhaltigen Investitionsprogrammen wird die Entwicklung einer «Bedürfnis- und Solidarwirtschaft» diskutierbar.
In der demokratischen Arbeit gibt es meines Erachtens unvermeidliche Arbeitsteilungen. Es gibt Fortschritte, Rückschläge und Sackgassen. Demokratie als Prozess stützt sich auf Engagement; sie benötigt Anfänge, Wiederaufnahmen und Weiterführungen. Die weit verbreitete Distanz zum jetzigen System, das «Unbehagen», die Ablehnung brauchen eine positive Bewegungsform. Von links gibt es Etliches anzubieten.
Herzlich
Stefan


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Stefan Howald, WOZ-Redaktor und Publizist, hat 2014 das Buch «Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen» im Rotpunktverlag veröffentlicht.

Zum Infosperber-Dossier:

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